Nero (Oper)

Werkdaten
Titel: Nero
Originaltitel: Die durch Blut und Mord erlangte Liebe, oder: Nero

Titelblatt des Librettos, Hamburg 1705

Form: frühe deutsche Barockoper
Originalsprache: Deutsch
Musik: Georg Friedrich Händel
Libretto: Friedrich Christian Feustking
Uraufführung: 25. Februar 1705
Ort der Uraufführung: Theater am Gänsemarkt, Hamburg
Ort und Zeit der Handlung: Rom, 58–64 n. Chr.
Personen
  • Nero, römischer Kaiser (Tenor)
  • Agrippina, Neros Mutter
  • Octavia, Neros erste Frau
  • Sabina Poppea, Neros Geliebte, später seine zweite Frau
  • Tiridates, armenischer Kronprinz
  • Cassandra, medische Kronprinzessin, in Tiridates verliebt
  • Seneca, kaiserlicher Geheimrat
  • Anicetus, Liebling des Kaisers, verliebt in Octavia
  • Graptus, von Kaiser Claudius freigelassener Sklave
  • Priester, Volk

Die durch Blut und Mord erlangte Liebe, oder: Nero (HWV 2) ist Georg Friedrich Händels zweite Oper. Ihre Musik ist verschollen.

Entstehung und Libretto

Noch während sein äußerst erfolgreicher Opernerstling, die Almira, fast an jedem Abend lief, verbrachte Händel die Tage damit, mit dem Schwunge des Erfolges gleich eine zweite Oper zu schreiben. Schon im Februar 1705, sechs Wochen nach der Premiere der Almira, kam sein Nero auf die Bühne des Hamburger Gänsemarkt-Theaters. Auch hier schwelte noch der literarische Streit zwischen den Dichtern, die eine Vorliebe für derbe, satirische oder patriotische Libretti mit einem großen Teil des Hamburger Publikums teilten auf der einen Seite, und denen, welche sich für ernstere und theatertechnisch glaubwürdigere Texte einsetzten. Wie schon im Falle von Almira setzte Barthold Feind dem von Feustking wieder ein eigenes Libretto gleichen Inhalts entgegen: Die römische Unruhe oder: Die edelmüthige Octavia, welches ein knappes halbes Jahr später mit der Musik von Reinhard Keiser Premiere hatte. Während Feind mit Nero | Der verzweiffelte Selbst=Mörder (Weißenfels, 1685, Libretto – und Musik? – von Johann Beer) ein Vorlagelibretto nennt, erwähnt Feustking in seiner Vorrede ausdrücklich, dass er die Schilderungen nur direkt aus den historischen Geschichtswerken entnommen habe. Dass ihm kein italienisches Libretto als Quelle vorlag, dafür spricht die Tatsache, dass Feustkings Nero im Gegensatz zu seinem Almira-Libretto keine Stücke in italienischer Sprache enthält. Über die Qualität des Textbuches, welches von vornherein für Händel geschrieben wurde und es ihm insofern möglich gewesen sein sollte, im Vorfeld Einfluss zu nehmen, gibt es widersprüchliche Meinungen. Neben dem fesselnden Grundthema, welches die Anklage von Tyrannei, Willkür und lasterhaftem Leben bei Hofe als Ziel hat, erscheinen auch die handelnden Personen interessant und profiliert. Es gibt eine stattliche Anzahl von Ensembleszenen, die Händel oft die Möglichkeit geben, vom starren Schema Rezitativ-Arie abzuweichen: Neben den 50 Arien finden wir 10 Duette, 6 Terzette und 3 Chöre.[1] Ein anderes Bild vermittelt uns ein überlieferter Ausspruch Händels, den Christian Friedrich Hunold (veröffentlicht unter dem Pseudonym „Menantes“) wiedergibt und aus dem hervorgeht, dass Händel der Qualität des Librettos kritisch gegenüberstand. So kritisiert Händel den mangelnden poetischen Geist der Dichtung:

„Wie soll ein Musikus was schönes machen, wenn er keine schöne Worte hat? Darum hat man bei Componirung der Opera Nero nicht unbillig geklagt: Es sey kein Geist in der Poesie, und man habe einen Verdruß, solche in Music zu setzen.“

Christian Friedrich Hunold: Theatralische, Galante und Geistliche Gedichte, Hamburg 1705[2]

Bei der Einordnung dieses Zitats ist sicher zu berücksichtigen, dass Hunold im anhaltenden Streit zwischen den Hamburger Theater-Dichtern ein Gegner Feustkings war. Der vierundzwanzigjährige Johann Mattheson, der schon in Almira den Fernando gesungen hatte, verabschiedete sich mit der Titelpartie des Nero als Sänger von der Hamburger Bühne, auf der er seit neun Jahren (zunächst mit seiner Knabenstimme) als Solist gestanden hatte, und ging in den diplomatischen Dienst. Er schreibt später darüber:

