Zürcher Bombenprozess

Vom 2. bis 13. Juni 1919 fand in Zürich der sogenannte Zürcher Bombenprozess statt. Vor dem eigenössischen Strafgericht wurde die Anklage gegen Luigi Bertoni und rund zwei Dutzend Anarchisten insbesondere italienischer Herkunft verhandelt. Die Anklage fokussierte auf die schweizerischen innenpolitischen Aspekte, die sich aus einem grösseren Sprengstofffund ergaben, wogegen das Gericht die internationalen Verwicklungen mit deutschen Amtsstellen und indischen Revolutionären höher gewichtete.

Ausgangslage

Kriegsverlauf

Schon rund einen Monat nachdem Deutschland die Kriegshandlungen zum Ersten Weltkrieg anfang August 1914 mit einem raschen Vorstoss durch das neutrale Belgien eröffnet hatte, kam die deutsche Offensive ins Stocken.[1] Damit, und mit dem Eintritt Italiens in den Krieg auf Seiten der Entente im Mai 1915, war die deutsche Kriegsplanung hinfällig geworden. Im deutschen Generalstab wurden Pläne für verdeckte Operationen unter anderem in Italien und auf dem Balkan gemacht und entsprechende Kontakte hergestellt.

Indische Revolutionäre

Die Strategie Deutschlands zielte auch ausserhalb der eigentlichen Kriegshandlungen auf eine Schwächung der wichtigsten Kriegsgegner Grossbritannien, Frankreich und Russland. Mit der Absicht, besonders gegen diese Mächte agierende antikoloniale Kräfte zu unterstützen, wurde Anfang 1915 beim Auswärtigen Amt in Berlin die Nachrichtenstelle für den Orient NfO gegründet. Parallel dazu bildete sich ein indisches Unabhängigkeitskomitee, dem rund zwei Dutzend von der NfO angestellte indische Persönlichkeiten angehörten,[2] unter anderen der Jurist Virendranath Chattopadhyaya, der Chemiker Abdul Hafiz sowie Chempakaraman Pillai, der als Student an der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH Zürich dem internationalen Komitee Pro India in Zürich vorgesessen war.[3]

Exilstadt Zürich

Die Stadt Zürich war im Ersten Weltkrieg ein wichtiger Zufluchtsort für Kriegsgegner und politische Flüchtlinge. Darunter befanden sich viele italienische Anarchisten, die meisten von ihnen entschiedene Gegner der italienischen Kriegsbeteiligung. Die wichtigste Persönlichkeit des Anarchismus in der Schweiz war der in Genf lebende Tessiner Luigi Bertoni.[4]

Bomben und weiteres Kriegsmaterial

Die Geschehnisse, die zum Gegenstand der Gerichtsverhandlungen vom Juni 1919 wurden, fanden im Sommer 1915 statt. Vor Gericht konnte nur der Kronzeuge Erwin Eduard Briess über den Verlauf Auskunft geben. Briess war 1913 vom britischen Konsul Heinrich Angst als Spitzel für die britisch-indische Polizei angeworben worden, um die aus Frankreich und der Schweiz operierenden indischen Revolutionäre zu überwachen. Es war Briess gelungen, sich zum Vizepräsident des internationalen Pro-India-Komitees in Zürich wählen zu lassen.

Übergabe

Nach Auskunft von Briess verschaffte Bertoni den beiden Indern Hafiz und Chatto den Kontakt zu italienischen Anarchisten in Zürich. Im Juli 1915 nahm Hafiz in der Spedition des Bahnhofs Zürich in Anwesenheit von Briess eine Kiste entgegen, deren Absender die deutsche Botschaft in Bern war. Die Kiste enthielt «Minen, Uhrenzünder, kleine Handbomben, Handgranaten, Hagelraketen, Voltmeter, Zündapparat»[5][6] Das Material wurde zuerst ins Büro von Briess geschafft und von dort nach und nach dem Anarchisten Angelo Cavadini übergeben. Es sollte gemäss Briess von den Anarchisten weiter nach Italien spediert und dort verwendet werden, um Politiker wie den Ministerpräsidenten Antonio Salandra und den Aussenminister Sidney Sonnino zu ermorden sowie einen Anschlag auf den Bahnhof Mailand als Hauptumschlagplatz der italienischen Truppen zu verüben. Das deutsche Kriegsmaterial blieb jedoch in Zürich.

