Vitrimere
Vitrimere (englisch Vitrimers) sind eine Kunststoffklasse, die sich von klassischen Duromeren ableitet und starke Ähnlichkeiten mit ihnen besitzt. Sie sind aus kovalenten Netzwerken aufgebaut, die ihre Topologie durch thermisch aktivierte Bindungsaustauschreaktionen verändern können. Vitrimere sind starke Glasbildner. Bei hohen Temperaturen fließen sie und verhalten sich dabei wie eine viskoelastische Flüssigkeit. Bei niedrigen Temperaturen sind die Austauschreaktionen unmessbar langsam („eingefroren“) und die Vitrimere verhalten sich wie klassische Duromere.
Ihr Verhalten eröffnet neue Möglichkeiten in der Anwendung von Duromeren wie Selbstheilung oder einfache Verarbeitbarkeit in einem weiten Temperaturbereich.[1]
Die Vitrimere wurden von Ludwik Leiblers Team am Laboratorium für Weiche Materie und Chemie des ESPCI Paris zwischen 2010 und 2012 entdeckt.[2]
Hintergrund und Bedeutung
Thermoplaste bestehen aus kovalent gebundenen relativ langen Molekülketten, die durch schwache und nahwirkende Wechselwirkungen (z. B. Van-der-Waals-Kräfte) verbunden sind. Dabei werden durch die große Überlappungslängen der Molekülketten miteinander relativ hohe Steifigkeits- und Festigkeitswerte erreicht. Bei größerem Abstand zwischen den Molekülketten z. B. durch Temperaturerhöhung oder durch Lösungsmittel, nimmt die Anzahl der aktiven Wechselwirkungen ab. Deswegen lassen sich Thermoplaste über ihrer Glasübergangstemperatur reversibel verformen und über ihrer Kristallitschmelztemperatur durch Extrusion, Spritzguss und Verschweißen verarbeiten. Zum Teil können Thermoplaste deswegen auch aus der Lösung verarbeitet werden, sind deshalb aber nach der Verarbeitung gegenüber dem entsprechenden Lösungsmitteln anfällig. Duroplaste hingegen bestehen aus Molekülketten, die durch Polymerisation untereinander durch kovalente Bindungen zu einem Netzwerk verknüpft werden. Dadurch sind die Eigenschaften eines Duromers etwas stabiler und klarer definiert als beim Thermoplast. So sind Duroplaste lösungsmittelbeständig und können kaum kristallisieren. Jedoch können sie nicht mehr reversibel verformt oder getrennt werden, sobald bei der Herstellung die Polymerisation abgeschlossen ist. Sie müssen daher in der erwünschten Form polymerisiert werden, was zeitintensiv ist, die Formgebung einschränkt und einfaches Recycling durch Aufschmelzen ausschließt.
Vitrimere sind eine von zahlreichen Strategien, um kovalente Bindungen reversibel zu gestalten. Dadurch wird die gute Verarbeitbarkeit und Recyclingfähigkeit von Thermoplasten mit stabileren Eigenschaften von Duroplasten verbunden, wodurch Reparierbarkeit und hohe Performance gegeben sind. Vitrimere könnten daher eine neue und vielversprechende Werkstoffklasse mit zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten sein.[3]
Funktionsweise und Prinzip
Gläser und Glasbildner
Wenn die „Schmelze“ eines (organischen) amorphen Polymers abkühlt, verfestigt sie sich am Glasübergangspunkt Tv. Beim Abkühlen steigt die Härte des Polymers in der Umgebung dieses Punktes um mehrere Größenordnungen. Dabei folgt sie nicht der Arrhenius-Gleichung, sondern der Williams-Landel-Ferry-Gleichung. Organische Polymere werden daher als „fragile Glasbildner“ bezeichnet (vom englischen fragile = schwach). Siliciumglas (z. B. Fensterglas) dagegen wird als starker Glasbildner bezeichnet. Seine Viskosität ändert sich in der Nähe des Glasübergangspunkts Tv nur sehr langsam und folgt dem Arrhenius-Gesetz. Nur durch diese graduelle Änderung der Viskosität ist Glasblasen möglich. Würde man versuchen, ein organisches Polymer wie Glas zu formen, würde es zunächst fest sein und sich in der Nähe von Tv bereits bei geringfügig weiter erhöhter Temperatur vollständig verflüssigen, also z. B. heruntertropfen. Die Temperatur müsste zum „Glasblasen von organischen Polymeren“ also sehr genau und aufwändig kontrolliert werden.
Bis jetzt waren keine organischen Materialien bekannt, die starke Glasbildner waren. Starke Glasbildner können in derselben Weise wie Glas in eine beliebige Form gebracht werden. Mit den Vitrimeren liegen nun zum ersten Mal solche Materialien vor.
Wirkungsweise: Umesterung und Temperatureinfluss
Die Arbeitsgruppe um Ludwik Leibler demonstrierte das Funktionsprinzip der Vitrimere am Beispiel der Epoxid-Duromere. Epoxid-Duromere können als Vitrimere dargestellt werden, wenn Transesterifizierungsreaktionen eingeführt und kontrolliert werden können. In dem untersuchten System müssen als Härter Carbonsäuren oder Carbonsäureanhydride verwendet werden.[3] Eine Veränderung der Topologie ist durch Umesterungsreaktionen möglich. Diese Umesterungsreaktionen nehmen keinen Einfluss auf die Zahl der Verknüpfungen oder die (durchschnittliche) Funktionalität des Polymers. Bei hohen Temperaturen kann das Polymer so wie eine viskoelastische Flüssigkeit fließen. Wenn die Temperatur abgesenkt wird, werden die Transesterifizierungsreaktionen langsamer, bis sie schließlich „einfrieren“ (unmessbar langsam werden). Unterhalb des (Temperatur-)Punkts, bei der dies der Fall ist (topology freezing transition oder vitrification, Tv) verhalten sich Vitrimere wie normale, permanent verknüpfte Duromere. Die beispielhaft dargestellten Vitrimere wiesen unterhalb von Tv ein Elastizitätsmodul von 1 MPa bis 100 MPa auf, je nach Netzwerkdichte.
Anwendungen
Es sind zahlreiche Anwendungen auf dieser Basis vorstellbar. So könnte ein Surfbrett aus Vitrimeren in eine neue Form gebracht werden, Kratzer in einer Motorhaube können „geheilt“ und vernetzte Plastik- oder Gummiartikel könnten verschweißt werden.
Weblinks
- ESPCI ParisTech (englisch)
- Schöne neue Plastic-Welt auf nzz.ch, abgerufen am 21. März 2017.
Einzelnachweise
- ↑ Mathieu Capelot, Miriam M. Unterlass, François Tournilhac, Ludwik Leibler: Catalytic Control of the Vitrimer Glass Transition. In: ACS Macro Letters. 2012, doi:10.1021/mz300239f.
- ↑ Neue Kunststoffklasse: Entdecker der Vitrimere Ludwik Leibler erhält Europäischen Erfinderpreis in der Kategorie „Forschung“ Pressemitteilung der Europäischen Patentamtes vom 11. Juni 2015, abgerufen am 10. November 2020.
- ↑ a b Mathieu Capelot, Damien Montarnal, François Tournilhac, Ludwik Leibler: Metal-catalyzed transesterification for healing and assembling of thermosets. In: J. Am. Chem. Soc. Band 134, Nr. 18, 2012, S. 7664–7667, doi:10.1021/ja302894k.