Wolgadeutsche



Wolgadeutsche (russisch Поволжские немцы oder немцы Поволжья, wiss. Transliteration Povolžskije nemcy / nemcy Povolž'ja) sind Nachkommen deutscher Einwanderer, die im Russischen Reich unter der Regierung Katharinas der Großen an der unteren Wolga ansässig wurden. In der Gesamtzahl der Russlanddeutschen bilden sie einen Anteil von einem Viertel. Das Zentrum der Wolgadeutschen war die Stadt Pokrowsk (seit 1931 Engels). Zwischen 1924 und 1941 waren sie innerhalb der Sowjetunion in der Wolgadeutschen Republik organisiert.
Geschichte

Die Siedler, die überwiegend aus Bayern, Baden, Hessen, der Pfalz und dem Rheinland kamen, folgten in den Jahren 1763 bis 1767 der Einladung der deutschstämmigen Zarin Katharina II. in ihr neues Siedlungsgebiet, wo sie 104 Dörfer gründeten. Sie wurden angeworben, um die Steppengebiete an der Wolga zu kultivieren und die Überfälle der Reitervölker aus den Nachbargebieten einzudämmen. Mit der Zeit entwickelten sie in dieser Region eine blühende Agrarwirtschaft mit Exporten in andere Regionen Russlands.
Im russischen Reich erhielten die deutschen Siedler einen politischen Sonderstatus, der das Recht auf Beibehaltung des Deutschen als Verwaltungssprache, auf Selbstverwaltung sowie auf Befreiung vom Militärdienst umfasste. Diese Selbstbestimmungsrechte wurden 1871 durch Zar Alexander II. eingeschränkt und 1874 ganz aufgehoben, was zu einer Auswanderungswelle in die USA, Kanada, Brasilien und Argentinien (z. B. nach Provinz Entre Ríos, Zentrum und Südwesten der Provinz Buenos Aires, Provinz La Pampa) führte.
Am 19. Oktober 1918[1] entstand im heutigen Saratow/Wolgograd die Arbeitskommune der Wolgadeutschen. Es war das erste radikal sozialistische deutschsprachige Gemeinwesen.[2] Einschränkungen und Repressalien erfolgten bereits kurz nach Gründung der Sowjetunion, als Lenin den Wolgadeutschen die gesamte Getreideernte abnahm und ins Ausland verkaufte. Tausende von Wolgadeutschen starben 1921/22 infolge der dadurch verursachten Hungersnot.
1924 wurde die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen geschaffen, nachdem das Gebiet bereits nach der Oktoberrevolution ab 1918 Autonomie erlangt hatte.
Die Wolgadeutsche Republik, die 1941 aufgelöst wurde, hatte etwa 600.000 Einwohner, wovon etwa zwei Drittel deutscher Abstammung waren.

Nach dem Angriff des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion im Juni 1941 (Zweiter Weltkrieg) ließ Stalin das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR am 28. August 1941 den Erlass „Über die Umsiedlung der im Wolgagebiet ansässigen Deutschen“ beschließen.[3] Die etwa 400.000 verbliebenen Wolgadeutschen wurden der kollektiven Kollaboration beschuldigt, nach Sibirien und Zentralasien deportiert und dort in Arbeitslager der „Arbeitsarmee“ (Трудармия) gezwungen, wobei Tausende starben. Die meisten Russlanddeutschen (Männer und Frauen) wurden in der Zeit zwischen Oktober 1942 und Dezember 1943 „einberufen“. Nach der Deportation der Bevölkerung nach Sibirien und Kasachstan unterlagen die Wolgadeutschen dem sogenannten Sondersiedler-Status. Dieser bedeutete unter anderem Reisebeschränkungen, Meldepflichten und den Ausschluss von privilegierten Tätigkeiten. Auch der Zugang zu weiterführender und insbesondere universitärer Bildung war in dieser Phase erheblich eingeschränkt. Jugendliche, die in den 1930er-Jahren geboren waren und in den 1950er-Jahren das studienfähige Alter erreichten, hatten faktisch keine Möglichkeit, ein Hochschulstudium aufzunehmen.[4]
