Maßtheorie in topologischen Vektorräumen
Die Maßtheorie in topologischen Vektorräumen bezeichnet die Fortsetzung der Maßtheorie in topologischen Vektorräumen. Solche Räume sind häufig unendlichdimensionale Räume, doch viele Resultate der klassischen Maßtheorie werden auf endlichdimensionalen Räumen formuliert und können nicht direkt übertragen werden. Dies wird schon deutlich beim Lebesgue-Maß, welches auf allgemeinen unendlichdimensionalen Räumen nicht existiert.
Einführung
Im Artikel werden ausschließlich topologische Vektorräume betrachtet, welche auch die Hausdorff-Eigenschaft besitzen. Vektorräume ohne Topologie sind mathematisch nicht sehr interessant, weil Begriffe wie die Konvergenz und Stetigkeit dort nicht definiert sind. Es gibt heute viele Bücher über die Maßtheorie in topologischen Vektorräumen, als Standardreferenz gilt aber immer noch das 1973 erschienene Buch von Laurent Schwartz.[1]
Das nachfolgende Beispiel zeigt, dass in unendlichdimensionalen Räumen die Konstruktion von Maßen nicht immer analog wie in den endlichdimensionalen Räumen durchgeführt werden kann.
Ein Gegenbeispiel
Sei ein separabler, reeller Hilbert-Raum mit gegeben. Weiter sei ein gaußsches Maß auf , das heißt
wobei das Lebesgue-Maß auf bezeichnet.
Versucht man jedoch, diese Definition auf einen unendlichdimensionalen Hilbert-Raum zu übertragen, so scheitert dies. Sei eine Orthonormalbasis von und betrachte die zugehörigen Zufallsvariablen definiert durch Die sind unabhängige, standardnormalverteilte Zufallsvariablen und nach dem starken Gesetz der großen Zahlen gilt
für -fast sicher alle und somit .[2]
σ-Algebren
Sei ein topologischer Vektorraum, seine Topologie, der algebraische Dualraum und der topologische Dualraum. In topologischen Vektorräumen existieren drei prominente σ-Algebren:
- die borelsche σ-Algebra : wird durch die offenen Mengen aus erzeugt.
- die zylindrische σ-Algebra : wird durch den Dualraum erzeugt.
- die bairesche σ-Algebra : wird durch alle stetigen Funktionen erzeugt. Die bairsche σ-Algebra wird auch mit notiert.
Es gilt folgender zusammenhang
wobei offensichtlich ist.
Zylindrische σ-Algebra
Seien und zwei Vektorräume über . Man sagt und befinden sich in Dualität, wenn eine Bilinearform existiert. Dadurch wird der Raum zum Raum der Funktionale auf und zum der Raum der Funktionale auf . Sei nun .
Für ein und nennt man eine Menge der Form
eine Zylindermenge oder schlichtweg Zylinder. Falls offen ist, dann nennt man diese Menge offene Zylindermenge respektive offener Zylinder.
Die Menge aller Zylinder notieren wir mit und die Menge aller offenen Zylinder mit notiert. Beide bilden eine Algebra und sie erzeugen dieselbe σ-Algebra . Die Menge aller (offenen) zylindrischen Mengen
bilden eine Algebra und wird (offene) zylindrische Algebra genannt. Die kleinste σ-Algebra, welche sie erzeugt, nennt man zylindrische σ-Algebra und man notiert sie mit . Es spielt keine Rolle, ob man offene Zylinder oder allgemeine Zylinder wählt, die resultierende zylindrische σ-Algebra ist dieselbe.[3]
Falls ein Raum von stetigen Funktionalen ist, dann ist ein offener Zylinder eine offene Menge, weil die Funktion stetig ist. Folglich gilt dann und die Inklusion
In den meisten Standardapplikationen wählt man , dann ist die zylindrische σ-Algebra die kleinste σ-Algebra, sodass jedes stetige lineare Funktional auf messbar ist.
Bairesche σ-Algebra
Die bairsche σ-algebra ist die kleinste σ-Algebra, so dass alle stetigen Funktionale stetig sind. Die bairsche σ-algebra wird auch von den Nullmengen erzeugt, es gilt
da und stetig sind.
