Wakenitzmauer 1

Wakenitzmauer 1 (2025)
Gesamtansicht von Norden, links Kanalstr., rechts Wakenitzmauer (2025)

Das Gebäude Wakenitzmauer 1 an der nordöstlichen Ecke der Lübecker Altstadt wurde 1908 nach Plänen von Erich Blunck als backsteinsichtiges kombiniertes Restaurant- und Wohngebäude im Stil der Heimatschutzarchitektur errichtet. Es reicht bis zur Kanalstraße und hat dort die Adresse Kanalstraße 2. Der Komplex steht unter Denkmalschutz.

Städtebauliche Voraussetzungen

Mit dem Bau des Elbe-Lübeck-Kanals änderte sich die städtbauliche Sitation an der Nordostecke der Lübecker Altstadt grundlegend. Vor dem Burgtor überspannte nun die Burgtorbrücke den Durchstich des Kanals. Die Gebäude zwischen dem Burgtor und der Brücke wurden entweder während des Kanalbaus oder kurz danach bis 1908 abgebrochen. Östlich des Burgtors stand das längste erhaltene Stück der mittelalterlichen Stadtmauer mit dem Kaiserturm und dem Schafferturm nun frei an exponierter Stelle über dem Kanal.

Die Wakenitz verschwand an der Ostseite der Altstadt zugunsten des schmaleren Kanals mit seinen befestigten Kai-Ufern. Der durch Aufschüttung gewonnene neue Landstreifen zwischen Wakenitzmauer und Kanal wurde durch eine durchgehende Straße erschlossen, die 1901 den bis heute gültigen Namen Kanalstraße erhielt.

Das Tivoli

Seit dem Mittelalter war hier die Schafferei, die Wohnung des Ratsschenks. Dieser hatte das Recht zum Bierausschank, woraus sich ein beliebtes Lokal entwickelte. Ab 1801 verpachtete der Rat Haus und Lokal.[1] Hier fand die Gründungsversammlung des Ärztlicher Verein zu Lübeck statt[2], und auch die Lübecker Freimaurerlogen nutzten es vor dem Bau eigener Logenhäuser für ihre Versammlungen.[3] Unter dem Namen Tivoli betrieb hier der Pächter Hörner seit 1837 ein beliebtes Sommertheater mit großer Gartenwirtschaft - eines der ältesten Sommertheater in Deutschland. 1840 konnte er Haus und Gelände von der Stadt käuflich erwerben. Der Garten, so ein Zeitgnosse, „liegt höchst einladend an der blauäugigen Wackniz und ist für ein Sommertheater geräumig genug.“ Man konnte sich die die Vorstellungen „gemächlich und beim Seidel Bier und der Cigarre mit ansehen“.[4] 1860 übernahm Leopold Riel (1829–1872)[5] das erfolgreiche Etablissement von der Witwe Hörner. Er konnte 1862 das Grundstück der ehemaligen Bleiche an der Südseite hinzuerwerben und erbaute 1865 ein neues, größeres Bühnenhaus.[6] Gleichzeitig wurde der Garten erweitert und erhielt eine Beleuchtung durch Gas-Fackeln. In dieser Zeit hatte das volkstümliche Boulevard-Theater insgesamt 1800 Plätze. Besuche dort prägten Heinrich Mann und Thomas Mann in jungen Jahren. Sie fanden ein Echo in den Buddenbrooks, wo Christian Buddenbrook am hellichten Tag mit der vom Tivoli gesehen wird.[7] Das gesamte Tivoli fiel 1893 dem Kanalbau zum Opfer.