Fund

Ende April 1918 wurden in Zürich Pakete mit Sprengstoffen, Handgranaten und Zeitzündern aus der Limmat und dem Lettenkanal gefischt. Die Untersuchung wurde dem Zürcher Bezirksanwalt (Untersuchungsrichter) Otto Heusser übertragen, der bereits die Untersuchungen zu den Zürcher Novemberunruhen 1917 führte.

Gerichtsfall

Untersuchung

Heussers Untersuchung folgte von Anfang an politischen Absichten. Sie fokussierte auf italienische Anarchisten, die sich als die letzten Besitzer dieser Materialien herausstellten. Rund zwei Dutzend Anarchisten wurden in Untersuchungshaft genommen und mussten teilweise mehr als ein Jahr in den Zellen des Zürcher Bezirksgebäudes verharren. Wegen seiner Beziehungen zum verhafteten Cavadini geriet auch Briess in Untersuchungshaft. Erst durch sein Geständnis im August 1918 wurde die Herkunft des Bombenmaterials aus deutschen Heeresbeständen offengelegt.[7]

Für die Anklage war dieses Faktum sekundär. Die primäre Stossrichtung galt der "roten Gefahr", da die Anarchisten mit den in revolutionären Bolschewisten in Russland und ebenfalls mit der gärenden sozialen Unrast in der Schweiz, welche sich im Landesstreik im November 1918 Bahn brach, in Verbindung gebracht wurden.

Prozess

Der Strafprozess wegen Sprengstoffverbrechen und Neutralitätsverletzung, was beides schon damals unter Bundesrecht fiel, wurde am 2. Juni 1919 im Zürcher Obergerichtssaal unter dem Vorsitz von Bundesrichter Agostino Soldati eröffnet. Briess diente dem Gericht als Kronzeuge. Im Gegensatz zur Anklage gewichtete das Gericht die Beteiligung deutscher militärischer Stellen sowie der beiden antikolonialistischen Inder höher. Chattopadhyaya und Hafiz wurden in Abwesenheit zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, ebenso zwei deutsche Agenten. Bertoni wurde freigesprochen.

Einzelnachweise

  1. Stiftung Deutsches Historisches Museum, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Gerade auf LeMO gesehen: LeMO Das lebendige Museum Online. Abgerufen am 7. April 2025.
  2. „Unternehmungen und Aufwiegelungen“: Das Berliner Indische Unabhängigkeitskomitee in den Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts (1914–1920). In: MIDA. Abgerufen am 7. April 2025 (deutsch).
  3. Ole Birk Laursen: 'The Bomb Plot of Zurich': Indian nationalism, Italien anarchism, and the First World War. In: Matthew S. Adams, Ruth Kinna (Hrsg.): Anarchism, 1914-18: Internationalism, Anti-Militarism and War. Manchester University Press, ISBN 978-1-78499-341-2, S. 135–154.
  4. Marianne Enkell: L’ennemi de mon ennemi ? Il y a cent ans, le procès des bombes de Zurich. In: AÉHMO Association pour l'étude de l'histoire du mouvement ouvrier. Vol. 35. Lausanne 2019, S. 112–127.
  5. Hansjürg Zumstein: Die falsche Spur. In: NZZ Geschichte. Zürich 16. Mai 2024, S. 69 ff.
  6. Bericht des Bundesrates über seine Geschäftsführung im Jahre 1919. In: Bundesblatt. No. 16, 72. Jahrgang, Band II. Bern 21. April 1920, S. 112 ff.
  7. Bericht des Bundesrates über seine Geschäftsführung im Jahre 1919. In: Bundesblatt. No. 16, 72. Jahrgang, Band II. Bern 21. April 1920, S. 113