„Händel führte […] An. 1705, den 8. Jenner, […] seine besagte erste Oper, Almira, glücklich auf. Den 25. Febr. folgte der Nero. Da nahm ich mit Vergnügen Abschied vom Theatro, nachdem ich, in den beiden letztgenannten schönen Opern, die Hauptperson, unter allgemeinem Beifall, vorgestellet, und dergleichen Arbeit gantzer 15. Jahre, vieleicht schon ein wenig zu lange, getrieben hatte: so daß es Zeit für mich war, auf etwas festeres und daurhaffteres bedacht zu seyn; welches auch, GOtt Lob! wohl von Statten gegangen ist. Händel blieb indessen noch 4. biß 5. Jahr bey den hiesigen Opern [er verließ Hamburg schon im Sommer 1706.], und hatte daneben sehr viel Scholaren.“

Johann Mattheson: Grundlage einer Ehren-Pforte. Hamburg 1740[3]

Nach drei Vorstellungen des Nero begann Ende Februar die Fastenzeit und damit die Spielpause an der Oper am Gänsemarkt. Händel nutzte die Zeit, um sich neu zu orientieren: er quittierte den Dienst am Opernhaus, unterrichtete, studierte die Werke seiner Kollegen (unter anderem fertigte er eine vollständige Kopie von Keisers Octavia an, die er mit nach Italien nahm), und neben der Komposition der Doppeloper Florindo und Daphne im Jahre 1706 fasste er den Entschluss, zu einer Studienreise nach Italien aufzubrechen.[4]

Besetzung der Uraufführung

Handlung

Historischer und literarischer Hintergrund

Der Mord am römischen Kaiser Claudius und die Machtübernahme Neros im Jahre 54, der Anschlag auf Neros Mutter Agrippina im Jahre 59 und das im Jahr 64 n. Chr. brennende Rom, der Feldzug Othos nach Lusitania (Portugal), die Verbannung von Neros Frau Claudia Octavia und die Eingliederung Armeniens ins Imperium durch die römische Krönung Trdats I. zum armenischen König sind in den Annales (12.–15. Buch) des Tacitus sowie in De vita Caesarum (5. Buch: Vita divi Claudi und 6. Buch: Vita Neronis) des Sueton beschrieben. Ferner beruft sich der Librettist auch auf Xiphilinus sowie Cluvius und Fabius Rusticus als Vorläufer-Schriften des Tacitus. Mit Ausnahme der medischen Prinzessin Cassandra sind alle handelnden Personen dort dokumentiert. Allerdings fasst das Libretto historische Ereignisse zusammen, die sich zu unterschiedlichen Zeiten abgespielt haben, wie auch die „Vorrede“ des Hamburger Librettos eingesteht:

