Technofeudalismus
Der Technofeudalismus, oder Techno-Feudalismus, ist ein Begriff aus den 2020er Jahren, mit dem Analytiker und Autoren die These beschreiben, dass große Internet-Konzerne heute in vielerlei Hinsicht die Rolle von mittelalterlichen Feudalherren einnehmen. Statt klassischer Produktion und Marktmechanismen entstünde eine Wirtschaftsordnung, in der wenige Tech-Riesen alle Macht konzentrieren und Nutzer wie Cloud-Leibeigene dienen. Yanis Varoufakis etwa schreibt, die Titanen der digitalen Ökonomie hätten den Hyper-Kapitalismus in ein weit düstereres System verwandelt – den Technofeudalismus[1]. In dieser Ordnung gleichen Unternehmen wie Google, Apple, Amazon oder Facebook digitalen Lehnsherren, während die Daten und Klicks der Nutzer zur neuen „Währung“ und zur Pacht ihrer „Cloud“-Fürstentümer werden[1][2].
Ursprung und Entwicklung des Begriffs
Der Begriff geht auf zeitgenössische Wirtschaftskritiker zurück. Der französische Ökonom Cédric Durand behandelte 2020 in seinem Buch Technoféodalisme (dt. Technofeudalismus) erstmals explizit die Idee, dass digitale Großkonzerne ähnlich wie Feudalherren agieren[3]. Er beschreibt Big-Tech-Unternehmen als monopolistische Kapitalisten, deren Plattformen wie Versorgungsbetriebe funktionieren – der entscheidende Unterschied sei, dass sie über die Cloud Nutzerdaten sammeln und so ihre Monopolmacht ausbauen[3]. Diese „techno-feudale Hypothese“ legte das konzeptionelle Fundament.
Ein breiteres Publikum erreichte das Thema durch Yanis Varoufakis. Sein 2023 veröffentlichtes Buch Technofeudalism: What Killed Capitalism wurde zu einem der meistdiskutierten Werke über das Phänomen[4]. Varoufakis argumentiert, der klassische Kapitalismus sei bereits tot und durch den Technofeudalismus abgelöst. In Interviews und Medienauftritten – etwa in Wired oder The Guardian – spricht er von digitalen Lehensherren und Cloud-Diktaten, die das Wirtschaften prägen[5][6]. Auch die Politologin Jodi Dean (in Capital’s Grave: Neofeudalism and the New Class Struggle, 2025) beschreibt ähnliche Entwicklungen unter dem Schlagwort Neo-Feudalismus: Sie sieht bei Konzernen, wie denen im Besitz von Mark Zuckerberg und Jeff Bezos, eine Abkehr vom Wettbewerb hin zu Monopolen, bei denen Gewinne als Rente abgeschöpft werden – analog zu Bauern, die früher Pacht an ihre Lehnsherren zahlten[4]. Insgesamt haben also mehrere linke Denker in dieser Zeit Begriffe wie Technofeudalismus oder Neofeudalismus für die wachsende Konzentration von Wirtschaftsmacht in Händen von Technologie-Oligarchen verwendet[4].
Zentrale Merkmale des Technofeudalismus
Im Technofeudalismus zeichnen sich folgende Merkmale ab:
- Digitale Lehenspyramiden: Große Plattformen bilden hierarchische „Cloud-Fürstentümer“. Tech-Konzerne thronen an der Spitze, während klassische Unternehmen nur noch als abhängige Vasallen gelten. Varoufakis beschreibt eine Welt, in der die Welt zerfällt in digitale Cloud-Fürstentümer, die analog zur feudalen Ordnung des Mittelalters hierarchischen Lehenspyramiden gleichen[1]. Kleinere Firmen dienen lediglich als Mittelbau (mittlere Ebene in einem hierarchischen Aufbau) für die Produktions- und Logistikbedürfnisse der Großkonzerne.
