Tractatus Coislinianus

Tractatus Coislinianus (Kürzel TC)
Originaltitel titelloser Traktat
Sprache Mittelgriechisch
Verfasser anonym
Entstehungszeit 10. Jahrhundert
Herkunft Byzantinisches Reich
Umfang 3 Folia (248v–249v)
Aufbewahrung Bibliothèque nationale de France, Coislin 120
Erstausgabe John Anthony Cramer: Anecdota Graeca (Oxford 1839)
Thema Poetik, Katharsis, Poetik
Genre Traktat
Henri-Charles du Cambout de COISLIN 17. Jhd. Namensgeber der Handschrift.

Bei dem sogenannten Tractatus Coislinianus handelt es sich um ein byzantinisch-griechisches Textfragment aus dem 10. Jahrhundert, um einen komödientheoretischen Traktat, der in der Terminologie der aristotelischen Poetik abgefasst ist. Systematische Unterteilungen werden im TC durch Diagramme dargestellt.[1]

Seit seiner schematischen Veröffentlichung im 19. Jahrhundert durch John Anthony Cramer[2] wird er als möglicher Kommentar oder aber als Zusammenfassung (Epitome)[3] des verlorenen „Zweiten Buches“ von Aristoteles’ Poetik kontrovers diskutiert.[4]

Sammelhandschrift und Überlieferung

Die Sammelhandschrift „Coislin 120“ entstand im 10. Jahrhundert und gehörte ab dem 13. Jahrhundert zum Bestande des Klosters Megisti Lavra auf dem Berg Athos.

Der kurze, anonyme und titellose Tractatus Coislinianus (TC) umfasst drei Folia, fol. 248v, 249r und 249v, in dieser Sammelhandschrift.[6] Wegen zahlreicher Ligaturen, Kürzeln, byzantinischer Minuskeln und des Fehlens einer durchgehenden Foliierung erfordert das byzantinische Manuskript spezielle paläographische und mediävistische Fachkenntnisse zur vollständigen Entzifferung.[7] Der Gräzist Richard Janko bemerkt zudem:

“The scribe has been somewhat careless. Accentual errors and incorrect breathings abound: punctuation is erratic. ... Vowel confusions are common...”

„Der Schreiber war etwas nachlässig. Es wimmelt nur so von Akzentfehlern und falschen Spiritus: die Zeichensetzung ist unregelmäßig. ... Vokalfehler sind häufig..“

Richard Janko: Aristotle on Comedy: Towards a Reconstruction of Poetics II., S. 6[8]

1643 sandte der zypriotischer Priester Athanasios Rhetor von Athos das Manuskript an den französischen Kanzler Pierre Séguier. Dieser übergab es seinem Neffen Henri-Charles du Cambout de Coislin, der die Handschrift der Benediktinerabtei Saint-Germain-des Prés in Paris vermachte.

Während der französischen Revolution wurde die Handschrift 1795 als Teil der säkularisierten Klosterbestände in den Fonds Coislin der Bibliothèque nationale de France integriert.[9]

Die wichtigsten Stationen der Überlieferung lassen sich in folgender Zeitleiste zusammenfassen:

Überlieferung der Handschrift Coislin 120
Zeitraum Ereignis Ort/Person
10. Jh. Entstehung Byzanz
13. Jh. Lagerung Kloster Megisti Lavra (Athos)
1643 Versand an Frankreich An Pierre Séguier (durch Athanasios Rhetor)
1663–1732 Besitz und Vermächtnis Henri-Charles du Cambout de COISLINBenediktinerabtei Saint-Germain-des-Prés (Paris)
1795 Säkularisation der Klosterbestände Integration in Nationalbibliothek → Fonds Coislin BnF (Paris)

Inhalt

Aristoteles Poetik Über die Dichtkunst[10]

Der Tractatus entwickelt eine Theorie der Komödie in aristotelischen Tradition. Er beschreibt, wie die Komödie – ähnlich der Tragödie in Aristoteles' Poetik – durch Lachen und Vergnügen eine kathartische Wirkung entfaltet.

«Καὶ δι᾿ ἀπαγγελίας, δι᾿ ἡδονῆς καὶ γέλωτος, περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν.»

