Fassmessung

Visierbüchlein. Bamberg 1485, Titelholzschnitt

Unter Fassmessung versteht man stereometrische Näherungsverfahren zur Bestimmung des Rauminhalts von Fässern im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit. Dieser Artikel behandelt in enzyklopädischer Kürze deren Grundlagen; Details finden sich in der unten genannten Spezialliteratur. Zu späteren und heutigen Eichverfahren siehe Eichung.

Geschichte und Entwicklung

Der seit dem späten 13. Jh. stark zunehmende Handel führte dazu, dass auch wesentlich größere Mengen an Wein über weitere Strecken geliefert wurden. Zum Transport dienten fast nur Holzfässer. Verkäufer, Händler und Käufer mussten ebenso wie Städte und Kleinstaaten, die dafür Zoll verlangten, über den Rauminhalt der Fässer (unterschiedlicher Form und Größe) genau Bescheid wissen. Die großen Handelsstädte nördlich der Alpen stellten deshalb Spezialisten ein, die u. a. die Aufgabe der Fassmessung übernahmen. Sie wurden „Visierer“ genannt, ihre Tätigkeit „Visieren“, ihre Methoden „Visierkunst“ (lateinisch ars visorandi oder stereometria doliorum) und ihre Messinstrumente „Visierruten“ oder „Visierstäbe“ (lateinisch virga visoria). Die Ausbildung der Visierer erfolgte häufig durch Rechenmeister, die auch selbst als Visierer tätig sein konnten.[1][2]

Da das Volumen von Fässern wegen ihrer bauchigen Form nicht elementargeometrisch bestimmt werden kann, brauchten die Visierer Näherungsverfahren, die in der Praxis leicht einsetzbar waren. Die dazu verwendeten Visierruten wurden an Gefäßen bekannten Rauminhalts geeicht und trugen verschiedene Skalen. Sie wurden durch das Spundloch des liegenden Fasses eingeführt und am Spundloch abgelesen.

Ulrich Kern, Visierbuch. Straßburg 1531, fol. 9v

Quadratische Visierruten konnten für unterschiedlich geformte Fässer verwendet werden. Das Prinzip dabei ist, ein Fass durch einen Kreiszylinder zu approximieren. Dazu wurden vier Messwerte ermittelt:

  • Länge des Fasses (von Deckel bis Boden)
  • Durchmesser an der dicksten Stelle des Fasses ((Spund-)Tiefe des Fasses, d. h. Abstand vom Spundloch bis zur senkrecht gegenüberliegenden Wand)
  • Durchmesser des Deckels
  • Durchmesser des Bodens.

Die Höhe des Näherungszylinders entspricht der Länge der Fasses und dessen Durchmesser einem Mittelwert der drei gemessenen Durchmesser. Diese vier Messungen genügten, denn das Zylindervolumen ist proportional zur Höhe und zum Quadrat des Durchmessers.[3] Quadrierung und Multiplikationen waren entweder in die verschiedenen Skalen der Visierstäbe integriert oder es gab entsprechende Tafeln, so dass bei der Fassmessung selbst keine Berechnungen durchgeführt werden mussten. Die Mittelwertbildung geschah ebenfalls rein mechanisch mit einem dafür speziell skalierten Stab, dem Medial.[4]

Kubische Visierruten stammten aus dem Raum des heutigen Österreich. Sie kamen mit einer einzigen Messung aus, vom Spundloch diagonal bis zum Knick zwischen Dauben und Fassboden. Denn die Kuben (dritten Potenzen) der (abgelesenen) Abstände verhalten sich – jedoch nur bei geometrisch ähnlich geformten – Fässern wie die Volumina.[5]

Die frühesten handschriftlichen Visiertraktate datieren aus der Zeit um 1400 (eine Pergamentrolle aus Damme, der Hafenstadt von Brügge, und der Traktat des Peter von Jülich).[6] Die ersten Druckwerke sind zwei kleine 1485 in Bamberg gedruckte Hefte, die in der Bayerischen Staatsbibliothek in München liegen. Das erste Druckwerk eines bekannten Autors ist Jakob Köbel 1515.[7] Erst Johannes Kepler lieferte theoretische Überlegungen zur Fassmessung.[8] Visiertraktate hielten sich bis ins 19. Jahrhundert.[9]

Quellen (Auswahl)

Weitere Quellen siehe in Menso Folkerts. 2008, S. 24–34.