- Monopolmacht und Miete: An die Stelle von Marktwettbewerb tritt Monopolisierung. Die Giganten etablieren Monopole und erheben Abgaben wie eine digitale Bodenpacht. Varoufakis und Dean betonen, dass die neuen Mächtigen Gewinn nicht über produktive Arbeit, sondern überwiegend als Rente einstreichen[5][4]. So erklärt Varoufakis, der App Store von Apple sei im Grunde ein Cloud-Lehen, in dem Apple 30 % Provision einbehält – eine Art digitaler Bodenpacht[5].
- Nutzer als digitale Leibeigene: Die breite Bevölkerung wird zu Cloud-Leibeigenen. Daten, Klicks und Äußerungen sind Arbeitsleistung, die kostenlosen Wert für die Plattformen erzeugt. Varoufakis warnt: Millionen Menschen würden in diesem System wie Leibeigene gehalten, ihre Interaktionen flössen unentgeltlich in die allumfassenden Clouds[1][6]. Algorithmische Systeme lenken und überwachen das Verhalten, ähnlich wie einst der Grundherr die Arbeit seiner Bauern bestimmte.
- Daten als Währung: Ähnlich wie im Feudalismus Land das Kapital war, gelten heute Daten als entscheidende Ressource. Große Anbieter kontrollieren zentrale Infrastrukturen (Cloudserver, soziale Netzwerke etc.) und sammeln fortlaufend Daten von Nutzern. Jeder Klick und jedes Like erhöht ihren Einfluss, denn die Währung, die zu dem unglaublichen Reichtum der Konzerne führt, sind unsere Daten[2]. Dieser vollständige Zugriff auf persönliche Informationen ersetzt vielfach traditionelle Produktion.
- Staatliche Verflechtung und Privatisierung: Tech-Fürsten pflegen enge Beziehungen zu Regierungen und übernehmen immer mehr quasi-staatliche Aufgaben. Experten weisen darauf hin, dass Ämter und Sicherheit zunehmend privatisiert werden, was die demokratische Kontrolle schwächt[7]. So erklären Beobachter, dass das Rechtssystem fragmentiert und vieles an Privatfirmen delegiert wird – Stichwort Privatarmee und Gated Communities großer Konzerne[7]. Diese Entwicklung zeigt Parallelen zu mittelalterlichen Machtverhältnissen, in denen die Herrschaft vielfach außerstaatlich ausgeübt wurde.
Abgrenzung zu Kapitalismus und historischem Feudalismus
Im klassischen Kapitalismus stehen Gewinnstreben, Wettbewerb und offene Märkte im Zentrum: Unternehmen konkurrieren global um Profit und organisieren Produktion. Im historischen Feudalismus dagegen dominierten Grundbesitz, Lehensherrschaft und Frondienst: Die meisten Menschen waren Bauern, die Pacht oder Dienste an einen Lehnsherrn abführten. Der Technofeudalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er Merkmale beider Systeme überlagert.
Während kapitalistische Profiterwirtschaftung nicht völlig verschwindet, ist sie heute oft zweitrangig. Varoufakis betont den Unterschied sehr pointiert: Profit drives capitalism, rent drove feudalism.[5] – im neuen System werde Reichtum vor allem über Mieten (etwa App-Gebühren oder Nutzerdaten) erwirtschaftet, nicht mehr über reine Produktion[5][6]. Ein Beispiel ist Amazon: Jeff Bezos „produziert“ keine physischen Güter im klassischen Sinne, er erhebt aber Miete für die Nutzung seiner Plattform[6].