„Kaì di’ apangelías, di’ hēdonês kaì gélōtos, perainoúsa tēn tōn toioutōn pathēmátōn kátharsin“

„Und durch Darstellung, Lust und Gelächter vollendet sie die Katharsis (Reinigung) solcher Affekte.“

John Anthony Cramer: Anecdota Graeca.[11]

Aufgrund dieser inhaltlichen Nähe zur aristotelischen Terminologie, der Katharsis-Theorie und wegen der schematischen Unterteilungen wird der Tractatus als möglicher Zeuge eines verlorenen zweiten Buchs der Poetik (Poetik II) diskutiert. In Aristoteles' Poetik (I) sind die Teile der Tragödie vier: „Prolog, Episode, Exodos und Chorpartie.“[12] Im Tractatus wird diese vierteilige Gliederung auf die Komödie übertragen:[13]

«Μέρη τῆς κωμῳδίας τέσσαρα· πρόλογος, χορικόν, ἐπεισόδιον, ἔξοδος.»

„Mérē tēs kōmōidías téssara: prólogos, chorikón, epeisódion, éxodos“

„Die Teile der Komödie sind vier: Prolog, Chorlied, Episode, Exodus.“

John Anthony Cramer: Anecdota Graeca.[14]

Auch die Definition der Komödie im Tractatus sei in Parallelität zur Tragödiendefinition entstanden, wie sie Aristoteles am Anfang des 6. Kapitels seiner Poetik gegeben hat. Diese These untermauert der klassische Philologe Reinhold F. Glei anhand einer synoptische Gegenüberstellung:[15]

Tragödiendefinition des Aristoteles (Poetik 6, 1449b 24-28): Komödiendefinition im Tractatus

ἔστιν οὖν τραγῳδία
μίμησις πράξεως σπουδαίας καὶ τελείας μέγεθος ἐχούσης,
ἡδυσμένῳ λόγῳ
χωρὶς ἑκάστῳ τῶν εἰδῶν ἐν τοῖς μορίοις,
δρώντων καὶ οὐ δι᾽ ἀπαγγελίας
δι᾽ ἐλέου καὶ φόβου
περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν.

Die Tragödie ist also
eine Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung
von bestimmter Größe in anziehend geformter Sprache,
wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten
je verschieden angewandt werden –
Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht,
die Jammer und Schaudern hervorruft
und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.

κομφδία έστι
μίμησις πράξεως γελοίας
και άμοίρου μεγέθους τελείου (...)
χωρίς έκάστῳ των μορίων ἐν τοῖς εἶδεσι
δρῶντος και δι’ ἀπαγγελίας
δι’ ἡδονῆς καὶ γέλωτος
περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν.

Die Komödie ist
Nachahmung einer lächerlichen Handlung
ohne entsprechende Größe (...),
wobei die einzelnen Abschnitte in den formenden Mitteln
je verschieden angewandt werden –
Nachahmung eines Handelnden und durch Bericht,
die Vergnügen und Gelächter hervorruft
und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.

Rezeption in der Wissenschaft

Die wissenschaftliche Rezeption des Tractatus Coislinianus reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Seit der Erstedition von Cramer 1839 wurde der Traktat wiederholt als mögliche Epitome von Poetik II, dem Zweiten Buch von Aristoteles’ Poetik interpretiert.

Timeline: Rezeption des Tractatus Coislinianus in der Wissenschaft
Jahr Forscher Beitrag
1839 J. A. Cramer Erstveröffentlichung der griechischen Schemata des TC, in: Anecdota Graeca, Epitome der Poetik II
1853 Jakob Bernays Produkt eines ungeschickten Kompilators, in: Ergänzung zu Aristoteles' Poetik
1922 Lane Cooper Übersetzung ins Englische, erste Rekonstruktion der Poetik II, in: The Aristotelian Theory of Comedy
1980 Umberto Eco literarische Rekonstruktion der ersten Seite von Poetik II in: Der Name der Rose
1984/87 Richard Janko philologische Rekonstruktion der Poetik II, in: Aristotle on Comedy (1984); Aristotle Poetics (1987)
1990 H.-G. Nesselrath TC enthält nach-aristotelisches Material, in: Die attische Mitlere Komödie
2015 Walter Watson erneute Rekonstruktion in The Lost Second Book of Aristotle’s “Poetics”

