Von wegen „Schicksal“

Film
Titel Von wegen „Schicksal“
Produktionsland BR Deutschland
Erscheinungsjahr 1979
Länge 121 Minuten
Stab
Regie Helga Reidemeister
Drehbuch Helga Reidemeister, Irene Rakowitz
Produktion Deutsche Film- und Fernseh-Akademie Berlin, Literarisches Colloquium Berlin, ZDF
Musik Bedřich Smetana (Die Moldau), u. a.
Kamera Axel Brandt, Susanne Beyeler, Thomas Tanner
Schnitt Elisabeth Förster

Von wegen „Schicksal“ ist ein preisgekrönter deutscher Dokumentarfilm von Helga Reidemeister von 1978/1979 über die geschiedene 48-jährige Mutter Irene Rakowitz in West-Berlin.

Handlung

Der Film beschreibt das Leben der 48-jährigen Irene Rakowitz, die mit zweien ihrer vier Kinder in einem Hochhaus im Märkischen Viertel in West-Berlin lebt. Diese erzählt über Schwierigkeiten bei der Erziehung ihrer Kinder und berichtet kritisch über ihre gescheiterte Ehe und ihr Leben. Die Regisseurin Helga Reidemeister befragt auch deren Kinder und den ehemaligen Ehemann zu ihren Sichtweisen auf die Familie.

Der Film lebt vom selbstbewussten Auftreten der Mutter und deren Kinder vor der Kamera und lässt auch heftigere Gefühlsausbrüche zu. Irene Rakowitz betont zu Beginn, dass ihre Familiengeschichte nicht nur privat sei, wie ihre älteste Tochter kritisch zum Film meinte, sondern durchaus typisch für viele Frauen und deren Familien, die noch durch das traditionelle Frauenbild geprägt seien.[1]

Hintergründe

Helga Redemeister hatte als Sozialarbeiterin im Märkischen Viertel in Berlin Irene Rakowitz bereits einige Jahre vorher kennengelernt und sich mit ihr angefreundet. Diese schlug ihr dann vor, einen Film über sich zu machen. Dieser wurde der Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin von Helga Reidemeister. Irene Rakowitz wirkte bei dem Entwurf zum Drehbuch mit.

Das Literarische Colloquium Berlin und das Zweite Deutsche Fernsehen produzierten den Film mit, letzteres unter der Redaktion von Eckart und Ursula Stein und der Produktionsleitung von Ursula Ludwig. Regieassistentin und Tonmeisterin war Katharina Geinitz

Der Titel des Films bezieht sich auf die mehrfach vorgetragenen Behauptungen des ehemaligen Ehemannes Richard Rakowitz (der einen österreichischen Dialekt sprach), dass jeder Mensch sein „Schicksal“ habe, dem er nicht entrinnen könne, was er auch auf die schwierigen Verhältnisse der Ehe bezog.

Aufführungen und Nachwirkungen

Der Film wurde zuerst auf der Berlinale im Forum des internationalen Films am 25. Februar 1979 gezeigt.

Nach der Aufführung auf der Duisburger Filmwoche am 8. November 1979 gab es von einigen Filmemachern und Zuschauern heftige Kritik, da in einigen Filmsequenzen zu Beginn durch die Regisseurin in die gefilmten Streitigkeiten verbal eingegriffen wurde und die Mutter bei einem Streit mit dem 8-jährigen Sohn aktiv unterstützt wurde.[2][3][4] Daraus entwickelte sich in den folgenden Monaten eine längere filmtheoretische Debatte über die Grenzen des Einwirkens von Regisseuren bei Dokumentarfilmen.

Am 29. März 1979 wurde der Film in der ZDF-Sendereihe Das kleine Fernsehspiel gezeigt, für die er produziert worden war, Wiederholungen gab es 2002 und 2022.[5] Er wurde außerdem in verschiedenen Programmkinos aufgeführt sowie auf der Retrospektive der Berlinale 2019.[6][7][8][9][10]

Meinungen zum Film

Das Berliner Kino Arsenal lobte den Film 2015 außerordentlich:

„Sowohl die Thematik als auch die ungeschönte und parteiliche Darstellungsweise waren etwas radikal Neues im deutschen Nachkriegskino: Das Leben einer alleinerziehenden Mutter mit all seinen Zumutungen zum Thema eines knapp zweistündigen Films zu machen, war allein schon eine Provokation. Von wegen ‚Schicksal‘ ist ein in vielfacher Weise wertvolles Dokument: für den filmischen Aufbruch einer neuen Generation von Filmemacherinnen, für Politik und Alltagskultur im West-Berlin der 1970er Jahre, aber vor allem berührt seine Protagonistin Irene Rakowitz und ihr Versuch, einem von Alltagsgewalt und Entbehrung geprägtem Schicksal die Stirn zu bieten, bis heute.“[11]

