Wael al-Dahdouh

Wael al-Dahdouh im Gazastreifen (Dezember 2023)

Wael Hamdan Ibrahim al-Dahdouh (arabisch وائل حمدان إبراهيم الدحدوح, DMG Wāʾil Ḥamdān Ibrāhīm ad-Daḥdūḥ; * 30. April 1970 in Gaza) ist ein palästinensischer Journalist und Büroleiter des Nachrichtensenders Al Jazeera in Gaza.[1][2]

Leben

Al-Dahdouh wurde in Al-Zeitoun, dem ältesten Stadtteil von Gaza, geboren und wuchs in einer großen Familie mit acht Brüdern und Schwestern auf. Die Dahdouhs waren dort seit Generationen ansässig und bewirtschafteten das Land. Es war ein Leben, das von körperlich anstrengender Arbeit abhing, aber für den größten Teil seiner Kindheit war es auch ein normales Leben. Es gab immer genug zu essen und alle hatten ein Dach über dem Kopf. Er beschrieb seine Jugend als eine „reiche Zeit“, voller Freunde. Schwimmen war seine „erste Liebe“, der Strand lag in der Nähe des Bauernhofs der Familie, und in den Schulferien „lebte er im Meer“.[3] Als er und seine Geschwister älter wurden - einige verließen vorzeitig die Schule, um auf dem Hof mitzuarbeiten, andere nahmen Gelegenheitsarbeiten an -, warb der Vater leidenschaftlich dafür, dass die Kinder studieren und ein anderes Leben anstreben sollten. Mit der israelischen Militärbesatzung wurde akademische Ausbildung jedoch ein weit entferntes Ziel.[3]

Nachdem er als erster in seiner Familie die Sekundarschule abgeschlossen hatte, erhielt er 1988 ein Stipendium für ein Medizinstudium im Irak – in Gaza gab es damals immer noch keine medizinische Fakultät.[4] Doch die Intifada (1987-1993), der Aufstand, der im Dezember 1987 in Gaza begann und sich auf die übrigen israelisch besetzten Gebiete Palästinas ausweitete, machte seine Pläne zunichte. Wenige Tage bevor Dahdouh in den Irak abreisen sollte, um sein Medizinstudium zu beginnen, kam die israelische Armee mitten in der Nacht zu seinem Haus und nahm ihn fest. Er war 17 Jahre alt.[3] Der Teenager wurde von israelischen Behörden, des Steinewerfens angeklagt und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.[5] Er verbrachte schließlich sieben Jahre in israelischen Besatzungsgefängnissen. Während der Zeit legte er ein weiteres Mal sein Abitur ab. Al-Dahdouh knüpfte auch wichtige Kontakte innerhalb der bewaffneten palästinensischen Fraktionen.[5]

Nach seiner Freilassung durfte er nicht mehr in den Ausland reisen, deshalb entschied er sich mit 24 Jahren, das erste Journalismusprogramm Palästinas zu absolvieren, das an der Islamischen Universität von Gaza eingerichtet wurde. Zusammen mit anderen später prominenten Persönlichkeiten der Gaza-Presse wie Adel Zaanoun (Korrespondenten für AFP) und Rushdi Abualouf (Korrespondenten für BBC), bildeten sie eine Generation von Wegbereiter, die die Geschichte Gaza selbst erzählen wollten. Ihre Ausbildung fand vor dem Hintergrund der relativen Demokratisierung des Zugangs zu Satellitenfernsehsendern statt.[5] Nachdem er 1998 sein Studium abschloss, begann er im selben Jahr als Journalist für die größte palästinensische Tageszeitung Al-Quds (arabisch für Jerusalem), die gemäßigten Intellektuellen und den palästinensischen Führungskreisen nahe steht[6], zu arbeiten. Nachdem ihn die Besatzung weiter daran hinderte, zum Studium ins Ausland zu reisen, erwarb er 2007 seinen Master in Regionalwissenschaften an der Al-Quds-Universität in Abu Dis.

Zu Beginn der Zweiten Intifada im Jahr 2000 arbeitete er als Radiokorrespondent für die Stimme Palästinas und den Satelliten-Fernsehsender Sahar. 2003 wurde er Korrespondent und ‚Reporter vor der Kamera‘ für den saudischen Sender Al-Arabiya, seine genauen Kenntnisse des Gazastreifens machten ihn schnell unentbehrlich, 2004 war er der Erste, der über den Tod des Hamas-Gründers Ahmad Yasin berichtete, der von einem israelischen Kampfhubschrauber in seinem Rollstuhl in Gaza gezielt getötet worden war. Der katarischer Sender Al Jazeera warb ihn 2004 an und er wurde Leiter des Gaza-Büros.[5]

