Vello Salo

Vello Salo 2011

Vello Salo (geboren als Endel Vaher, * 5. November 1925 in Lalsi, Kreis Viljandi; † 21. April 2019 in Tallinn) war ein estnischer katholischer Priester, Bibelwissenschaftler, Übersetzer, Schriftsteller, Verleger und Historiker.

Leben

Jugend und Kriegsdienst

Endel Vaher verließ 1943, als Estland von Deutschland besetzt war und er in die Abschlussklasse des Gymnasiums ging, sein Heimatland. Er setzte sich nach Finnland ab, um dort in den Reihen der finnischen Armee gegen die Sowjetunion zu kämpfen. 1944 kehrte er nach Estland zurück und geriet von dort als (zwangsrekrutierter) Angehöriger der Wehrmacht nach Deutschland (Schlesien).[1] Zum Schutz seiner Familie, die im sowjetisch besetzten Estland lebte, änderte Endel Vaher 1945 seinen Namen zu Vello Salo.

Im Exil: Studium, Rundfunkjournalist, Seelsorger und Professor

Im Studienjahr 1946/1947 nahm Salo an der Université de Fribourg zunächst das Studium der Mathematik und Physik auf, was er im folgenden Jahr an der Universität von Amsterdam fortsetzte. Ab 1948 studierte er in Rom Theologie, ab 1952 in Münster. Am 17. März 1957 wurde er für das Bistum Münster zum Priester geweiht.[2]

Von 1948 bis 1953 und wieder von 1961 bis 1965 war Salo verantwortlich für die estnischsprachigen Sendungen des Radio Vatikan. In der Zwischenzeit arbeitete er als Seelsorger im Bistum Münster, unter anderem in Ahaus,[3] und für die exilestnische Gemeinde. Durch postgraduale Studien erlangte Salo mehrere akademische Grade, unter anderem 1961 das Lizentiat der Philosophie. Von 1962 bis 1964 studierte er biblische Exegese am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom. Ein Forschungsvorhaben führte ihn 1964/1965 durch das Heilige Land. Von 1966 bis 1969 lehrte er als Professor für Altes und Neues Testament am „Séminaire Syro-Chaldéen de St. Jean“ in Mossul im Irak und in Schweden (1969/1970). 1976 wurde er mit einer Dissertation über Phönizisch-hebräische Wortpaare. Kommentierte Liste von Wortpaaren und Wortgruppen, die in phönizischen Inschriften und im AT in paralleler Stellung vorkommen vom Päpstlichen Bibelinstitut zum Dr. theol. promoviert.[4] 1976 wurde Salo zum Professor für Altes Testament an die Universität von Toronto berufen.

Zurück in Estland

Seit 1993 lebte Salo wieder in Estland, und zwar in Tartu, wo er an der Universität Tartu lehrte. Er war seit 1998 Mitglied des Estnischen Schriftstellerverbands.[5] Er galt als eine der angesehensten Persönlichkeiten Estlands.[6] Seit 2001 war er Seelsorger der Birgitten im Kloster Pirita. Als Papst Franziskus am 25. September 2018 Estland besuchte, war er dessen „Ehrengastgeber“.

Wissenschaftliches und literarisches Werk

Vello Salo war sprachbegabt und sprachkundig. Er sprach, neben seiner Muttersprache, Arabisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch und Russisch.

In den 49 Jahren seines Exils engagierte sich Salo, wo immer er lebte, in der jeweiligen estnischen Exilgemeinschaft und hielt zahllose Vorträge zur estnischen Literatur, Kultur und Geschichte. Über die Stimme Amerikas und Radio Vatikan hörten ihn auch seine Landsleute in Estland.[7] 1962 gründete er in Rom als Ein-Mann-Unternehmen den Verlag „Maarjamaa“ (estnisch für „Marienland“ / „terra mariana“, eine mittelalterliche Bezeichnung seines Heimatlandes). Seinen Verlag nahm er mit, als er 1976 nach Kanada übersiedelte und in Toronto, dann in Scarborough und in Brampton lebte.[8] Im Verlag „Maarjamaa“ erschienen zahlreiche kulturhistorisch und literarisch wichtige Werke, beispielsweise Gedichtbände von Ilona Laaman, Kalju Lepik und Uku Masing,[9] und die von Juhan Kurrik zusammengestellte Anthologie estnischer Volksdichtung in englischer Übersetzung,[10] ebenso Alo Rauns einschlägiges kleines etymologisches Wörterbuch.[11] Außerdem redigierte Salo verschiedene Exilzeitschriften und wirkte als Publizist und Übersetzer. Auf seine Anregung erschien eine ins Italienische übersetzte Anthologie estnischer Lyrik, mit einem Vorwort von Karl Ristikivi.[12] Er ließ Bücher estnischer Schriftsteller im Kleinformat drucken, um sie „als geistige Schmuggelware“ in seinem Heimatland zu verbreiten.[13] Zudem erinnerte er, nach seiner Heimkehr nach Estland, an das Werk der baltendeutschen Schriftsteller, insbesondere an Edzard Schaper.