Gleichzeitig liegen technische Innovation und Investitionen auch heute noch im großen Maßstab in den Händen dieser Konzerne – charakteristisch für Kapitalismus – was Kritiker wie Evgeny Morozov zu bedenken geben: Sie verweisen darauf, dass Big Tech sehr wohl große Summen in Forschung, Entwicklung und Infrastruktur steckt und damit Merkmale eines produktiven Kapitalismus zeigt[8]. Insgesamt erscheint Technofeudalismus somit weniger als Rückkehr ins Mittelalter denn als Übergang in eine neue, hybride Wirtschaftsform: Märkte existieren nur scheinbar noch, während Machtkonzentration und Abhängigkeitsstrukturen stark zunehmen[5][6].
Verwendung in aktuellen Diskussionen
Der Begriff Technofeudalismus wird seit kurzem in Medien und Politik kontrovers diskutiert:
- Politische Debatten: Linke Politiker in Europa haben auf den Begriff verwiesen. Jean-Luc Mélenchon etwa fordert höhere Abgaben für digitale Lehnsherren und spricht von der Gefahr eines Techno-Feudalismus durch wenige Datengiganten[9]. In Spanien warnte Vize-Präsidentin Yolanda Díaz vor einem Techno-Feudalismus der Tech-Milliardäre und forderte Gegenmaßnahmen[9]. Auch in Wahlprogrammen und auf Parteikonferenzen wird die Kritik an Datenmonopolen als Problem unserer Demokratie zunehmend als „technofeudalistisches“ Szenario formuliert.
- Medien und Journalisten: Der Begriff taucht in Leitartikeln und Interviews auf. So titelte The Guardian im Jahr 2023 beispielsweise über Varoufakis’ These: Nicht mehr die Finanzmärkte, sondern die „Lehen“ der großen Tech-Firmen bestimmten unser Leben[6]. Wirtschaftsjournalisten beziehen sich auf Analysen wie die von Cullen Murphy, der bereits von einem neuen „Techno-Feudalismus“ spricht und dabei auf wachsende Ungleichheit und Staatsprivatisierung verweist[7]. Auch deutschsprachige Medien, wie Watson (Nachrichtenportal), griffen 2025 das Thema auf und thematisierten Bezos’ protzige Hochzeit als Symbol dieser Machtverhältnisse.
- Kritik am Konzept: Gleichzeitig gibt es auch kritische Stimmen. Linke Publikationen wie Jacobin argumentieren, dass Begriffe wie Technofeudalismus oder Neofeudalismus eher für Verwirrung sorgen als Klarheit über den Kapitalismus von morgen zu schaffen[4]. Sie warnen, man dürfe die produktiven Aspekte der Globalwirtschaft nicht übersehen. Solche Debatten zeigen jedoch, dass der Begriff Technofeudalismus Eingang in das öffentliche und politische Bewusstsein gefunden hat und als Kürzel für die Ängste vor mächtigen Datenkonzernen und gesellschaftlicher Machtkonzentration genutzt wird[9][7].
Einzelnachweise
- ↑ a b c d „Technofeudalismus“: Kapitalismus – und dann? [1]
- ↑ a b Technofeudalismus - Was den Kapitalismus tötete. Yanis Varoufakis. Verlag Antje Kunstmann. Sachbuch, Politik & Gesellschaft, Wirtschaft [2]
- ↑ a b How Silicon Valley Unleashed Techno-feudalism:The Making of the Digital Economy. Verso Books [3]
- ↑ a b c d e Der Kapitalismus wandelt sich – aber nicht zum »Neofeudalismus«. JACOBIN Magazin [4]
- ↑ a b c d e f Welcome to the Age of Technofeudalism. WIRED [5]
- ↑ a b c d e f ‘Capitalism is dead. Now we have something much worse’: Yanis Varoufakis on extremism, Starmer, and the tyranny of big tech. Yanis Varoufakis. The Guardian [6]
- ↑ a b c d Bezos-Hochzeit: Das Zeitalter des Techno-Feudalismus hat begonnen. Watson [7]
- ↑ What is Technofeudalism?. The Beautiful Truth [8]
- ↑ a b c Führt uns die digitale Technologie zurück ins Mittelalter?. Réseau International [9]