Rauchschwaden steigen auf, nachdem das Medienhaus Al-Jalaa, in dem internationale Nachrichtenorganisationen ihre Sitze hatten, durch Luftangriffe zum Einsturz gebracht wurde, 15 Mai 2021

Als Israels Luftwaffe am 15. Mai 2021 gezielt und mit Vorankündigung mit Kampfjets das 14-stöckige Medienhaus Al-Jalaa in Gaza bombardierte, in dem die US-amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press, der TV-Sender Al-Jazeera und andere internationale Nachrichtenorganisationen ihren Sitz hatten, wussten die Journalisten, dass sie nun nicht nur über die Nachrichten berichteten, sondern als Ziel von Luftangriffen auch ein Bestandteil der Nachrichten wurden (Israel-Gaza-Konflikt 2021 10. Mai bis 21. Mai 2021).[4][7]

Für Kritik in US-amerikanischen Medien sorgte, dass er 2021 für seine journalistische Arbeit einen Preis der Terrororganisation Hamas entgegennahm.[8][9]

Weltweit bekannt wurde Al-Dahdouh durch seine Berichterstattung während des Krieges in Israel und Gaza im Jahr 2023.[10] Al-Dahdouh berichtete live aus diesem Krieg, als er vor laufender Kamera erfuhr, dass mehrere Angehörige seiner Familie bei einem israelischen Luftangriff auf das Gebäudekomplex der deutsch-palästinensischen Familie Abujadallah im Geflüchtetenlager Nuseirat, in dem sie untergekommen waren, getötet wurden. Dabei hatte die Armee zu jenem Zeitpunkt das Gebiet als „sichere Schutzzone“ ausgewiesenen. Israel forderte die Palästinenser aus dem Norden Gazas dazu auf, sich dorthin in Sicherheit zu bringen.[11] Seine Frau Amna, seine Tochter Sham (7 Jahre), sein Sohn Mahmoud (15 Jahre) und sein Enkelkind Adam (18 Monate) kamen zusammen mit 21 anderen Menschen ums Leben. Ein anderer Sohn, Yehia, wurde schwer verletzt. Unzählige Menschen mit Kameras und Smartphones dokumentieren, wie Dahdouh den kleinen Körper Adams den Ärzten übergibt, wie er den leblosen Sohn Mahmoud streichelt, stöhnt und klagt: „Sie rächen sich an unseren Kindern. Ma’alesch, keine Sorge. Wir sind von Gott, und zu ihm kehren wir zurück.“[12][13][14][15][16][17] (Die Berliner NGO Mnemonic, die sich als „digitales Gedächtnis in Kriegszeiten“ versteht, untersuchte den israelischen Angriff vom 25. Oktober 2023 und kam zum Schluß es gäbe keine Beweise, „die auf die Anwesenheit von Hamas-Kämpfern oder -Strukturen in dem Wohnkomplex hinweisen, in dem eine deutsch-palästinensische Familie und die Familie von Wael al-Dahdouh getötet wurden.“[11][12])

Am 15. Dezember 2023 wurde Dahdouh durch einen israelischen Drohnenangriff schwer verletzt, als er mit seinem Kollegen Samer Abudaqa über einen israelischen Angriff auf ein Schulgebäude im Flüchtlingslager in Chan Yunis berichten wollte. Abudaqa wurde schwer verletzt und verblutete, weil Rettungssanitäter von der israelischen Armee daran gehindert wurden, ihm zu helfen, wobei selbst die Krankenwagen angegriffen wurden.[18]

Am 7. Januar 2024 wurden sein ältester Sohn Hamza al-Dahdouh durch einen gezielten israelischen Drohnenangriff getötet. Er war ebenfalls Journalist bei Al Jazeera und berichtete mit Kollegen von nahe der südlichen Grenzstadt Rafah. Auf der Rückfahrt tötete das israelische Militär den 27-Jährigen und seinen Kollegen Mustafa Thuria. Ein dritter Journalist, Hazem Rajab, wurde bei dem Angriff schwer verletzt. Die Armee erklärte, man habe in dem Auto „Terroristen“ identifiziert. Diese hätten ein Flugobjekt gesteuert, das eine „Bedrohung“ dargestellt habe. Recherchen des Spiegel und der Washington Post widersprachen den Aussagen des israelische Militärs.[12] Auch die Familien wiesen die Lüge entschieden zurück.[19][20]

Nach dem Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hamas vom 15. Januar 2025 verließ er den Gazastreifen, mit fünf statt acht Kindern, den Töchtern Bissan, Sundus, Khuloud, Batoul und dem Sohn Yehia. Dahdouhs Nachfolger Ismail al-Ghoul und Kameramann Rami al-Refee wurden am 31. Juli 2025 bei einem israelischen Angriff getötet. Zwei Stunden vor dem Angriff hatten sie live aus Gaza-Stadt gesendet.[3] In keinem anderen Krieg wurden so viele Journalisten getötet.[21]