Mit dem Erlass vom 13. Dezember 1955 wurde der Sonderstatus offiziell aufgehoben, wenngleich ein Rückkehrrecht in die früheren Siedlungsgebiete an der Wolga weiterhin nicht gewährt wurde.[5] Erst ab Mitte der 1950er-Jahre verbesserte sich damit auch der Zugang zu höherer Bildung. Jahrgänge, die in den 1940er-Jahren geboren waren und ihr Studienalter in den 1960er-Jahren erreichten, konnten unter den neuen Bedingungen in der Regel wieder an Universitäten immatrikuliert werden – wenn auch unter fortbestehender Diskriminierung und häufig mit geographischen Einschränkungen.[6] Die „Generationengrenze“ verlief somit faktisch zwischen denjenigen, die ihr Studienalter vor 1955 erreichten (meist ausgeschlossen), und den nachfolgenden Jahrgängen, die erst nach Aufhebung des Sonderstatus in die Hochschulbildung eintraten. Wolgadeutsche, die ab den 1950er- und 1960er-Jahren studierten, waren in der Spätphase der Sowjetunion überdurchschnittlich häufig in technischen, medizinischen und pädagogischen Berufen vertreten.[7]
Erst 1964 wurden die Wolgadeutschen – mit Einschränkungen – offiziell vom Vorwurf der Kollaboration befreit.[8] (1964 endete die Ära Chruschtschow, die 1953 nach Stalins Tod begonnen hatte. Die Tauwetter-Periode währte von etwa 1956 bis 1964.) Die Reisefreiheit von 1972 erlaubte eine Rückkehr an die Wolga aber explizit nicht in die vor der Deportation bewohnte Siedlung. Erst beim Zerfall des Sozialismus wurde das möglich.[9]
Die Bundesrepublik Deutschland ermöglichte den Wolgadeutschen seit den 1970er Jahren die Einreise und die Einbürgerung (siehe auch Bundesvertriebenengesetz). In Sibirien lebten im Jahre 2002 noch ca. 600.000 ethnische Deutsche, von denen viele Sibiriendeutsch als ihre Muttersprache angeben. Laut dem allrussischen Zensus von 2010 lebten in Russland ca. 400.000 ethnische Deutsche (34 Prozent weniger als im Jahr 2002)[10], darunter Russlandmennoniten. Das sogenannte Wolgadeutsch ist eine Mischung aus der Hochsprache und deutschen Dialekten.
Die Wolgadeutsche Sprache
Die Sprache der Wolgadeutschen ist kein einheitlicher Dialekt, sondern ein Dialektbund, der sich aus den Herkunftsgebieten der Siedler im 18. Jahrhundert speiste. Die meisten Kolonisten stammten aus Hessen, dem Rheinland, Württemberg, Baden und der Pfalz. Entsprechend dominierte ein rheinfränkisch-hessischer Kern, der sich mit pfälzischen, schwäbischen und niederdeutschen Elementen vermischte.[11]
Im 19. Jahrhundert entwickelten die Wolgadeutschen eigene Siedlungsdialekte, die relativ stabil blieben, da die Dörfer stark abgeschottet waren und die Heirat vor allem innerhalb der Kolonien stattfand. Der Kontakt zur russischen Sprache blieb lange begrenzt, bis im späten 19. Jahrhundert Russifizierungspolitiken griffen.
In der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (1918–1941) wurde Deutsch als Amtssprache verwendet. Schulen, Zeitungen, Theater und sogar Hochschulen funktionierten auf Deutsch, teilweise mit vereinheitlichter Schriftsprache, die sich am Standardhochdeutschen orientierte.[12]
Mit der Deportation 1941 endete diese Phase abrupt. Die meisten Wolgadeutschen in Sibirien und Kasachstan mussten ihre Dialekte im Alltag weitgehend aufgeben. Kinder lernten nun Russisch als Schulsprache. Das führte zur starken Russifizierung. Seit den 1960er-Jahren galt Deutsch in der Sowjetunion offiziell als „Sprache der faschistischen Besatzer“, was den sozialen Druck zur Assimilation verstärkte.[13]
Mit der Aussiedlung nach Deutschland ab den 1980er/90er-Jahren erlebten die Dialekte der Wolgadeutschen ein ambivalentes Schicksal. Während ältere Generationen weiterhin ihre Varianten (z. B. Wolgahessisch, Wolgapfälzisch) pflegten, verloren die jüngeren Generationen die Dialekte oft zugunsten des Standarddeutschen oder waren bereits im Russischen sozialisiert. Linguistisch dokumentiert wurden die Dialekte unter anderem im „Wörterbuch der deutschen Mundarten in Russland“ von Wiktor Schirmunski und Nachfolgern.[14] Heute wird die wolgadeutsche Sprache nur noch in kleinen Gemeinschaften gesprochen, hauptsächlich von älteren Menschen in Deutschland, Kasachstan, Kanada und den USA. In der Linguistik gelten sie als Beispiel für Kontakt- und Inselmundarten, die durch Absonderung einerseits konservativ blieben, andererseits russische und später auch englische Lehnwörter integrierten.