Warum man nicht ausschließlich mit der borelschen σ-Algebra arbeitet
Wir haben gesehen, dass die zylindrische σ-Algebra durch offene Zylinder erzeugt wird. Die zylindrische σ-Algebra enthält alle abzählbaren Vereinigungen von offenen Zylinder, hingegen ist die borelsche σ-Algebra eine σ-Algebra direkt auf der Topologie , und diese enthält alle beliebigen Vereinigungen von offenen Zylinder. Man muss sich bei der borelschen σ-Algebra somit auch mit überabzählbaren Vereinigungen rumschlagen.
Für nicht separable Räume gilt im Allgemeinen deshalb kann es passieren, dass die Vektoraddition bezüglich nicht messbar ist. Für zwei Zufallsvariablen und heißt das also, dass die Summe keine Zufallsvariable mehr ist. Für die zylindrische σ-Algebra gibt es solche messbaren Probleme nicht, denn es gilt .
Im Allgemeinen möchte man eine σ-Algebra wählen, die einerseits genügend viele Mengen enthält, um praktisch arbeiten zu können, andererseits aber nicht so groß ist, dass zu viele Mengen messbar werden. Im Zusammenhang mit Integralen von stetigen Funktionen ist es schwierig oder sogar unmöglich, diese auf beliebige Borel-Mengen anzuwenden.[4] In vielen topologischen Räumen stimmen die σ-Algebren allerdings überein.
Gleichheiten zwischen den σ-Algebren
- Sei ein polnischer Raum und eine Familie von stetigen Funktionen, welche die Punkte trennt, dann gilt
- Wenn abzählbar ist: Sei eine abzählbare Basis von offenen Mengen in . Dann definiert man für jedes und das Urbild , welches per Definition in liegt. Da die Familie die Punkte in separiert, kann man zeigen, dass sie auch erzeugt.[6] Wenn überabzählbar ist, nimmt man eine abzählbare Untermenge und zeigt, dass diese dieselbe σ-Algebra erzeugt.
- Sei ein topologischer Vektoraum und sei die schwache Topologie, dann ist die zylindrische σ-algebra exakt die bairesche σ-algebra von .[7]
- Sei ein separabler metrisierbarer lokalkonvexer Raum und die schwache Topologie. Dann sind die drei σ-algebren , und equivalent unter den Topologien und .[8]
Maße
Eine Möglichkeit, ein Maß auf einem unendlichdimensionalen Raum zu konstruieren, besteht darin, das Maß zuerst auf endlichdimensionalen Räumen zu definieren und es anschließend als projektives System auf unendlichdimensionale Räume zu erweitern. Dies führt zu dem Begriff des zylindrischen Maßes, der gemäß Israel Moissejewitsch Gelfand und Naum Jakowlewitsch Wilenkin von Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow stammt.[9] Zylindrische Maße sind per Definition σ-additiv auf allen endlichdimensionalen Unterräumen.
Zylindrische Maße
Sei ein topologischer Vektorraum über und der algebraische Dualraum. Weiter sei ein Vektorraum von linearen Funktionalen auf , das heißt , und die zylindrische Algebra.
Eine Mengenfunktion
heißt zylindrisches Maß, falls für alle endlichen Mengen mit und zylindrischen σ-Algebren die Restriktion
eine σ-additive Funktion ist, das heißt ist ein Maß.[10]
Sei , ein zylindrisches Maß auf hat die schwache Ordnung (oder ist vom schwachen Typ ), falls der -te schwache Moment existiert, das heißt
- für alle [11]
Radon-Maße
Jedes Radon-Maß besitzt einen topologischen Träger. Jedes Radon-Maß induziert ein zylindrisches Maß, die Umkehrung ist im Allgemeinen aber nicht richtig.[12] Die von Laurent Schwartz eingeführte Radonifikation ist eine Methode um zylindrische Maße in Radon-Maße zu verwandeln. Seien und zwei lokalkonvexe Räume, dann ist ein -radonisierender Operator, wenn für ein zylindrischen Maßes vom Typ auf das Bildmaß ein Radonmaß vom Typ auf ist. Wenn dann spricht man einfach von -radonisierenden Operatoren.[13][14][15]
Erwartungswert und Kovarianzoperator
Sei ein Maß mit schwacher Ordnung auf dem topologischen Vektorraum . Dann existiert der Erwartungswert falls für jedes stetige Funktional
gilt.
