Vicus von Sindelfingen
Der Vicus von Sindelfingen war eine römische Siedlung des Typs Vicus im heutigen Sindelfingen im Landkreis Böblingen, Baden-Württemberg. Sie erstreckte sich beiderseits des Goldbachs: auf der linken Seite vom Fuß des Goldbergs, auf der rechten bis etwa zur Neckarstraße. Der antike Ortsname ist nicht überliefert.
Forschungsgeschichte
1850 berichtete Karl Eduard Paulus in der Oberamtsbeschreibung von Böblingen, dass am Fuß des Goldbergs römische Mauern bekannt seien. An dieser Stelle seien zudem ein römischer Altar mit zwei männlichen Figuren sowie ein bronzenes Schwein ausgegraben worden, die jedoch bereits damals als verschollen galten.[1] Ebenfalls erwähnt Paulus ein Relief der Siegesgöttin Victoria, das der Finder in die Außenwand seines Hauses einmauern ließ.[2] Darüber hinaus berichtet Paulus von ausgedehnten Mauer- und Bauresten, die teilweise noch an der Oberfläche sichtbar gewesen sein sollen, und vermutete an dieser Stelle einen bedeutenden römischen Siedlungsplatz. Eine Burghalde rund einen Kilometer nördlich der Anlage deutete er irrtümlich als das Kastell Grinario, das auf der Tabula Peutingeriana verzeichnet ist.
Eine 1895 von Eugen Nägele durchgeführte Ausgrabung sollte den Nachweis dieses Kastells erbringen, erbrachte jedoch lediglich den Befund einer römischen Straße. 1900 konnte der Vicus von Köngen als Grinario identifiziert werden, wodurch das Interesse am römischen Sindelfingen nachließ und die Fundstelle fortan für die Überreste eines oder mehrerer römischer Gutshöfe gehalten wurde. Dieser Ansicht schloss sich noch 1932 der Archäologe Oskar Paret an.[3]
Seit den 1930er Jahren setzte die sukzessive Überbauung des ehemaligen römischen Siedlungsareals ein. 1937 kamen dabei unter anderem ein rundgemauerter Brunnenschacht, der Kopf eines Mithrasbildes[4], eine Handmühle, ein Relief der Göttin Diana, möglicherweise Diana Abnoba[5], sowie ein Öllämpchen zutage.
Ab den 1950er Jahren wurde auch das Gebiet zwischen der Sindelfinger Altstadt und dem Goldberg überbaut, wobei wiederholt römische Siedlungsspuren entdeckt und kleinere Notgrabungen durchgeführt wurden. 1955/56 konnte ein Brunnen im Bereich der heutigen Gottlieb-Daimler-Schule und in der Neckarstraße nachgewiesen werden. In der Schadenwasenstraße wurde ein Relief der Göttin Epona gefunden, in der Remsstraße ein Brennofen. Eine weitere größere Fundstelle wurde 1969 beim Ausbau des Berufsschulzentrums in der Böblinger Straße bekannt.
1983 gelangte der Archäologe Dieter Planck zu der Schlussfolgerung, dass es sich angesichts der bis dahin 53 dokumentierten Fundstellen nicht lediglich um einzelne Gutshöfe handeln könne, sondern um eine zentrale Siedlung.[6]
In den 1990er Jahren wurden im Bereich Neckarstraße/Schadenwasenstraße ein Töpferofen sowie die Reste eines römischen Streifenhauses nachgewiesen.
Geschichte
Die Gründung des Ortes wird nach den Funden in das zweite Jahrzehnt des 2. Jahrhunderts datiert und könnte mit der Verlegung des Limes an den Neckar in Verbindung stehen. Für eine zuvor angenommene römische Militärpräsenz existieren keine gesicherten Nachweise. Möglich ist, dass die Straßenkreuzung in Sindelfingen als Nachschubstützpunkt zwischen den Kastellen Sulz am Neckar und Bad Cannstatt diente. In der frühen Phase entstanden Streifenhäuser in Holzbauweise von etwa 9 m Breite und 30 m Länge, die später durch Steingebäude ersetzt wurden.
Das Ende der Siedlung wird in die Mitte des 3. Jahrhunderts datiert und mit dem Limesfall in Verbindung gebracht.
Siedlungsbeschreibung

Großflächige Ausgrabungen haben bislang nicht stattgefunden; die bisherigen Erkenntnisse beruhen auf Zufallsfunden und Notgrabungen im Zuge von Baumaßnahmen. Die Ausdehnung des Vicus wird auf etwa 15 Hektar geschätzt.[7] Das Siedlungsareal reichte im Westen bis zur Mündung des Goldbachs in die Schwippe und im Osten über die Einmündung des Sommerhofenbachs hinaus. Die Ausdehnung betrug etwa 750 m in Südwest-Nordost-Richtung und rund 550 m in Nord-Süd-Richtung.
