Curae herbarum

Beginn der Curae herbarum in der Handschrift Leiden B.P.L. 1283.

Curae herbarum ist ein anonym bzw. pseudonym verfasstes lateinisches Kräuterbuch, das während des Übergangs von der Spätantike zum Frühmittelalter entstanden ist. In der handschriftlichen Überlieferung wird es dem griechischen Arzt Pedanios Dioskurides aus dem 1. Jahrhundert zugeschrieben, dessen Arzneimittellehre De materia medica eine Hauptquelle der 64 Pflanzenkapitel ist. Curae herbarum weist Parallelen zum ebenfalls pseudo-dioskuridischen Kräuterbuch Ex herbis femininis auf, darf mit diesem jedoch nicht verwechselt werden.

Hintergrund

Dioskurides verfasste seine umfangreiche Arzneimittellehre De materia medica um das Jahr 70 in seiner Muttersprache Altgriechisch, die im antiken Rom die Gelehrtensprache war. Mit dem Niedergang des (West-)Römischen Reiches in der Spätantike wuchs der Bedarf an lateinischen Übersetzungen der griechischen Fachtexte. Ebenso wurden Exzerpte und Bearbeitungen umfänglicher Werke wie De materia medica oder medizinische Abschnitte aus der Naturalis historia des älteren Plinius in handliche Arzneibücher und Kräuterbücher kompiliert.

Von den frühen lateinischen Dioskurides-Übersetzungen ist lediglich der sogenannte Dioscorides latinus bzw. Dioscorides Langobardus in einigen Handschriften erhalten, darunter die illustrierte, um 950 entstandene Handschrift München BSB Clm 337.[1] Ältere (Teil-)Übersetzungen, womöglich angefertigt von Gargilius Martialis und Caelius Aurelianus, haben sich nur als Bruchstücke erhalten, prominent in den pseudo-dioskuridischen Kräuterbüchern Curae herbarum und Ex herbis femininis, aber auch im Herbarius des Pseudo-Apuleius, im Glossarium Ansileubi (früher: Liber glossarum), in den pseudo-hippokratischen Dynamidia, im pseudo-galenischen Ad Paternianum (auch bekannt als Alphabetum Galeni) sowie wohl indirekt in Buch 17 der Etymologiae des Isidor von Sevilla.[2]

Beschreibung

Der Verfasser sowie Ort und Zeitpunkt der Entstehung des Kräuterbuches sind unbekannt. Die Entstehungszeit kann allerdings grob auf die Jahrzehnte um 500 eingegrenzt werden, da einerseits der Herbarius des Pseudo-Apuleius als Quelle benutzt wird und andererseits Spuren von Curae herbarum bereits in Handschriften aus dem 6. Jahrhundert nachweisbar sind.

Walter Hofstetter postulierte 1983 einen verschollenen Archetyp mit 77 Kapiteln, von denen in den vier bekannten Textzeugen nur zwischen 37 und 44 und insgesamt 63 Kapitel erhalten sind. Anhaltspunkt dafür war die Zählung in der Handschrift Uppsala, die mit Kapitel 32 einsetzt und bis 77 reicht. Dies wird durch 14 Konkordanzen in der Handschrift London untermauert. Arsenio Ferraces-Rodríguez hingegen geht von 64 Kapiteln aus, wobei die ersten 32 Kapitel deutlich von den restlichen unterschieden werden können. Diese 32 Kapitel weisen eine einheitliche Struktur in drei Teilen auf. Einer botanischen Beschreibung folgt der therapeutische Nutzen und schließlich eine Anrufungsformel, die bei der Ernte rezitiert werden soll. Die zweite Hälfte der Kapitel wurde aus verschiedenen Quellen zusammengetragen und enthält fast keine magischen Elemente.[3]

Die Curae herbarum waren eine Quelle für das altenglische Kräuterbuch, das in drei Handschriften aus dem 10. und 11. Jahrhundert erhalten ist. Strittig ist hierbei die Bedeutung der Curae herbarum gegenüber dem verwandten Kräuterbuch Ex herbis femininis, das ebenfalls benutzt wurde. Annalisa Bracciotti setzt die Anteile aus den Curae herbarum deutlich niedriger an als Hofstetter zuvor.[4] Diese Frage lässt sich wohl erst dann endgültig klären, wenn die unbefriedigenden Editionen der beiden pseudo-dioskuridischen Kräuterbücher durch neue ersetzt sind, die von Ferraces-Rodríguez vorbereitet werden.[3]