Bekannte Wolgadeutsche
Bekannte Wolgadeutsche sind:
- Philip Anschutz (* 1939), US-amerikanischer Unternehmer und Milliardär
- Sergio Denis, argentinischer Sänger
- Georg Dinges (1891–1932), deutsch-sowjetischer Gelehrter, Linguist und Ethnograph
- Andreas Dulson (1900–1973), deutsch-sowjetischer Sprachwissenschaftler, Dialektologe, Ethnograph
- Andre Geim (* 1958), russischstämmiger niederländisch-britischer Physiker und Nobelpreisträger des Jahres 2010.
- Stanislav Güntner (* 1977), deutscher Regisseur des Kinofilms Nemez
- Jakob Hamm, ehemaliger Direktor einer Organisation zur Errichtung von Einrichtungen für deutsche Aussiedler in der Oblast Uljanowsk und Geschäftsmann
- Gabriel Heinze (* 1978), ehemaliger argentinischer Fußballspieler (wolgadeutsche Wurzeln väterlicherseits)
- Natty Hollmann (* 1938), argentinische Menschenrechtsaktivistin
- Dominik Hollmann (1899–1990), russlanddeutscher Dichter und Schriftsteller
- Josef Alois Kessler (1862–1933), russlanddeutscher Geistlicher, Titularerzbischof von Bosporus, gilt als letzter wolgadeutscher Bischof
- Cristina Fernández de Kirchner (* 1953), ehemalige Präsidentin Argentiniens (wolgadeutsche Wurzeln mütterlicherseits)
- Robert Korn, Historiker, Schriftsteller, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V.
- Andreas Kramer, Dichter und Schriftsteller
- Anastassia Lauterbach (* 1972), russisch-deutsche Managerin
- August Lonsinger (1881–1953), deutsch-russischer Schriftsteller, Redakteur und Pädagoge
- Erika Müller-Hennig (1908–1985), deutsche Schriftstellerin
- Bernhard Ludwig von Platen (1733–1774), erster wolgadeutscher Dichter
- Igor Plewe (* 1958), deutsch-russischer Historiker, Politiker
- Wladimir Propp (1895–1970), russischer Folklorist
- Paul Rau (1897–1930), deutsch-russischer Archäologe und Volkskundler
- Boris Rauschenbach (1915–2001), russischer Physiker und Begründer der sowjetischen Raumfahrt
- Bruno Reiter (1941–2019), Politiker und Gelehrter, Biologe
- Eduard Rossel (* 1937), russischer Politiker
- Alfred Schnittke (1934–1998), russisch-deutscher Komponist und Pianist
- Viktor Schnittke (1937–1994), russisch-deutscher Dichter, Schriftsteller und Übersetzer
- Tanja Szewczenko (* 1977), deutsche Eiskunstläuferin, Schauspielerin, (hat eine russlanddeutsche Mutter)
- Carl Ferdinand von Wahlberg, Arzt, Schriftsteller
- Hugo Wormsbecher (1938–2024), deutsch-russischer Schriftsteller und Sprecher der Russlanddeutschen in Russland
Siehe auch
- Deutschsprachige Minderheiten
- Aussiedler und Spätaussiedler
- Landsmannschaft der Deutschen aus Russland
Literatur
- Arkadi German, Die Republik der Wolgadeutschen, BKDR Verlag (www.bkdr.de), Nürnberg 2021, ISBN 978-3-948589-17-2, 504 S. (aus dem Russischen von Christine Hengevoß, Originaltitel: Республика немцев поволжья, Саратов 1994).