Zur Neubebauung dieses Burgtorzingels nach dem Kanalbau schrieb die Stadt 1904/05 einen Wettbewerb aus. Die Aufgabe war, „für die Bebauung eines größeren Baublocks im Anschluß an die Reste der alten Stadtmauer, die zu beiden Seiten des Burgtores die Stadt abschließt, eine günstige Form zu finden, die auf die Erscheinung der alten Bauten genügende Rücksicht nimmt.“[8] Der Baublock zwischen der Kanalstraße und der Straße Wakenitzmauer berührt mit seiner äußersten Spitze den Eckturm der Stadtmauer, von dem aus die jetzt nicht mehr bestehende Befestigungsanlage an der früheren Wakenitz, dem heutigen Kanalhafen, entlang weiterführte. Neben diesem Turm wurde 1903 ein Durchbruch der alten Mauer geschaffen, um die Straße Wakenitzmauer durch den ehemaligen Brauergarten zur Burgtorbrücke hinaufzuführen. Seit 1952 zählt dieses kurze Teilstück nicht mehr zur Wakenitzmauer, sondern ist als Ida-Boy-Ed-Garten eine eigenständige Straße. Die Durchbruchsöffnung war „in schlichten, einfachen Formen hergestellt worden, um sie in ihrer Bedeutung als etwas Neues zu kennzeichnen“.[8]

Es sollte ein Gastwirtschaftsgebäude mit Wohnhaus entstehen. Die Mauer des Eckturms konnte zum Bau des anstoßenden Hauses benutzt werden und auch die sonstigen Bauten sollen in unmittelbarer Nähe der Stadtmauer erstehen. Eine „ungünstige Beeinflussung des Bildes der alten Bauten“ sollte vermieden werden.[8] In der Ausschreibung war ein Entwurf für das Haus am Turm in Grundriss und Aufbau verlangt, sowie für die Gestaltung des anschließenden Eckhauses an der Kanalstraße, und ein skizzenhafter Entwurf für die Gesamtgestaltung der Häuser am Kanalhafen.

Wegen „seiner örtlichen Eigenart“ war der Wettbewerb auf in Lübeck wohnhafte und aus Lübeck stammende Architekten beschränkt. Es gingen 14 Entwürfe ein. Der Entwurf des Landbauinspektors Erich Blunck in Nikolassee bei Berlin erhielt den ersten Preis von 1600 Mark, während zwei gleiche weitere Preise in Höhe von jeweils 800 Mark an die Architekten Glogner & Vermehren in Lübeck und den Regierungsbauführer Oskar Eggeling in Charlottenburg (zuvor in Lübeck) gingen. Blunck erhielt den Auftrag zur Ausführung der Gebäude an der Stadtmauer, Eggeling für die Häuser an der Kanalstraße.[8] Bei der Ausführung beteiligte Blunck, dessen Entwurfszeichungen im Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin erhalten sind[9], Willy Glogner als Architekten vor Ort.[10]

Baubeschreibung

Blick von Nordwesten (2025)

Die Gutachter empfanden den Entwurf von Erich Blunck für das Mehrfamilienwohnhaus am Burgtor, Lübeck. Mit Bierlokal, Biergarten, Kegelbahn etc. als „eine vorzügliche Lösung sowohl des Grundrisses wie des Aufbaues“.[8] Er schuf eine malerische Baugruppe, wobei er barocke Formen der Lübecker Backsteinarchitektur aufnahm. Der bis in etwa 8 Meter Höher ehaltene mittelalterliche Schafferturm wurde in den Neubau einbezogen, „ohne dabei sein Gepräge als alter Teil der Befestigung zu verlieren.“ Durch einen eingezogenen Ring wurde der neue Dachaufbau vom alten Turmmauerwerk getrennt.[8]

Blunck schuf einen gewinkelten Backsteinbau unter mit Biberschwanzdeckung versehenem gewinkeltem Steildach mit Fledermausgauben. Durch die Hanglage ist das Gebäude zur Wakenitzmauer hin dreigeschossig, zur Kanalstraße hin viergeschossig ausgeführt. Der Giebel zeigt ein barockisierendes Rollornament an den Ecken.[11]

Blick vom Kanal (2025)
Ostgiebel zur Kanalstraße (2025)