Kapitel

Die Identifikation der einzelnen Pflanzen ist noch nicht abgeschlossen, da die verwendeten Namen teils mehrdeutig und die Abbildungen stark stilisiert sind. Auch in den Fällen, wo die Quellen aus Dioskurides und Plinius bekannt sind, ist die Identifikation lediglich eine Näherung.

Unter Quelle ist in der Regel das jeweilige Kapitel in De materia medica von Dioskurides nach der Edition von Max Wellmann angegeben, der Vorsatz NH verweist auf die Naturalis historia von Plinius in der zweisprachigen Ausgabe von Roderich König. Die Siglen bezeichnen chronologisch die bekannten Handschriften Uppsala, Lucca, London (Wellcome) und Leiden (Rijksuniversiteit). Für drei der Handschriften gibt es Digitalisate, die bei Vorhandensein des jeweiligen Kapitels direkt verlinkt und bei der Handschrift Lucca mit einem X gekennzeichnet sind. Ein Schrägstrich kennzeichnet, dass das Kapitel in der jeweiligen Handschrift fehlt.

Nr. Name Identifikation Quelle U L W R
1 Licanis stefanotice Kronen-Lichtnelke / X [1] [2]
2 Actionum; Arcion Schneeweißer Alant, Verbascum orientale, Große Klette? IV.106 / X [3] /
3 Abrotanum Artemisia arborescens / X [4] [5]
4 Sion Breitblättriger Merk / X / [6]
5 Dictamnum Diptam-Dost III.32 / X / /
6 Eliotropion masculus Europäische Sonnenwende, Chrozophora tinctoria? IV.190, IV.191 / X / /
7 Spheritis ? / X / /
8 Hippirum Riesen-Schachtelhalm? / X / /
9 Aizos minor Dach-Hauswurz / X / [7]
10 Hedyosmos/Menta Minzen III.34 / X / [8]
11 Elleborum album Weißer Germer IV.148 / X / [9]
12 Tithymallos femina Herbst-Seidelbast, Palisaden-Wolfsmilch? / X / [10]
13 Bufthalmon Färberkamille? / X / [11]
14 Urtica Brennnesseln / X / [12]
15 Tribulos ? / X / [13]
16 Coniza Dürrwurz / X / [14]
17 Vitis alba Rotfrüchtige Zaunrübe IV.182 / X [15] [16]
18 Althea Echter Eibisch III.146 [17] X [18] /
19 Strychnos Schwarzer Nachtschatten [19] X [20] [21]
20 Asfodelos Affodill II.169 [22] X / [23]
21 Chamaeleuce [24] X / [25]
22 Heptafillum Kriechendes Fingerkraut IV.42 [26] X [27] /
23 Vica peruica ? [28] X [29] /
24 Vitis nigra ? [30] X [31] /
25 Sedum; Collum taurinum Sedum, Aeonium arboreum? IV.88 [32] X [33] /
26 Flommos Kleinblütige Königskerze [34] X [35] /
27 Scolymos Spanische Golddistel [36] X [37] /
28 Simfitum Knollen-Beinwell IV.10 [38] / [39] /
29 Achillea Achillea? [40] X [41] [42]
30 Hecios; Echios ? [43] X [44] [45]
31 Glycyriza Süßhölzer [46] X [47] [48]
32 Ipericon Echtes Johanniskraut [49] X [50] [51]
33 Anemone Kronen-Anemone? NH 27.109 [52] X [53] [54]
34 Balloten Schwarznessel NH 27.54, III.103 [55] X [56] [57]
35 Botrys; Brabilla; Bryon marinum Klebriger Drüsengänsefuß, Prunus, Meersalat NH 27.55 f., III.115, IV.98 [58] X [59] [60]
36 Lithospermon Echter Steinsame? NH 27.98 f. [61] X [62] [63]
37 Cynosorchis Schmetterlings-Knabenkraut, Italienisches Knabenkraut? NH 27.65, III.126 [64] X [65] [66]
38 Chrysolachanum Wald-Habichtskraut, Gartenmelde, Echtes Labkraut? NH 27.66 f. [67] X [68] [69]
39 Dipsacos Wilde Karde NH 27.71 [70] X [71] /
40 Verbena/Hiera Echtes Eisenkraut [72] X [73] [74]
41 Colocinthis agria Koloquinte? [75] X [76] [77]
42 Osiris Honigduftender Rutenstrauch NH 27.111, IV.140 [78] X [79] /
43 Phelandrion Großer Wasserfenchel NH 27.126 [80] X [81] /
44 Thlaspi Gargano-Purgierdolde, Gewöhnliches Hirtentäschel? NH 27.139 [82] X [83] /
45 Polypodium Gewöhnlicher Tüpfelfarn NH 26.58 [84] X [85] [86]
46 ? [87] / [88] /
47 Gorgonion [89] / [90] [91]
48 Rosa canina Hundsrose [92] / [93] [94]
49 Stafis agria Stephanskraut [95] / / [96]
50 Bulbus roseus ? [97] / / [98]
51 Viola aurosa Garten-Levkoje, Goldlack, Vogesen-Stiefmütterchen? III.129? [99] / / [100]
52 Viola purpurea Duftveilchen [101] / / /
53 Iris illyrica Deutsche Schwertlilie, Bleiche Schwertlilie I.1 [102] / / [103]
54 Anagallis Acker-Gauchheil II.178 [104] / / /
55 Myosota Scharfkraut? NH 27.105, II.183 [105] / / /
56 Othonna Wind-Brandkraut, Aufrechte Studentenblume, Schöllkraut? NH 27.109, II.182 / / [106] /
57 Crocodileon Stranddistel, Knäulköpfige Distel NH 27.64, III.10 / / [107] /
58 Beotonia Echte Betonie? / / [108] [109]
59 Sclenas ? / / [110] [111]
60 Purpurea ? / / [112] [113]
61 ? / / [114] /
62 ? [115] / [116] /
63 Mirmicos ? [117] / [118] /
64 ?