Auch der Filmdienst betonte, der Dokumentation „gelingen Einblicke in familiäre Strukturen, wie sie bislang noch nicht auf Film festgehalten wurden.“[12]

Die bekannte französische Schriftstellerin Marguerite Duras lobte den Film, da es ihm gelungen sei, das Schweigen einer Frau über ihr Leid zu überwinden.[13]

Wilhelm Roth bemängelte in seinem Aufsatz Mut zum Privaten, dass die Tatsache einer schon länger bestehenden Bekanntschaft zwischen Regisseurin und Protagonistin unterschlagen werde.[14]

Filmpreise

Literatur

  • Claudia Lenssen: Ein rückgängig gemachter Zensurakt. In taz vom 26. Januar 2015 (Text)
  • … trotzdem möcht ich, daß Mutti eben irgendwie da drinhängt, daß se weeß: wir gehörn zusammen. In: DF, 3, 1979, S. 66–70 (PDF), mit Zitaten aus dem Film, zwei Pressestimmen und dem Protokoll aus Duisburg
  • Die “gute mutter”. gespräch über “Von wegen ‘Schicksal’” von helga reidemeister, mit uta berg-ganschow, helge heberle, claudia lenssen, helke sander, gesine strempel, sigrid vagt und hildegard westbeld. In: Frauen und Film, 20, Mai 1979, S. 21–39 Artikelanfang
  • Evo Hohenberger: Zwischen zwei Filmen. Eklektisches zur deutschen Dokumentarfilmgeschichte zwischen Von wegen Schicksal (1979) und Hätte ich mein Herz sprechen lassen … (1990). In: Frauen und Film, 52, Juni 1992, S. 80–88 Artikelanfang
  • Thomas Bräutigam: Klassiker des deutschsprachigen Dokumentarfilms. Schüren, 2019. S. 257

Einzelnachweise

  1. Filmvorführung in der Viertel Box Gratis in Berlin, zu Vorführung am 1. Oktober 2010 im Märkischen Viertel: dass es Irene Rakowitz selbst daran gelegen war, ihre vermeintlich ›privaten‹ Familien- und Erziehungsprobleme offen zu legen und als gesellschaftlich bedingt zu reflektieren.
  2. Von wegen „Schicksal“ Protokult, mit Protokoll über die Debatte bei der Duisburger Filmwoche
  3. Meilensteine: Helga Redemeisters Von wegen „Schicksal“ Haus des Dokumentarfilms, von Maggie Schnaudt, mit einigen Details
  4. Verité Deutsches Historisches Museum Berlin, 2007, mit kurzer verständlicher Erklärung der Streitpunkte
  5. Von wegen Schicksal Silent Green, mit Datum 29. März 1978; Film-Dienst, 55, Nr. 20–26, 2002, S. 2 zu 2002 (möglicherweise Verwechslung)
  6. Von wegen „Schicksal“ Berlinale 2019, Programm
  7. Verité DHM, zur Vorführung im Zeughauskino Berlin, am 7. Juni 2007
  8. Von wegen Schicksal Kino Arsenal, Berlin, zum 26. Januar 2015
  9. Von wegen Schicksal Dokfest München, am 3. und 13. Mai 2018
  10. Von wegen Schicksal Filmwerkstatt Düsseldorf, zum 3. November 2019
  11. Von wegen Schicksal Arsenal Berlin, zur Aufführung am 26. Januar 2015 durch die Deutsche Kinemathek
  12. Von wegen Schicksal Filmdienst
  13. Der deutsche Film. Aus den Archiven der Deutschen Kinemathek, 2024, S. 675, mit Szenenfoto
  14. Wilhelm Roth: Mut zum Privaten. Anmerkungen zu drei Dokumentarfilmen. In: Hans Günther Pflaum (Hrsg.): Jahrbuch Film 80/81. Berichte, Kritiken, Daten. Carl Hanser Verlag, München / Wien 1980, ISBN 3-446-13111-6, S. 68–74, hier: S. 73.
  15. Deutscher Filmpreis, 1979 (Memento vom 22. Februar 2016 im Internet Archive)