An den Schafferturm, in den das Treppenhaus und Toiletten eingebaut wurden, schließt sich östlich leicht eingezogen ein flügelartiger, lang gestreckter Hausteil mit vorgelagerter Terrasse an. Im Untergeschoss war eine Kegelbahn unter der Terrasse; im Erdgeschoss befand sich der Restaurant-Saal mit Übergang zur Terrasse. Die Nordfassade war gegliedert durch verschieden breit Fensterachsen; die großen Rundbogenfenster des ehemaligen Restaurants im Erdgeschoss sind im oberen Teil kleinteilig geschwungen versprosst. Hier befindet sich auch das ehemalige Restaurantportal. Die Terrasse war nach Nordosten hin abgeschlossen durch einen ehemals offenen Pavillon und eine Treppenanlage zur Kanalstraße. Der Pavillon wurde später geschlossen, nach Westen hin verlängert und zu Wohnzwecken umgebaut. Der zur Kanalstraße hin ursprünglich angelegte Garten wurde später durch eine Garagenanlage zerstört. Die Ostfassade ist mit einen angedeuteten Mittelrisalit bis zum zweiten Obergeschoss gegliedert. In der Beletage markiert ein Erker unter Kupferdach die einstige Wohnung des Wirtes. Den oberen Abschluss bildet ein doppelt geschweifter Volutengiebel. Zum südlich anschließenden Nachbarhaus gab es einen engen Lichthof mit einer schlichten verputzten Fassade.

Die Wohnungen in den Obergeschossen waren großzügig geschnitten. Der einzige Bauschmuck waren zwei schmiedeiserne Maueranker mit der Jahreszahl 1908 an den beiden Giebeln, die in schlechtem Zustand erhalten sind, sowie eine nicht erhaltene Wetterfahne.[12]

Geschichte

Der Komplex, der den Namen Burgtorterrasse erhielt, galt lange architektonisch als modellhaft. Friedrich Wilhelm Virck lobte ihn 1921 als „vorbildlich für die Denkmalspflegekunst“: „In der Form der Lübecker Ziegelbauten aus der Barockzeit ist hier ein malerisches Bild geschaffen, das unter Einziehung des alten Mauerturmes ein neues Ganzes schafft, ohne in deren Wirkung zum Alten aufdringlich zu sein.“[13]

Doch das Konzept, Gastronomie und Wohnnutzung zu verbinden, ging nicht auf und war von Anfang an mit wirtschaftlichen Problemen belastet. Schon 1909 kam es zu einer Zwangsversteigerung, um offene Handwerkerrechnungen und andere Forderungen von insgesamt 173.800 Mark gegen den Eigentümer, den Gastronomen A. W. E. Hausding zu begleichen. Einziger Bieter war das von Alexander Carlebach (1872–1925) geführte Bankhaus Louis Wolff.[14] Das Restaurant wurde von den Pächtern Ferdinand Kuhsen, ab 1914 Johannes Bentien und später Hans Beuthien weitergeführt. Es hieß später Zur Taubenhalle.

Ab 1921 nutzte das Tanzlehr-Institut der Schwestern Martha Luise und Emma Stolze die Räume. In der unmittelbaren Nachkriegszeit nach 1945 beschlagnahmte die britische Militärregierung die Tanzschule und nutzte sie vorübergehend als Schulraum für Displaced Persons aus den baltischen Staaten, insbesondere Estland.[15] Nach der Freigabe nahm die Tanzschule ihren Betrieb wieder auf. 1951 wurde sie von Adolf und Ilse Wollgast übernommen. Nach deren Umzug in die Hüxtertorallee übernahm die andere Traditions-Tanzschule Lübecks, Huber-Beuss, die Räume, bis auch sie 1975 in ein neues, eigenes Haus am Mönkhofer Weg umzog.[16]

Danach betrieb hier Irene Olk-Blandow (1922–2016) die Irene-Olk-Schule, eine staatlich anerkannte Berufsfachschule für tänzerische Gymnastik und Sport, an der auch Roger George unterrichtete. Nach ihrem Tod endete diese Nutzung.

2020/21 wurde das gesamte Haus durch die Viktoria Hanseatische Projektentwicklung „energetisch kernsaniert und mit neuen Küchen und Sanitäranlagen ausgestattet“.[17] Auch der ehemalige Restaurant-, dann Ballettsaal wurde in Wohnungen aufgeteilt. Derzeit befinden sich hier also nur noch Eigentumswohnungen, „18 Wohneinheiten, welche im Sinne des Denkmalschutzes saniert und renoviert werden.“[18]

Der Zugang von der Kanalstraße und die durch die Verlängerung des Pavillons zu Wohnzwecken verminderte und in ihrem Eindruck eingeschränkte Terrasse sind in schlechtem Zustand und lassen nichts mehr von der ursprünglichen gastronomischen Nutzung ahnen.