Handschriften

Lateinische Textzeugen

Stadt Bibliothek Signatur Blätter Zeit Sigle Kapitel Digitalisat
Uppsala Universitetsbibliotek (Carolina) C 664 I pp. 157–175 9. Jahrhundert U 40 [119]
Lucca Biblioteca Statale (olim Biblioteca Governativa) 296 ff. 27v-46v 9./10. Jahrhundert L 44
London Wellcome Library (olim Wellcome Historical Medical Library) 573 ff. 46v-68v 13. Jahrhundert W 41 [120]
Leiden Bibliotheek der Universiteit B.P.L. 1283 ff. 36v-50r 14./15. Jahrhundert R 37 [121]

Altenglische Rezeption

Das altenglische Kräuterbuch wurde aus dem Herbarius des Pseudo-Apuleius sowie den pseudo-dioskuridischen Kräuterbüchern Curae herbarum und Ex herbis femininis kompiliert. Aufgrund der begrenzten Überlieferung der Curae herbarum sind die altenglischen Handschriften auch für die Erforschung der Curae herbarum relevant.

Stadt Bibliothek Signatur Blätter Zeit Bemerkung Digitalisat
London British Library Harley 585 10./11. Jahrhundert
Oxford Bodleian Library Hatton 76 ff. 68–139 11. Jahrhundert
London British Library Cotton Vitellius C. III ff. 11–85 11. Jahrhundert
London British Library Harley 6258B 12. Jahrhundert Fragment, alphabetisch

Edition

  • Sofia Mattei: Curae herbarum. Edizione critica e traduzione. Università degli Studi di Macerata 1996. (ungedruckte Dissertation)