Al-Dahdouh wohnte mit seiner Familie in Doha und vier Monate lies er sich in Berlin medizinisch behandeln.[12] In London nahm er im September 2025 einen Journalistenpreis entgegen.[22]

Commons: Wael Al-Dahdouh – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Al Jazeera’s Gaza bureau chief comments on Israeli air raid that flattened office. In: South China Morning Post. 17. Mai 2021, abgerufen am 22. Oktober 2023 (englisch).
  2. Al Jazeera says Israeli airstrike killed the family of its Gaza correspondent. In: The Guardian. 25. Oktober 2023, abgerufen am 26. Oktober 2023 (englisch).
  3. a b c d Nesrine Malik: ‘I couldn’t cry over my children like everyone else’: the tragedy of Palestinian journalist Wael al-Dahdouh. In: The Guardian. 31. Oktober 2024, archiviert vom Original; abgerufen am 4. November 2024.
  4. a b Eman Abusidu: Israel wants to control media output from Gaza, but can’t. In: Middle East Monitor. 15. Juni 2021, abgerufen am 23. Oktober 2023 (englisch).
  5. a b c d Lucas Minisini, Clothilde Mraffko: L’amer exil de Wael Al-Dahdouh, le journaliste qui incarne la tragédie de Gaza. In: Le Monde. 23. Januar 2025, abgerufen am 6. September 2025.
  6. Al-Quds, Courrier international. Abgerufen 2025-01-30
  7. „Israels Luftwaffe zerstört Medienhaus“, Österreichischer Rundfunk; „Israeli strike destroys Gaza tower housing media organisations“, The Guardian; “Israel destroys Gaza tower housing AP and Al Jazeera offices”, Agentur Reuters vom 15. Mai 2021
  8. Hamas honors Al Jazeera for coverage of conflict with Israel. In: Fox News. 10. Juni 2021, abgerufen am 29. Oktober 2023 (englisch).
  9. AP Snubbed as Al Jazeera Wins Hamas Prize for Gaza Coverage. In: The Washington Free Beacon. 10. Juni 2021, abgerufen am 29. Oktober 2023 (englisch).
  10. Al Jazeera live report interrupted by Israeli air strike in Gaza. In: The Daily Telegraph (Australien). 22. Oktober 2023, abgerufen am 28. Oktober 2023 (englisch).
  11. a b Dunja Ramadan, Leonard Scharfenberg: Wem galt der Luftangriff? In: Süddeutsche Zeitung. 18. Juli 2024, archiviert vom Original; abgerufen am 6. September 2025.
  12. a b c d Dunja Ramadan: Noch in der Presseweste hält er das Totengebet. In: Der Spiegel. 3. Februar 2025, abgerufen am 7. Februar 2025.
  13. Frau und zwei Kinder tot: Al-Dschasira-Redaktionsleiter trauert in Gaza um seine Familie. In: Die Welt. 26. Oktober 2023, abgerufen am 29. Oktober 2023.
  14. Family of Al Jazeera Gaza bureau chief killed in Israeli air raid. In: Al Jazeera. 25. Oktober 2023, abgerufen am 29. Oktober 2023 (englisch).
  15. Al Jazeera journalist’s family killed in Gaza strike, says Al Jazeera. In: CNN. 25. Oktober 2023, abgerufen am 29. Oktober 2023 (englisch).
  16. Reporter erfährt vor laufender Kamera von Tod der Familie. In: Blick. 26. Oktober 2023, abgerufen am 29. Oktober 2023.
  17. Al Jazeera journalist who lost his family in Gaza airstrike returns to work. In: The Guardian. 28. Oktober 2023, abgerufen am 10. November 2023.
  18. Gazastreifen: Al Jazeera zieht wegen getötetem Kameramann vor den Internationalen Strafgerichtshof. In: Der Spiegel. 16. Dezember 2023, abgerufen am 21. Dezember 2023.
  19. Hamza, son of Al Jazeera’s Wael Dahdouh, killed in Israeli attack in Gaza. In: Al Jazeer. 7. Januar 2024, abgerufen am 7. Januar 2024 (englisch).
  20. IDF claims 2 journalists killed on Sunday were terrorists. In: NBC. 11. Januar 2024, abgerufen am 29. Januar 2024 (englisch).
  21. Nick Turse: News Graveyards: How Dangers to War Reporters Endanger the World, "Costs of War Project" des Watson Institute for International and Public Affairs, Brown University, April 2025 (PDF)
  22. Middle East Eye honours Palestinian journalist Wael al-Dahdouh. In: Middle East Eye, 5. September 2025