Sei nun mit schwacher Ordnung , dann ist der Kovarianzoperator von definiert durch
für .[16][17] Das heißt also ist ein Element des Bidualraums, das heißt ein Funktional auf , und es gilt
Erweiterung der zylindrischen Maße
Um σ-additive zylindrische Maße zu erzeugen, gibt es verschiedene Ansätze. Für allgemeine Wahrscheinlichkeitsmaße gibt es den Erweiterungssatz von Kolmogorov und für gaußsche Maße das von Leonard Gross eingeführte Konzept des abstrakten Wienerraums. Für allgemeine Maße gibt es die Radonifikation und den Satz von Minlos-Sasonow. Letzterer sagt, dass ein zylindrisches Maß eine σ-additive Erweiterung hat, wenn die Fourier-Transformierte stetig in der Sasonow-Topologie oder Gross-Sasonow-Topologie ist.[18] Solche Topologien nennt man ausreichend.[19]
Satz von Sazonow-Badrikian
Sei eine balancierte, konvexe, beschränkte und abgeschlossene Teilmenge eines lokalkonvexen Raums . Dann bezeichnet den von erzeugten Unterraum von . Eine balancierte, konvexe, beschränkte Teilmenge eines lokalkonvexen Hausdorff-Raums wird eine Hilbert-Menge genannt, wenn der Banachraum eine Hilbertraumstruktur besitzt, d. h. die Norm in von einem Skalarprodukt abgeleitet werden kann und vollständig ist.[20] Der Satz von Sazonov–Badrikian lautet:
- Sei ein quasivollständiger lokalkonvexer Hausdorff-Raum und sein Dualraum, ausgestattet mit der Topologie der gleichmäßigen Konvergenz auf kompakten Teilmengen von . Angenommen, jede Teilmenge von ist in einer balancierten, konvexen, kompakten Hilbert-Menge enthalten. Dann gilt, eine positiv definite Funktion auf ist genau dann die Fourier-Transformierte eines Radon-Maßes auf , wenn stetig bezüglich der mit der Topologie von assozierten Hilbert-Schmidt-Topologie ist.[21]
Literatur
- Laurent Schwartz: Radon Measures on Arbitrary Topological Spaces and Cylindrical Measures (= Notes by K.R. Parthasarathy, Tata Institute of Fundamental Research Lectures on Mathematics and Physics). Oxford University Press, London 1973, S. 299 (englisch).
- Wladimir I. Bogatschow und Oleg G. Smoljanow: Topological Vector Spaces and Their Applications. Hrsg.: Springer Cham. 2017, ISBN 978-3-319-57116-4.
- David H. Fremlin: Measure Theory, Volume 4: Topological Measure Spaces. Hrsg.: Torres Fremlin. Band 4, 2003, ISBN 0-9538129-4-4.
Einzelnachweise
- ↑ Laurent Schwartz: Radon Measures on Arbitrary Topological Spaces and Cylindrical Measures (= Notes by K.R. Parthasarathy, Tata Institute of Fundamental Research Lectures on Mathematics and Physics). Oxford University Press, London 1973 (englisch).
- ↑ Daniel W. Stroock: Abstract Wiener space, revisited. In: Communications on Stochastic Analysis. Band 2, Nr. 1, 2008, doi:10.31390/cosa.2.1.10 (lsu.edu).
- ↑ Oleg Georgievich Smoljanow und Sergei Wassiljewitsch Fomin: Measures on linear topological spaces. In: Russian Mathematical Surveys. Band 31, Nr. 4, 1976, S. 4, doi:10.1070/RM1976v031n04ABEH001553.
- ↑ David H. Fremlin: Measure Theory, Volume 4: Topological Measure Spaces. Hrsg.: Torres Fremlin. Band 4, 2003, ISBN 0-9538129-4-4.