Literatur

  • Walter Hofstetter: Zur lateinischen Quelle des altenglischen Pseudo-Dioskurides. In: Anglia. Band 101, 1983, S. 315–360 (doi:10.1515/angl.1983.1983.101.315)
  • Arsenio Ferraces Rodríguez: El Pseudo-Dioscórides "De herbis femininis", los "Dynamidia" e Isidoro de Sevilla, "Etym." 17, 7-11. In: Manuel Enrique Vázquez Buján (Hrsg.): Tradición e innovación de la medicina latina de la Antigüedad y de la Alta Edad Media. Universidade de Santiago de Compostela, 1994, S. 183–206
  • Arsenio Ferraces Rodríguez: Estudios sobre textos latinos de fitoterapia entre la antigüedad tardía y la alta edad media. Universidade da Coruña, Servicio de Publicacións, 1999.
  • Minta Collins: Medieval Herbals. The Illustrative Traditions. The British Library, London 2000, S. 154–165
  • Annalisa Bracciotti: L'apporto della tradizione indiretta per la costituzione di un testo critico delle Curae herbarum. In: Rivista di cultura classica e medioevale. Band 42, 2000, S. 61–102
  • Annalisa Bracciotti: Nomen herbae selenas. Un passo bilingue delle Curae herbarum. In: Renato Oniga (Hrsg.): Il plurilinguismo nella tradizione letteraria latina. Rom 2003. S. 213–254
  • Arsenio Ferraces Rodríguez: Las «Curae herbarum» y las interpolaciones dioscorideas en el «Herbario» del Pseudo-Apuleyo. In: Euphrosyne. Band 32, 2004, S. 223–240 (doi:10.1484/J.EUPHR.5.125547)
  • Arsenio Ferraces Rodríguez: Problemas de edición y límites en la enmienda de recetarios de tradición difusael "De herbis femininis y las Curae herbarum". In: Ders. (Hrsg.): Fito-zooterapia antigua y altomedieval: textos y doctrinas. Universidade da Coruña, 2009, S. 61–78
  • Arsenio Ferraces Rodríguez: Restituyendo el texto de las "Curae herbarum": tres notas al capítulo "Nomen herbae selenas" (con nueva edición y traducción). In: Maia: Rivista di letterature classiche. Band 62, Heft 1, 2010, S. 67–78
  • Iolanda Ventura: Auf der Suche nach einem Phantom. In: Romance Philology. Band 71, 2017, S. 697–728 (doi:10.1484/J.RPH.5.114792)
  • Arsenio Ferraces Rodríguez: De la 'precatio Terrae' y la 'precatio omnium herbarum' a un texto inacabadolas 'precationes herbarum' de un rectario médico tardoantiguo: In: Acta classica Universitatis Scientiarum Debreceniensis. Band 57, 2021, S. 167–192 (doi:10.22315/ACD/2021/10)

Anmerkungen

  1. Dioskurides, Materia medica - BSB Clm 337.
  2. Arsenio Ferraces Rodríguez: El Pseudo-Dioscórides "De herbis femininis", los "Dynamidia" e Isidoro de Sevilla, "Etym." 17, 7-11. In: Manuel Enrique Vázquez Buján (Hrsg.): Tradición e innovación de la medicina latina de la Antigüedad y de la Alta Edad Media. Universidade de Santiago de Compostela, 1994, S. 183–206; Klaus-Dietrich Fischer: Panorama der Editionsaufgaben im Bereich der lateinischen medizinischen Texte. In: Gerd Haverling: On medical Latin in late antiquity. Uppsala University Library, 2019, S. 1–25.
  3. a b Arsenio Ferraces-Rodríguez: Problemas de edición y límites en la enmienda de recetarios de tradición difusael "De herbis femininis y las Curae herbarum". In: Ders. (Hrsg.): Fito-zooterapia antigua y altomedieval: textos y doctrinas. Universidade da Coruña, 2009, S. 61–78; Arsenio Ferraces Rodríguez: De la 'precatio Terrae' y la 'precatio omnium herbarum' a un texto inacabadolas 'precationes herbarum' de un rectario médico tardoantiguo: In: Acta classica Universitatis Scientiarum Debreceniensis, Band 57, 2021, S. 167–192 (doi:10.22315/ACD/2021/10)
  4. Annalisa Bracciotti: Nomen herbae selenas. Un passo bilingue delle Curae herbarum. In: Renato Oniga (Hrsg.): Il plurilinguismo nella tradizione letteraria latina. Rom 2003, S. 213–254