In zahlreichen Vorträgen und Schriften befasste Salo sich mit der Kirche(ngeschichte) Estlands, einschließlich der Ordensgeschichte,[14] und mit der kulturhistorischen Bedeutung der Christianisierung Estlands. Er übersetzte poetische Teile des Alten Testamentes, darunter die Psalmen und das Hohe Lied, aus dem Hebräischen ins Estnische. Aus dem Griechischen übersetzte er das Markusevangelium, das Johannesevangelium und die Offenbarung des Johannes.

Immer wieder befasste sich Vello Salo mit der Geschichte der sowjetischen Besetzung Estlands und mit den Deportationen der Esten in die Sowjetunion in der Zeit des Stalinismus. Vellos Bücher „entsprachen dem Verlangen des estnischen Volkes, ein wahrhaftigen Bericht über die Ereignisse in Estland in der Zeit der Besatzung zu erhalten, über die dabei begangenen Verbrechen und über die dadurch bewirken gesellschaftlichen Verwerfungen“.[15]

Auszeichnungen und andere Ehrungen

Schriften

Als Verfasser

  • Estonia. L’Europa sconociuta. Rom 1963.
  • Der metaphorische Gebrauch der Tiernamen in den Psalmen. Päpstliches Bibelinstitut, Rom 1964.
  • Anti-Religious Rites in Estonia. In: Religion in Communist Lands, Jg. 1 (1973), S. 28–33.
  • Population losses in Estonia June 1940 – August 1941, Band 1: Introduction to documentation, list of 9,632 deportees, statistics concerning 59,967 deported or murdered persons. Maarjamaa, Scarborough 1989, ISBN 0-919635-15-6.
  • Küüditatud 1941. üldnimestik Tartu Instituudi arhiivis ja arhiivraamatukogus (Torontos) ning Eesti Represseeritute Registri Büroos (Tallinnas) leiduva andmestiku põhjal seisuga 24. veebr. 1993 [Deportiert 1941: Gesamtverzeichnis auf Grundlage der Daten im Archiv und in der Archivbibliothek des Tartu-Instituts (Toronto) sowie im Büro des Registers der Repressionsopfer Estlands (Tallinn) vom 24. Februar 1993]. Maarjamaa, Brampton 1993, ISBN 0-919635-20-2.
  • mit Olaf Sild: Lühike Eesti kirikulugu [Kurze Kirchengeschichte Estlands]. Tartu 1995.
  • Estland – Fenster des Westens nach Russland. Über den historischen Hintergrund eines Romans von Edzard Schaper. In: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland, Jg. 5 (1998), S. 91–98.
  • Riik ja kirikud 1940–1991 [Der Staat und die Kirchen 1940–1991]. Maarjamaa, Brampton 2000, ISBN 0-919635-25-3.
  • Population losses 1940–1941. Citizens of Jewish nationality. Herausgegeben von der Okupatsioonide Repressiivpoliitika Uurimise Riiklik Komisjon. Johannes Esto Ühing, Tartu 2002, ISBN 9985-78-540-1.
  • The Catholic Church in Estonia, 1918–2001. In: The Catholic Historical Review, Jg. 88 (2002), S. 281–292.
  • Rooma-Katoliku Kirik. In: Vello Salo, Marge-Marie Paas und andere: Eesti vaimulikest usumärtrid 1917–1991 [Estnische geistliche Märtyrer, 1917–1991]. Eesti Kirikute Nõukogu, Tallinn 2019, ISBN 978-9949-9228-5-7, S. 91–95.
  • Pühitse meid tõega. Mõtisklused, jutlused, kõned, loengud. [Heilige uns mit der Wahrheit. Meditationen, Predigten, Reden, Vorträge] Herausgegeben von Ivar Tröner. SE & JS, Tallinn 2021, ISBN 978-9916-9631-6-6.
  • Jumalale on kõik võimalik. Radio Vaticana-Estone. Vatikani Raadio eestikeelsed saated 1948–1953 ja 1961–1965 [Für Gott ist alles möglich. Estnischsprachige Sendungen des Vatikanischen Rundfunks 1948–1953 und 1961–1965]. Redigiert von Ivar Tröner, herausgegeben von Anu Saluäär. Postimees Kirjastus, Tallinn 2023, ISBN 978-9916-712-34-4.