„So tritt nunmehro auch der von allen Geschichts-Schreibern so grausahm beschriene Bluthund Nero auff hiesigen Schauplatz: Ein solches Tieger-Thier/ das sich nicht gescheuet/ der jenigen das Leben zu rauben/ die ihm Leben/ ja Cron und Zepter gegeben hatte: Ein solcher Wüterich/ der seine Tugendhaffte Gemahlin erwürget/ und mit unzehlichen Lastern das Hermelin seines Purpurs bestecket/ verunehret/ geschändet: Ja ein solcher Unmensch/ der zuletzt alle ihm erwiesene Dienste und Wohlthaten mit Blut und Mord belohnete. Und dahero achte ich es unnöthig zu seyn/ den Inhalt gegenwärtiges Singspiels weitläuffig zu beschreiben/ in Betrachtung/ daß der Nahme Nero schon genug ist/ das jenige zu erklähren/ was man sonst im Anfang zu entwerfen pfleget. Nur dieses hat man erinnern wollen/ daß man ein und andere Passagen/ die in seinem Lebenslauff verhanden/ und vielleicht der Natur selbst einen Eckel machen/ mit Fleiß vorbey gegangen. Denn ob gleich die von Svetonio und Tacito erwehnte Buhlschafft des Neronis mit seiner Mutter der Agrippina die Liebes-Intrigve hätte erweitern können/ so ist doch solches aus verschiedenen Uhrsachen aus der Acht gelassen/ theils weil sie honeten Gemüthern unangenehm/ theils auch/ daß sie der Verfasser einiger massen in Zweiffel ziehet. Denn der nur ohne Vorurtheil die Worte Taciti Annal. XIV. Cap.2. durchlieset/ der wird leicht mercken/ daß sie nicht so gewiß geschrieben/ als geglaubet werden. Tacitus folget nemlich den Fußstapffen des Cluvii und Fabii Rustici, die sich aber beyde ziemlich wiedersprechen/ weil jener die Blutschande der Agrippinen/ dieser aber dem Neroni beyleget/ mit welchen auch Svetonius in Vit. Ner. Cap.28. übereinstimmet/ und noch einige Umbstände/ unwissend woher? hinzugefüget. Allein beydes kommt nicht überein mit dem/ was Xiphilinus in Ner. p.m.162. berichtet: Daß nemlich Nero eine andere/ die der Agrippinen sehr ähnlich gewest/ hefftigt geliebet/ und dannenhero daß er mit seiner Mutter buhle/ vorgegeben habe. Eine andere Bewandniß hat es mit der Beschuldigung der von ihm angezündeten Stadt Rom/ Sveton. giebet sie zwar Cap.38. vor eine gewisse Warheit aus; allein Tacitus Annal. XV.39. ist etwas behutsamer […] und nachmahls setzet er hinzu/ daß der Kayser damahls in Antium gewesen/ und nicht eher in Rom gekommen/ als biß das Feuer schon die Mæcenatischen Lustgärten ergriffen […] So weiß man auch noch nicht die Uneinigkeit der alten Geschichtschrieber zu vergleichen/ die sie/ umb den Mutter-Mord vielleicht desto greulicher vorzubilden/ angemercket: Svetonius Cap.34. bringet die Nachricht/ er habe ihre entblöste Glieder und deren Bildung theils gelobet/ theils getadelt/ auch dabey getrunken […] Allein offtoemelter Tacitus zweiffelt sehr/ ob er sie nach ihren Tode auch einmahl gesehen. […] dergleichen wieder einander streitende Dinge sollten manchen curieusen Kopff wohl auff die Gedancken bringen: es hätten sich die damahligen Geschichtschreiber bemühet/ die grösse der Neronischen Laster mehr und mehr zu vergrössern/ umb denen späten nachkommen ein vollkommenes Scheusahl der Natur mit lebendigen Farben abzumahlen. Und in Warheit/ es giebet Tacitus unter andern zu dieser Soupçon weitere Anleitung/ da er Annal. lib. XVI. Cap.3. von dem Tode der Poppæa, und dessen Ursachen redet/ und saget/ daß einige meinen/ er habe sie mit Gifft hingerichtet […] Im übrigen hat der Verfasser die Ahnlichkeit der Geschicht mit einigen Fictionibus gleichsahm verdunckeln müssen/ auch dahero ein und andere wieder die Zeit-Rechnung streitende Dinge […] einzumischen sich nicht entlegen können/ welches ihm verhoffentlich so wenig zur Ignorance kann ausgeleget […] werden. […] Schließlich bittet er/ die Poësie nicht mit allzu ungnädiger Censur zu belegen/ weil man deren Unvollkommenheit selbst mit mittleidigen Augen ansiehet.“

Friedrich Christian Feustking: Vorrede zu Die durch Blut und Mord erlangte Liebe, oder: Nero, Hamburg 1705[6]
„Opern-Theatrum“ am Gänsemarkt. Ausschnitt aus der Stadtansicht Paul Heineckens, 1726
Johann Mattheson, auch Dirigent, Komponist und Musikgelehrter. Er beendete mit der Titelpartie im Nero seine Gesangskarriere.

Musik

Die Partitur des Nero ist verschollen. Da Händel seit seinem Italienaufenthalt eine nahezu vollständige Sammlung seiner eigenen Werke hatte, wäre uns die Musik seiner zweiten Oper vermutlich erhalten geblieben, hätte er sie mit sich geführt. So ist es wahrscheinlich, dass das Autograph, bzw. eine Direktionspartitur am Gänsemarkt-Theater verblieb. Aber der Bericht des Sängers Johann Konrad Dreyer, der nach dem Weggang Keisers (September 1706) Mitpächter des Opernhauses und somit verantwortlich für dessen weiteren Betrieb war, über die Schwierigkeiten bei Spielzeitbeginn, wirft kein gutes Licht auf eine sichere Verwahrung des Notenmaterials am Opernhaus:

„Wie der Anfang zur Opern Aufführung gemacht werden sollte, waren alle Partituren versteckt. Ich nahm also erst Salomo[7] hernach Nebucadnezar[8] vor, und suchte die Partitur von denselben aus den einzelnen Stimmen zusammen. So bald die Besitzer der völligen Partituren solches sahen, kamen nach und nach einige andere zum Vorschein.“

Johann Konrad Dreyer: Grundlage einer Ehren-Pforte. Hamburg 1740[9]