- August Lonsinger, Hrsg. v. Viktor Herdt: Sachliche Volkskunde der Wolgadeutschen. Siedlung – Obdach – Nahrung – Kleidung. BAG-Verlag, Remshalden, 2004, ISBN 978-3-935383-23-3.
- Michael Schippan, Sonja Striegnitz: Wolgadeutsche. Geschichte und Gegenwart. Dietz Verlag, Berlin 1992 (mit Karten, Dokumentenanhang), ISBN 978-3-320-01770-5.
- Olga Litzenberger, Historisches Ortslexikon der Wolgadeutschen, Band 1, A-B, BKDR Verlag (www.bkdr.de), Nürnberg 2021, ISBN 978-3-948589-21-9, 348 S.
- Viktor Diesendorf: Wörterbuch der wolgadeutschen Marxstädter Mundart. Saratow, 2015. - 602, ISBN 978-5-91879-552-1 (Band 1) und ISBN 978-5-91879-553-8 (Band 2).
- Viktor Krieger, Rotes deutsches Wolgaland, BKDR Verlag (www.bkdr.de), Nürnberg 2020, 114 S., ISBN 978-3-948589-02-8.
- Der Wermutstannenbaum von Maria Fitz [1]
Weblinks
- Über unsere Mundarten – wolgadeutsche Mundarten, mit Karten
- Die Geschichte der Wolgadeutschen (deutsch, russisch)
- RDGL – Russlanddeutsche Geschichtsliteratur
- Sebastian Bauer (Die Geschichte der Wolgadeutschen) – historischer Roman von Wilhelm Brungardt
- Detaillierte Karte der deutschsprachigen Siedlungen
Anmerkungen
- ↑ https://de.rbth.com/geschichte/87234-assr-wolgadeutschen-geschaffen-liquidiert
- ↑ https://www.bpb.de/themen/migration-integration/russlanddeutsche/277343/vor-100-jahren-gruendung-der-arbeitskommune-der-wolgadeutschen
- ↑ Lydia Klötzel: Die Rußlanddeutschen zwischen Autonomie und Auswanderung. Die Geschicke einer nationalen Minderheit vor dem Hintergrund des wechselhaften deutsch-sowjetischen/russischen Verhältnisses. Lit, Münster 1999, ISBN 3-8258-3665-7, S. 123.
- ↑ Vgl. Alfred Eisfeld: Die Russlanddeutschen. Vom Spätsiedler zum Aussiedler. München 1992, S. 143 f.
- ↑ Alexander M. Bayer: Rehabilitation und Erinnerungspolitik in der Sowjetunion. Zur Geschichte der Russlanddeutschen nach 1945. Essen 1996, S. 88–92.
- ↑ Jürgen H. Peters: Die Russlanddeutschen. Integration und Identität. Stuttgart 1987, S. 201–204.
- ↑ Victor Krieger: Heimat an der Wolga? Deutsche Siedlungen und ihre Nachwirkungen in der Sowjetunion. München 2002, S. 257–261.
- ↑ Georg Geilke: „Rehabilitierung“ der Wolgadeutschen? In: Jahrbuch für Ostrecht, Jg. 6 (1965), S. 35–59.
- ↑ https://de.rbth.com/lifestyle/85876-wie-leben-russlanddeutsche-heute-wolga
- ↑ День в истории: ликвидация АССР немцев Поволжья, начало депортации поволжских немцев в Сибирь и Казахстан. 28. August 2019, abgerufen am 28. Mai 2020 (russisch).
- ↑ Dietmar Neutatz: Die Wolgadeutschen. München 2002, S. 56–60.
- ↑ Jürgen H. Peters: Die Russlanddeutschen. Integration und Identität. Stuttgart 1987, S. 144–148.
- ↑ Alfred Eisfeld: Die Russlanddeutschen. Vom Spätsiedler zum Aussiedler. München 1992, S. 211.
- ↑ Viktor Schirmunski: Deutsche Mundarten in der Sowjetunion. Moskau/Leningrad 1930.