Eine Straße führte nach Nordwesten über Rutesheim zur Militärstraße Portus–Bad Cannstatt. Aus dem Westen kam eine Straße von Sumelocenna (Rottenburg), die entlang des Goldbachtals in nordöstlicher Richtung nach Bad Cannstatt verlief; vermutlich zweigte von ihr eine Verbindung nach Grinario (Köngen) ab.
Am nordöstlichen Ortsrand wurden anhand von Abfällen und Ofenresten zwei Töpfereiwerkstätten nachgewiesen (Haydnstraße sowie zwischen Neckar- und Remsstraße). Zwischen ihnen befand sich eine größere Ziegelei. Ein weiterer Töpferofen ist am nordwestlichen Ortsausgang im Bereich der heutigen Neckarstraße 10 belegt. Ein Badegebäude konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Der Tempelbezirk lag vermutlich am südlichen Siedlungsrand am Hang des Goldbergs. Zu ihm gehörten wohl der Altar oder das Grabrelief mit zwei männlichen Figuren sowie die Reliefs der Göttinnen Viktoria (südlich der Goldbachbrücke), Diana Abnoba (Dresdner Straße 2/4), Minerva (Böblinger Straße 76) und Epona (Schadenwasenstraße). Aus der Böblinger Straße 97 ist zudem der Kopf einer Mithras-Statue bekannt.
Ein Begräbnisplatz wird im Bereich der Frankenstraße vermutet, wo ein römisches Körpergrab nachgewiesen ist. Ein zweiter Friedhof lag möglicherweise an der nordöstlichen Ausfallstraße, wo in der Neckarstraße 46 menschliche Knochen entdeckt wurden.
Umgebung
In der Nähe römischer Vici befanden sich üblicherweise mehrere Gutshöfe. Römische Mauerreste sind aus der westlich von Sindelfingen gelegenen Flur „Daubner“ bzw. „Todwar“ sowie aus dem südöstlichen Walddistrikt „Alter Hau“ bekannt. 1999 wurde an der Kreuzung Konrad-Adenauer-Straße/Rudolf-Harbig-Straße eine Villa rustica nachgewiesen. Ziegelfunde im Bereich der Martinskirche deuten auch dort auf eine Gutsanlage hin. 1959 wurde im Gewann Untere Weinberge ein Ziegelbrennofen entdeckt.
Literatur
- Jörg Heiligmann: Das römische Sindelfingen. In: Sindelfinger Fundstücke – Von der Steinzeit bis zur Gegenwart (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Sindelfingen 1). Sindelfingen 1991, ISBN 978-3-928222-01-3, S. 23–28.
- Thomas Knopf: Das römische Sindelfingen (= Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg 55). Theiss, Stuttgart 2000, ISBN 978-3-8062-1497-0.
- Dorothee Ade-Rademacher, Reinhard Rademacher u. a.: Reich an Vergangenheit: Römer und Alamannen in Sindelfingen (= Schriftenreihe des Stadtarchivs Sindelfingen 6). Sindelfingen 2004, ISBN 978-3-00-014744-9.
- Jörg Heiligmann: Römische Siedlung, Sindelfingen (BB). In: Dieter Planck (Hrsg.): Die Römer in Baden-Württemberg. Theiss, Stuttgart 2005, ISBN 978-3-8062-1555-7, S. 319.
- Marc Heise, Sebastian van Kaam: Ein Brunnen und holzverschalte Grube im römischen Vicus von Sindelfingen. In: Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 2020, S. 180–183.
Einzelnachweise
- ↑ Alterthümer. In: Karl Eduard Paulus (Hrsg.): Beschreibung des Oberamts Böblingen (= Die Württembergischen Oberamtsbeschreibungen 1824–1886. Band 27). Cotta’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart / Tübingen 1850 (Volltext [Wikisource]).
- ↑ Heute in den Beständen des Limesmuseum Aalen. Ubi erat lupa.
- ↑ Oskar Paret: Die Siedlungen des Römischen Württembergs (= Die Römer in Baden-Württemberg. Teil 3). Kohlhammer, Stuttgart 1932, S. ?.
- ↑ Heute im Landesmuseum Württemberg, Stuttgart. Ubi erat lupa.
- ↑ Heute im Stadtmuseum Sindelfingen. Fundberichte aus Schwaben NF 13, 1952-54, S. 72 Taf. 8 (Digitalisat).
- ↑ Dieter Planck: In: ???, S. ?.
- ↑ Marc Heise, Sebastian van Kaam: Ein Brunnen und holzverschalte Grube im römischen Vicus von Sindelfingen. In: Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 2020, S. 180.
Koordinaten: 48° 42′ 4,4″ N, 9° 0′ 28,6″ O