  • [Bynczendorffer:] Ein fysier büchlein auff allerley eych. [Bamberg 1485], Gesamtkatalog der Wiegendrucke M50785 (Online).
  • Johann Hartmann Beyer: Ein newe und schöne Art der Vollkommenen Visier-Kunst. Jonas Rose, Frankfurt a. M. 1603 (Online).
  • Johannes Frey: Ein new Visierbüchlein. Johann Stüchs, Nürnberg 1531 (Online).
  • Erhart Helm: Der ware Proceß vnd kurtzist weg Visier vnd Wechselruten zu machen auß dem Quadraten auff alle Eich (Anhang zu Adam Ries: Rechenung auff der linihen und federn (2. Rechenbuch von Adam Ries)). Christian Egenolff, Frankfurt am Main 1533 und spätere Auflagen (Online).
  • Simon Jacob: Wie mann vff ein jede Eich ein Gemeine Visirruthen, auß bewerlichem grund, zurichten soll (Anhang zu seinem Rechenbuch auff den Linien vnd mit Ziffern). Christian Egenolff, Frankfurt a. M., 4. Auflage 1571 und spätere Auflagen (Online).
  • Johannes Kepler: Nova stereometria doliorum vinariorum. Johannes Plancus, Linz 1615 (Online).
  • Ulrich Kern: Eyn new Kunstlichs wolgegründts Visierbuch. Peter Schäffer, Straßburg 1531 (Online).
  • Jakob Köbel: Eyn New geordent Vysirbuch. Oppenheim 1515 (Online).
  • Jakob Köbel: Rechnen vnd Visieren. Christian Egenolff, Frankfurt a. M. 1532 (Online).
  • Adam Ries: Rechenung nach der lenge, auff den Linihen vnd Feder … Mit grüntlichem vnterricht des visierens (3. Rechenbuch von Adam Ries). Jakob Bärwald, Leipzig 1550 (Online).
  • Heinrich Schreyber: Ayn new kunstlich Buech welches gar gewiss vnd behend lernet nach der gemainen Regel detre … Weytter ist hierjinnen begriffen … Visier zumachen durch den quadrat vnnd triangel. Johannes Stüchs, Nürnberg 1518 (Online).
  • Georg Wendler: Abschnitt über das Visieren in seiner Handschrift Memorial oder Handbuch. [Nürnberg/Regensburg um 1645 bis um 1650], München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 3788 (Online)‚ 280r–342v.

Literatur (Auswahl)

Weitere Literatur siehe in Menso Folkerts. 2008, S. 34–36.

  • Kathrin Chlench: Visiertraktate. Zwei Beispieltexte aus dem späten 14. und 15. Jahrhundert. In: Lenka Vaňková (Hg.): Fachtexte des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Tradition und Perspektiven der Fachprosa- und Fachsprachenforschung. Akademie Verlag, Berlin 2014, S. 155–168.
  • Menso Folkerts: Die Entwicklung und Bedeutung der Visierkunst als Beispiel der praktischen Mathematik der frühen Neuzeit (= Humanismus und Technik, Bd. 18, Heft 1). Berlin 1974.
  • Menso Folkerts: Die Fassmessung (Visierkunst) im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Rainer Gebhardt (Hg.): Visier- und Rechenbücher der frühen Neuzeit (= Schriften des Adam-Ries-Bundes, Bd. 19). Adam-Ries-Bund, Annaberg-Buchholz 2008, ISBN 978-3-930430-78-9, S. 1–36.
  • Menso Folkerts, Martin Hellmann: Peter von Jülich, De modo mensurandi vasa. Ein Traktat zur Fassmessung aus dem frühen 15. Jahrhundert (= Algorismus, Heft 85). Erwin Rauner, Augsburg 2018.
  • Grete Leibowitz: Die Visierkunst im Mittelalter (Inaugural-Dissertation). Heidelberg 1933.
  • Ad Meskens: Wine gauging in late 16th- and early 17th-century Antwerp. In: Historia Mathematica 21 (1994), S. 121–147.
  • Gunthild Peters: Zwei Gulden vom Fuder. Mathematik der Fassmessung und praktisches Visierwesen im 15. Jahrhundert (= Boethius, Bd. 69). Franz Steiner, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-515-12052-4.
  • Karl Röttel: „Arithmetica applicirt“. Visierkunst, Buchhaltung, Kartographie und Astronomie bei Henricus Grammateus. In Manfred Weidauer (Hg.): Heinrich Schreyber aus Erfurt, genannt Grammateus. Festschrift zum 500. Geburtstag (= Algorismus, Heft 20). Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, München 1996.

Einzelnachweise

  1. Menso Folkerts: Die Fassmessung (Visierkunst). 2008, S. 1–3, 23.
  2. Die meisten erhaltenen Visiertexte stammen aus dem süd- und mitteldeutschen Raum, aus dem Raum des heutigen Österreich und der südlichen Niederlande. Italienische Handschriften behandeln die Fassmessung nur im Rahmen von Abhandlungen zur praktischen Geometrie; Visierstäbe kommen dort nicht vor. Visierer wirkten auch in England. Vgl. Folkerts 2008, S. 7, 9, 23.
  3. Das Volumen eines Zylinders ergibt sich immer als Produkt von (kreisförmiger) Grundfläche (Durchmesser zum Quadrat mal π/4) mal Höhe.
  4. Folkerts 2008, S. 9–11.
  5. Folkerts 2008, S. 12.
  6. Folkerts 2008, S. 13–14, 24–29.
  7. Folkerts 2008, S. 18–19, 30–34.
  8. Folkerts 2008, S. 12, 21.
  9. Folkerts 2008, S. 34.

Stephan Weiss: Geschichte der Volumenmessung