Denkmalschutz

Blick vom Kanal auf Block 2 (2012)

Das Haus Wakenitzmauer 1 steht unter Denkmalschutz, sowohl als einzelner „geschichtlich, wissenschaftlich, städtebaulich“ prägender Bau, wobei der Schutz das gesamte Gebäude betrifft[19], als auch als Teil der Sachgesamtheit Block 2 zwischen Kanalstraße, Wakenitzmauer und Rosenpforte, der „ein besonderes Zeugnis der Architektur- und Stadtbaugeschichte aus der Zeit zwischen 1903/1929“ darstellt. Der Schutzumfang für die Sachgesamtheit erstreckt sich auf „die städtebaulich wirksame Bausubstanz der Blockrandbebauung (Materialität, Straßenfassaden, Kubatur, Dachformen) sowie die prägenden und im Kontext zueinander stehenden halböffentlichen Bereiche (Treppenhäuser)“.[20]

Literatur

Commons: Wakenitzmauer 1 – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
  • Wakenitzmauer 1 in der Datenbank Bau- und Architekturgeschichte, Stadtentwicklung in Lübeck – BASt

Einzelnachweise

  1. Lübeckische Häusernamen nebst Beiträgen zur Geschichte einzelner Häuser. H. G. Rathgens, Lübeck 1890, S. 157
  2. Lübeck: Festschrift den Theilnehmern der 67. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte : Gewidmet von dem ärztlichen Verein und dem naturwissenschaftlichen Verein zu Lübeck. Lübeck 1895, S. 105
  3. Johannes Hennings: Geschichte der Johannis-Loge "Zum Füllhorn" zu Lübeck. 1922, S. 169
  4. Heinrich Asmus: Die dramatische Kunst und das Theater zu Lübeck. Lübeck: Rohden 1862, S. 225, dort auch die Spielpläne
  5. Leopold Riel †, in: Deutscher Bühnen-Almanach 37 (1873), S. 147–149
  6. Das Tivoli-Theater des Herrn Direktor Riel in Lübeck. In: Deutscher Bühnen-Almanach , S. 184–188
  7. Siehe Hans Wißkirchen: Spaziergänge durch das Lübeck von Heinrich und Thomas Mann. Zürcih/Hamburg: Arche 1996, ISBN 3-7160-2210-1, S. 125–127
  8. a b c d e f Die Denkmalpflege 7 (1905), S. 70/71
  9. Mehrfamilienwohnhaus am Burgtor, Lübeck. Mit Bierlokal, Biergarten, Kegelbahn etc.
  10. Siehe den Stempel Glogners auf der Detailzeichnung doi:10.25645/je2e-t7aq
  11. Baubeschreibung im Wesentlichen nach Landesamt für Denkmalpflege (Hrsg.): Hansestadt Lübeck, Altstadt (= Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Kulturdenkmale in Schleswig-Holstein 5.1), Wachholtz, Neumünster 2017, ISBN 978-3-529-02524-2, S. 750–752
  12. Entwurfszeichnung
  13. Friedrich Wilhelm Virck (Bearb.): Lübeck, Travemünde. (= Deutschlands Städtebau) Deutscher Architektur- und Industrie-Verlag (DARI), Berlin-Halensee 1921. archive.org, S. 40
  14. Lübeckische Anzeigen 1909, S. 3151
  15. Christian Pletzing, Marianne Pletzing: Displaced persons: Flüchtlinge aus den baltischen Staaten in Deutschland. (= Colloquia Baltica 12 ISSN 2193-9594), Frankfurt: Lang 2007, ISBN 978-3-89975-066-9, S. 91
  16. Über uns (archivierte Fassung), abgerufen am 15. September 2025
  17. vh-baugruppe.de: Sanierung, abgerufen am 16. September 2025
  18. Exposé, abgerufen am 15. September 2025
  19. Denkmalliste Lübeck, Stand vom 22. August 2025, Nr. 1212, abgerufen am 15. September 2025
  20. Denkmalliste Lübeck, Stand vom 22. August 2025, Nr. 4005, abgerufen am 15. September 2025

Koordinaten: 53° 52′ 28,1″ N, 10° 41′ 30,3″ O