Wolfgang Hartje
Wolfgang Hartje (* 30. Juni 1940 in Baden-Baden; † 14. April 2020 in München) war ein deutscher klinischer Neuropsychologe und emeritierter Professor der Universität Bielefeld.[1]
Leben
Nach seinem Abitur am Markgraf-Ludwig-Gymnasium Baden-Baden und einem anschließenden Berufspraktikum bei Mercedes-Benz, studierte er 1961 zunächst Maschinenbau und Physik an der Technischen Universität Karlsruhe. Noch während des ersten Semesters entschied er sich, ein Psychologiestudium an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg aufzunehmen 1966 legte er hier sein Diplom ab, einer seiner akademischen Lehrer war bei Robert Heiß. Danach erhielt er eine Stelle in der Arbeitsgruppe von Klaus Poeck am Universitätsklinikum in Freiburg. Mit Poeck wechselte er an die Medizinische Fakultät der RWTH Aachen. In Aachen etablierte er im Anschluss an seine Promotion 1969 (Dissertationsthema: Blickzuwendung und Farbwahl. Eine experimentelle Untersuchung zum Wahlvorgang beim Farbpyramidentest) die Klinische Neuropsychologie maßgeblich mit. 1972 war er zu einem Forschungsaufenthalt am Institute of Psychiatry in London eingeladen. Die Habilitation legte er 1978 an der Medizinischen Fakultät der RWTH Aachen ab und bekam dort 1981 eine C3-Professur für Neuropsychologie. 1992 erhielt er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Klinische Neuropsychologie an der Universität Bielefeld, den zuvor George Ettlinger innehatte. Hier arbeitete er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2006. Auch danach hat er sich wissenschaftlich betätigt, vor allem mit der Neuauflage neuropsychologischer Tests, insbesondere dem Diagnosticum für Cerebralschädigung (DCS II) und dem Verbalen Gedächtnistest (VGT), mit Hendrik Niemann hat er weitere Studien zur Fahreignung veröffentlicht.
Werk
Er interessierte sich sehr früh für den Schnittbereich zwischen Neurologie und der Psychologie. Nach schweren neurologischen Beeinträchtigungen des Gehirns (wie u. a. nach Schlaganfällen, Traumata, Tumoren oder entzündlichen Erkrankungen) war zu beobachten, dass Patientinnen oder Patienten teils spezifische (neuro-)psychologische Ausfälle aufwiesen, die durch gezielte Testungen quantifizierbar wurden. Sein zentrales Forschungsinteresse lag darin, durch eine genaue neuropsychologische Diagnostik die betroffenen Funktionen sowohl zu charakterisieren als auch durch gezielte und intensive neuropsychologische Trainings, „verlorene“ Funktionen (z. B. von Sprache, Aufmerksamkeit, Gedächtnis) zu reaktivieren und damit den Patientinnen und Patienten eine Rückkehr in den Alltag zu ermöglichen. Er war maßgeblich an der Entwicklung neuropsychologischer Testverfahren zur Fähigkeitseinschätzung nach Hirnschädigungen beteiligt, u. a. bei Aphasie, Neglect, Amnesie, Exekutivfunktionen oder Dyskalkulie. Zudem erkannte er, dass die Methode der funktionellen transkraniellen Dopplersonographie (fTCD) eine einfache Möglichkeit zur nicht-invasiven Bestimmung der sprachlichen oder räumlichen Hemisphärendominanz ist.
Daneben ist es ihm bei Fragen der Begutachtung der Fahreignung gelungen, sowohl empirische und evidenzbasierte Befunde als auch die Lebensrealität der Patienten im Blick zu behalten. Er hat dabei auf die Grenzen der neuropsychologischen Diagnostik hingewiesen und im Sinne der Psychologie die Bedeutung der Verhaltensbeobachtung im Rahmen von Fahrverhaltensproben betont. Er war der Erste, der nachweisen konnte, dass Aphasien nicht per se die Fahreignung infrage stellen. Die Themen „Fahreignungsprüfung bei neurologischen Erkrankungen“ und „Neuropsychologische Gutachtenerstellung“ hat er auch nach seiner Emeritierung im Jahr 2006 weiter verfolgt.
