Epitome Gai
Die Epitome Gai (altgriechisch ἐπιτομή, epitomé ‚Abriss‘, ‚Auszug‘, ‚Ausschnitt‘, Auszüge aus den Gaiusinstitutionen, auch: liber Gai; kurz: GE) sind eine nach der Mitte des 5. Jahrhunderts im Westen des römischen Reichs entstandene posttheodosianische Sammlung von Kaiserkonstitutionen (novellae).
Das Florilegium ist eine Bearbeitung der Institutionen des Gaius, die der lex Romana Visigothorum – als eine von mehreren verkürzenden Bearbeitungen, daher Epitome – an die Seite gestellt wurde, um auf deren Grundlage inhaltliche Interpretationen des kaiserlichen Rechts und der römischen Jurisprudenz wiederzugeben. Vermutet wird, dass das Werklein aus Gallien stammt.[1] Der Rechtsanspruch folgt den Bedürfnisstrukturen des nachklassischen Rechts in der Spätantike.
Entstehung und Wirkung
Das Werk umfasst zwei Bücher (libri), untergliedert sind sie in acht beziehungsweise elf Titel (tituli).[2] Die Überlieferung erfolgte über die lex Romana Visigothorum, einem bedeutenden Werk der Westgoten aus dem Jahr 506. Das gemeinhin dem Vulgarrecht zugeordnete Werklein besteht aus drastisch simplifizierten[3] Brevieren eines ursprünglich für den Ausbildungslehrbetrieb im 2. Jahrhundert geschaffenen Rechtswerks, den Institutionen, verfasst vom hochklassischen römischen Juristen Gaius. Ähnlich wie die pseudopaulinischen Sentenzen sind die Epitome zwar durch die weströmische Gesetzgebung überliefert, müssen aber als Überarbeitung eines erst im frühen 5. Jahrhundert entstandenen Auszugs daraus verstanden werden.[4][5]
Die entstandenen Paraphrasen sollen zwar von einem Rechtslehrer verfasst worden sein, aber lediglich zur Verwendung im praktischen Rechtsbetrieb.[1] Die Umschreibungen dienten allein der Rechtsaktualisierung, weshalb Überträge und Interpretationen sinngemäß nur dort vorgenommen wurden, wo Notwendigkeit bestand. Der italienische Rechtshistoriker Gian Gualberto Archi soll eine der Umschriften herangezogen haben um sie auf Sinn und Zweck einer nachklassischen Paraphrase für Schulzwecke zu untersuchen. Er ging davon aus, dass die Umschrift in einer Lehranstalt gefertigt worden sein könnte.[6] Etwa zeitgleich entstand, wohl ebenfalls in Gallien, die sogenannte Consultatio veteris cuiusdam iurisconsulti. Sie nahm Bezug auf die Kodizes Gregorianus und Hermogenianus.[7]
Besonderen inhaltlichen Bezug nahm die Epitome auf das Familienrecht. Nachdem bereits der Codex Theodosianus ein umfängliches Inzestverbot ausgesprochen hatte, wurde dieses Verbot zur Verstärkung der Anordnungen im Werklein aufgegriffen. Es lässt sich andererseits nachlesen, dass das Eherecht einige Erleichterungen bot. Beispielsweise war das Verbot der Heirat zwischen Römern und Barbaren[8] aufgehoben worden.[9] Die Epitome Gai fand Einlass in die westgotische lex Romana Visigothorum. Mittelbar beeinflusste sie damit die Rechtsverhältnisse Südwesteuropas bis ins Hochmittelalter.[10]
Siehe auch
Literatur
- Gian Gualberto Archi: L’Epitome Gai. Studio sul tardo diritto Romano in Occidente, Mailand 1937.
- Detlef Liebs: Römisches Recht. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1975 (Uni-Taschenbücher 465), ISBN 3-525-03118-1; Neuauflage: Detlef Liebs: Römisches Recht. Ein Studienbuch. 6. Aufl., Vandenhoeck & Ruprecht u. a., Göttingen 2004 (UTB 465), ISBN 3-525-03141-6.
- Detlef Liebs: Römische Jurisprudenz in Gallien (2. bis 8. Jahrhundert) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge. Band 38). Duncker & Humblot, Berlin 2002, ISBN 978-3-428-10936-4. S. 127–133.
Weblinks
Anmerkungen
- ↑ a b Detlef Liebs: Die Jurisprudenz im spätantiken Italien (260-640 n.Chr.) (= Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 8). Duncker & Humblot, Berlin 1987, S. 175 f.
- ↑ Gaius, iur., Gai Institutionum Epitome (Text in Latein).
- ↑ Beispielfälle von Aktualisierungen (epitomisiert nach Franz Wieacker): Aus der ehrfurchtsvollen Beachtung sakralrechtlicher Leitsätze wie: sacra quorum illis temporibus summa observatio fuit (Gaius 2, 55.) wurde ein einfacher Verweis auf die kirchenrechtliche Institution: ecclesiae id est templa Dei vel ea patrimonia ac substantiae quae ad ecclesiastica iura pertinent (GE 2, 1, 1.); Unter göttlichem Schutz stehende Sachen (res sanctae) wurden zu Renn- oder Kampfplätzen (circus, arena); der verbalvertragliche Stipulations-Begriff mutierte zum Erklärungsinhalt einer Bürgschaft (fideiussio).
- ↑ Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Frankreich ein Kommentar zu den Institutionen gefunden, der sogenannte Gaius von Autun. Vermutet wird, dass er auf der Grundlage der klassischen Originalschrift entstanden war, jedoch sei er dem 4./5. Jahrhundert zuzurechnen.
- ↑ Wolfgang Kunkel, Martin Schermaier: Römische Rechtsgeschichte, 14. Auflage. UTB, Köln/Wien 2005, § 10 (Die Rechtsentwicklung der Spätzeit bis auf Justinian), S. 187–207 (193).
- ↑ Eberhard Friedrich Bruck: Über römisches Recht im Rahmen der Kulturgeschichte, Springer-Verlag 1954, S. 160 ff.
- ↑ Consultatio 1, 6; 2, 6; 9, 14; 15 (Gregorianus) und Consultatio 4, 9 und 6, 19. (Hermogenianus).
- ↑ Der Begriff war von den Griechen in gezielten Zusammenhängen übernommen worden
- ↑ Karl Ubl: Inzestverbot und Gesetzgebung. Die Konstruktion eines Verbrechens (300–1100) (= Millennium-Studien. Bd. 20). de Gruyter, Berlin u. a. 2008, ISBN 978-3-11-020296-0 (Zugleich: Tübingen, Universität, Habilitations-Schrift, 2007), S. 197 f.
- ↑ Franz Wieacker: Römische Rechtsgeschichte. Quellenkunde, Rechtsbildung, Jurisprudenz und Rechtsliteratur. Band 1: Einleitung, Quellenkunde, Frühzeit und Republik. Beck, München 1988 (Handbuch der Altertumswissenschaften: Abteilung 10, Teil 3, Bd. 1), ISBN 3-406-32987-X, S. 246 f.