- ↑ N. N. Vakhania, V. I., Tarieladze, S. A. Chobanyan: Probability Distributions on Banach Spaces. Hrsg.: Springer. Dordrecht 1987, S. 6.
- ↑ N. N. Vakhania, V. I., Tarieladze, S. A. Chobanyan: Probability Distributions on Banach Spaces. Hrsg.: Springer. Dordrecht 1987, S. 6.
- ↑ David H. Fremlin: Measure Theory, Volume 4: Topological Measure Spaces. Hrsg.: Torres Fremlin. Band 4, 2003, ISBN 0-9538129-4-4, S. 479.
- ↑ David H. Fremlin: Measure Theory, Volume 4: Topological Measure Spaces. Hrsg.: Torres Fremlin. Band 4, 2003, ISBN 0-9538129-4-4, S. 479.
- ↑ Israel Moissejewitsch Gelfand und Naum Jakowlewitsch Wilenkin: Generalized Functionsl, Volume 4: Applications of Harmonic Analysis Vol 4 Applications Of Harmonic Analysis. Band 4, 1964, S. 374.
- ↑ Oleg Smolyanow und Wladimir I. Bogatschow: Topological Vector Spaces and Their Applications. Hrsg.: Springer International Publishing. Deutschland 2017, S. 327.
- ↑ N. N. Vakhania, V. I., Tarieladze, S. A. Chobanyan: Probability Distributions on Banach Spaces. Hrsg.: Springer. Dordrecht 1987, S. 414.
- ↑ Laurent Schwartz: Radon Measures on Arbitrary Topological Spaces and Cylindrical Measures (= Notes by K.R. Parthasarathy, Tata Institute of Fundamental Research Lectures on Mathematics and Physics). Oxford University Press, London 1973, S. 172–174 (englisch).
- ↑ Laurent Schwartz: Radon Measures on Arbitrary Topological Spaces and Cylindrical Measures (= Notes by K.R. Parthasarathy, Tata Institute of Fundamental Research Lectures on Mathematics and Physics). Oxford University Press, London 1973, S. 299 (englisch).
- ↑ N. N. Vakhania, V. I., Tarieladze, S. A. Chobanyan: Probability Distributions on Banach Spaces. Hrsg.: Springer. Dordrecht 1987, S. 416.
- ↑ Laurent Schwartz: Applications $p$-sommantes et $p$-radonifiantes. In: Séminaire Maurey-Schwartz (1972–1973). Vortrag Nr. 3, S. 8 (französisch, numdam.org)./
- ↑ Vladimir I. Bogachev: Gaussian Measures. Hrsg.: American Mathematical Society. 1998, ISBN 1-4704-1869-X.
- ↑ N. N. Vakhania, V. I. Tarieladze: Covariance Operators of Probability Measures in Locally Convex Spaces. In: Theory of Probability & Its Applications. Band 23, Nr. 1, 1978, S. 11–12, doi:10.1137/1123001.
- ↑ Oleg Georgievich Smoljanow und Sergei Wassiljewitsch Fomin: Measures on linear topological spaces. In: Russian Mathematical Surveys. Band 31, Nr. 4, 1976, S. 27, doi:10.1070/RM1976v031n04ABEH001553.
- ↑ Wladimir I. Bogatschow und Oleg G. Smoljanow: Topological Vector Spaces and Their Applications. Hrsg.: Springer Cham. 2017, ISBN 978-3-319-57116-4, S. 357.
- ↑ Laurent Schwartz: Radon Measures on Arbitrary Topological Spaces and Cylindrical Measures. Hrsg.: Oxford University Press (= Notes by K.R. Parthasarathy, Tata Institute of Fundamental Research Lectures on Mathematics and Physics). London 1973, S. 230.
- ↑ Laurent Schwartz: Radon Measures on Arbitrary Topological Spaces and Cylindrical Measures. Hrsg.: Oxford University Press (= Notes by K.R. Parthasarathy, Tata Institute of Fundamental Research Lectures on Mathematics and Physics). London 1973, S. 239.