Dennoch scheint 1830 eine handschriftliche Partitur des Nero aus dem Nachlass des Hamburger Musikalienhändlers und Organisten Johann Christoph Westphal verkauft worden zu sein, von der seitdem jede Spur fehlt.[10]

Friedrich Chrysander war der Meinung, dass Johann Mattheson eine Partiturabschrift von Händels erster Oper Almira angefertigt hatte, welche der Wahl-Berliner Georg Poelchau Anfang des 19. Jahrhunderts vom alten Hamburger Opernarchiv erwarb und die zwei Ouvertüren enthielt. Möglicherweise war die erste der beiden die zum Nero, da Händel schon an diesem arbeitete, bevor die Almira beendet und Mattheson in den Entstehungsprozess beider Opern ja einbezogen war. Eine zweite Möglichkeit wäre freilich, dass die erste Ouvertüre von Georg Philipp Telemann ist, die er für die Neuinszenierung der Händelschen Almira am Hamburger Theater 1732 komponierte.

Wie aus dem Hamburger Librettodruck hervorgeht, gab es im Nero kleine Aufgaben für einen selbständigen Chor („Chor der Priester“, „Chor des Römischen Volcks“), der auch im Rezitativ in die Handlung eingriff und also nicht (wie später in London) aus einer Vereinigung der Solisten bestand. Auch scheint es einige Tanzszenen gegeben zu haben („Täntze von Combattanten oder Fechtern, von Priestern, von Arlequins und Policionellen, von Mordbrennern[11], von Cavalliers und Dames.“), wie man in der Liste der „Persohnen des Singspiels“ lesen kann.[12]

Literatur

  • Winton Dean, John Merrill Knapp: Handel’s Operas 1704–1726. The Boydell Press, Woodbridge 2009, ISBN 978-1-84383-525-7 (englisch).
  • Arnold Jacobshagen (Hrsg.), Panja Mücke: Das Händel-Handbuch in 6 Bänden. Händels Opern. Band 2. Laaber-Verlag, Laaber 2009, ISBN 978-3-89007-686-7.
  • Albert Scheibler: Sämtliche 53 Bühnenwerke des Georg Friedrich Händel, Opern-Führer. Edition Köln, Lohmar/Rheinland 1995, ISBN 3-928010-05-0.
  • Bernd Baselt: Thematisch-systematisches Verzeichnis. Bühnenwerke. In: Walter Eisen (Hrsg.): Händel-Handbuch. Band 1. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1978, ISBN 3-7618-0610-8.
Commons: Nero (Händel) – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise und Fußnoten

  1. Stephan Stompor: Die deutsche Aufführungen von Opern Händels in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Händel-Jahrbuch 1978, Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1978, S. 43.
  2. Christian Friedrich Hunold: Theatralische, Galante und Geistliche Gedichte, Hamburg 1705, S. 88 f.
  3. Johann Mattheson: Grundlage einer Ehren-Pforte. Hamburg 1740, S. 95 (originalgetreuer Nachdruck: Kommissionsverlag Leo Liepmannssohn, Berlin 1910).
  4. Bernd Baselt: Thematisch-systematisches Verzeichnis. Bühnenwerke. In: Walter Eisen (Hrsg.): Händel-Handbuch. Band 1. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1978, ISBN 3-7618-0610-8, S. 63.
  5. Panja Mücke: Nero. In: Hans Joachim Marx (Hrsg.): Das Händel-Handbuch in 6 Bänden: Das Händel-Lexikon. Band 6. Laaber-Verlag, Laaber 2011, ISBN 978-3-89007-552-5, S. 511.
  6. Vorrede des Librettos. Hamburg 1705.
  7. Die über die Liebe triumphirende Weißheit, oder Salomon. Oper von Christian Friedrich Hunold [Menantes], Musik von Reinhard Keiser und Johann Caspar Schürmann (UA 1703).
  8. Der gestürzte und wieder erhöhte Nebucadnezar, König zu Babylon unter dem grossen Propheten Daniel. Oper von Christian Friedrich Hunold [Menantes], Musik von Reinhard Keiser (UA 1704).
  9. Johann Mattheson: Grundlage einer Ehren-Pforte. Hamburg 1740, S. 55 (originalgetreuer Nachdruck: Kommissionsverlag Leo Liepmannssohn, Berlin 1910).
  10. Winton Dean, John Merrill Knapp: Handel’s Operas 1704–1726. The Boydell Press, Woodbridge 2009, ISBN 978-1-84383-525-7, S. 69.
  11. Brandstifter und Mörder.
  12. Albert Scheibler: Sämtliche 53 Bühnenwerke des Georg Friedrich Händel, Opern-Führer. Edition Köln, Lohmar/Rheinland 1995, ISBN 3-928010-05-0, S. 440.