Als Herausgeber

  • The White Book. Losses Inflicted on the Estonian Nation by Occupation Regimes 1940–1991. Rigiikogu, Tallinn 2005.

Literatur

  • Udo Uibo: Maailmast, Maarjamaast, „Maarjamaast“. Intervjuu Vello Saloga. In: Keel ja Kirjandus, Jg. 1989, Heft 1, S. 26–30.

Dokumentarfilm

  • Igapäevelu müstika (Mystik des alltäglichen Lebens). Dokumentarfilm von Jaan Tootsen über Vello Salos Lebensweg (2018).

Fußnoten

  1. Udo Uibo: Maailmast, Maarjamaast, „Maarjamaast“. Intervjuu Vello Saloga. In: Keel ja Kirjandus, Jg. 1989, Heft 1, S. 26–30, hier S. 26.
  2. Am 16. März 2017 können 15 Priester des Bistums Münster ihr Weihejubiläum begehen. In: Kirche+Leben, 13. März 1957, abgerufen am 5. September 2025.
  3. a b Prälat Vello Salo gestorben. In: Kirche+Leben, 23. April 2019, abgerufen am 5. September 2025.
  4. Pontificio istituto biblico: Eintrag Nr. 195 im Catalogo delle dissertazioni dottorali, abgerufen am 5. September 2025.
  5. Oskar Kruus, Heino Puhvel: Eesti kirjanike leksikon. Eesti Raamat, Tallinn 2000, S. 503.
  6. Jesuitenpater Christoph Wrembek zur Situation der Christen in Estland: „Hunger im Geist und in der Seele“, 4. November 2016, abgerufen am 5. September 2025.
  7. Jaan Kaplinski: Nachwort. In: Vello Salo: Jumalale on kõik võimalik. Radio Vaticana-Estone. Vatikani Raadio eestikeelsed saated 1948–1953 ja 1961–1965. Postimees Kirjastus, Tallinn 2023, S. 781–787.
  8. Anne Valmas: Eestlaste kirjastus tegevus välismaal 1944–2000, Band 1. Tallinna Pedagoogikaülikool, Tallinn 2003, ISBN 9985-58-284-5. S. 101–102.
  9. Zur Verbreitung des Werkes von Uku Masing durch Vello Salo siehe Armin Hetzer: Estnische Literatur. Eine historische Übersicht. Harrassowitz, Wiesbaden 2006, ISBN 3-447-05466-2, S. 124.
  10. Ilomaile. Anthology of Estonian folk songs with translations and commentary. Maarjamaa, Toronto 1985, ISBN 0-919635-05-9.
  11. Eesti keele etümoloogiline teatmik. Maarjamaa, Rom und Toronto 1982.
  12. Margherita Guidacci, Vello Salo (Hrsg.): Poeti Estoni. Edizioni Abete, Rom 1973; 2., erweiterte Aufl. 1975.
  13. Reet Bender: Übersetzungen deutschbaltischer Texte ins Estnische seit der Nachkriegszeit. Rückschau und Ausblick. In: Michael Garleff (Hrsg.): Zur Rezeption deutschbaltischer Literatur im 20. Jahrhundert. 13 Beiträge zum 25. Baltischen Seminar 2013. Carl-Schirren-Gesellschaft Lüneburg, Lüneburg 2019, ISBN 978-3-923149-74-2, S. 239–303, hier S. 254.
  14. Vello Salo: Jesuiten estnischer Abstammung, Vortrag bei der Johannes-Esto-Tagung am 30. August 2003 in Tartu.
  15. Marek Tamm: In search of lost time. Memory politics in Estonia, 1991–2011. In: Nationalities Papers. The Journal of Nationalism and Ethnicity, Jg. ; zitiert in Inge Melchior: Guardians of Living History. An Ethnography of Post-Soviet Memory Making in Estonia. Amsterdam University Press, Amsterdam 2020, ISBN 978-94-6298-902-3, S. 105.