Ehrungen/Positionen
- 2006: Ehrenmitgliedschaft der GNP[2]
- 1990: Gründungsherausgeber der Zeitschrift für Neuropsychologie
- 1986: Mitbegründer der Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) e.V.
Privates
1986 heirate er die Allgemeinärztin Barbara Turczynski-Hartje; der Sohn Jan kam 1968 zur Welt. Wolfgang Hartje ist in München verstorben, wo er seit 2006 gemeinsam mit seiner Frau lebte.
Publikationen (Auswahl)
- Monografien
- Mit Hendrik Niemann: Fahreignung bei neurologischen Erkrankungen (Fortschritte der Neuropsychologie). Hogrefe Verlag, Göttingen 2015, ISBN 978-3-8017-2644-7.
- Mit Sigrid Weidlich; Amin Derouiche: Diagnosticum für Cerebralschädigung - II: DCS-II; ein figuraler visueller Lern- und Gedächtnistest nach F. Hillers. Huber Verlag, Bern 2011.
- Mit Klaus Poeck: Klinische Neuropsychologie (6. Auflage). Thieme, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-13-624506-4.
- Japanische Ausgabe: Mit Yaku Hadano Kazuo; Murai Toshiya: Rinshō-shinkei-shinrigaku. Bunkōdō Verlag, Tōkyō 2004.
- Mit Hans-Otto Karnath; Wolfram Ziegler: Kognitive Neurologie. Thieme, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-13-136521-7.
- Neuropsychologische Begutachtung (Fortschritte der Neuropsychologie). Hogrefe Verlag, Göttingen 2004, ISBN 978-3-8017-1667-7.
- Entwicklung und Erprobung einer Testbatterie zur neuropsychologischen Diagnostik hirnorganisch bedingter Leistungsstörungen. Techn. Hochschule Aachen, Med. Fak., Habil.-Schr., 1978.
- Blickzuwendung und Farbwahl: Eine experimentelle Unterschung zum Wahlvorgang beim Farbpyramiden-Test. Universität Verlag, Freiburg i. B., Diss. an der Phil. F. der Universität Freiburg i. B., 1969.
- Zeitschriftenartikel/Buchbeiträge
- Mit Hendrik Niemann: Verkehrsverhalten und Unfallrisiko nach Hirnschädigung: Follow-up nach einem Jahr. In: Zeitschrift für Neuropsychologie, 2015, 26 (4), S. 225–237.
- Zur Entwicklung der kognitiven Neurowissenschaften. In: H.-O. Karnath; P. Thier (Hrsg.): Kognitive Neurowissenschaften. Springer, Berlin 2012, ISBN 978-3-642-25526-7.
- Mit H. Niemann: Neurokognitive Funktionen und Fahreignung. In: Zeitschrift für Epileptologie, 2007, 20, S. 184–196.
- Mit Thomas Beblo; Cornelia Macek; Ina Brinkers; Peter Klaver: A New Approach in Clinical Neuropsychology to the Assessment of Spatial Working Memory: The Block Suppression Test. In: Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology, 2004, 26 (1), S. 105–14.
- Mit Silke Lux; M. Kurthen; Christoph Helmstaedter; Christian E. Elger: The localizing value of ictal consciousness and its constituent functions: A video-EEG study in patients with focal epilepsy. In: Brain 2003, 125 (Pt 12), S. 2691–2698.
- Mit W. Sturm; K. Willmes; B. Orgass: Do Specific Attention Deficits Need Specific Training? In: Andrea Redbrake: Neuropsychological Rehabilitation, 1997, 7 (2), S. 81–103.
- Mit Naoyasu Motomura; Klaus Willmes; Andrea Redbrake: Sensorimotor Learning in Ideomotor Apraxia. In: Perceptual and Motor Skills, 1995, 81 (3) suppl.
Weblinks
- Literatur von und über Wolfgang Hartje im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Hartje, Wolfgang auf Deutsche Biographie, abgerufen am 5. September 2025.
- Sören Krach: Wolfgang Hartje – Ein Nachruf in Zeitschrift für Neuropsychologie, 2020, 31 (3), S. 98–103.
- Wolfgang Hartje auf Research Gate, abgerufen am 5. September 2025.