John Anthony Cramer, Altertumswissenschaftler, veröffentlichte im Jahr 1839 zum ersten Male den griechischen Tractatus in seinen Anecdota Graeca e codicibus manuscriptis bibliothecarum Oxoniensium descripta. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine vollständige diplomatische Edition, sondern um eine komprimierte, interpretierende Darstellung der drei Folia des TC.

Cramer hält den TC für einen Kommentar zu Aristoteles' Abhandlung über die Kunst der Poesie. Im lateinischen Vorwort zum TC schreibt er in den Anecdota Graeca:

“Verba credo sunt alicujus Commentatoris in Aristotelis tractatum de Poetica...”

„Die Worte, so glaube ich, sind die eines Kommentators von Aristoteles' Abhandlung über Poetik.“

John Anthony Cramer: Anecdota Graeca, 1839, S. 403[16]

Der klassische Philologe Jakob Bernays entwertete 1853 den Tractatus in seinem Aufsatz Ergänzung zu Aristoteles' Poetik,[17]in dem er den Nachweis zu führen versuchte, dass der erste Teil des Tractatus, insbesondere die Komödiendefinition, das Produkt eines ungeschickten Kompilators sei und nicht auf authentisch Aristotelisches Material zurückgehe.[18]

Lane Cooper, Anglist und Literaturwissenschaftler an der Cornell University, veröffentlichte 1922 eine englische Übersetzung von Cramers Tractatus Coislinianus in seinem Buch An Aristotelian Theory of Comedy with an Adaptation of the Poetics and a Translation of the Tractatus Coislinianus.[19] Coopers Übersetzung sollte eine Schrift für Leser ohne Griechischkenntnisse sein.[20] Er lässt offen, ob es sich beim TC wirklich um einen aristotelischen Text handelt. Er betont die Kernaussage des Tractatus, nach der auch die Komödie eine Form der Katharsis bewirke:

“As in tragedies there should be a due proportion of fear, so in comedies there should be a due proportion of laughter.”

„So wie in Tragödien eine angemessene Menge Angst vorhanden sein sollte, so sollte in Komödien eine angemessene Menge Gelächter vorhanden sein.“

Lane Cooper: An Aristotelian Theory of comedy with an adaptation of the poetics and a translation of the „Tractatus coislinianus“[21]

Der Gräzist Richard Janko versuchte ab 1984 auf Grundlage des Tractatus das hypothetische zweite Buch der Poetik zu rekonstruieren.[22][23] Zu Lane Coopers Schrift bezog er sehr kritisch Stellung. Vor allem warf er ihm vor, ein rein englischsprachiges Buch geschrieben und auf jedwedes griechische Wort verzichtet zu haben:

“Cooper avoids commiting himself to the authenticity of the Tractate, and instead reconstructs an Aristotelian theory of comedy by translating the extant ‚Poetics‘ into comic terms, a speculative and hazardous as well as as stimulating venture. In a lengthy appendix (227–286) he amplifies the Tractatus with copious illustration ans discussion, producing more arguments against Bernays; however, desirous of writing a book intelligible to the Greekless reader, he employs translation throughout, and any defense of the Tractatus' authenticity must begin with its Greek text.”

„Cooper vermeidet es, sich zur Authentizität des Traktats zu bekennen, und rekonstruiert stattdessen eine aristotelische Theorie der Komödie, indem er die überlieferte ‚Poetik‘ in Begriffe des Komischen überträgt – ein spekulatives und gewagtes, aber auch anregendes Unterfangen. In einem langen Anhang (227–286) ergänzt er den Tractatus mit reichlichen Veranschaulichungen und Erörterungen und bringt weitere Argumente gegen Bernays vor; da er jedoch ein für den des Griechischen nicht mächtigen Leser verständliches Buch schreiben wollte, verwendet er durchgängig Übersetzungen, dabei muss doch jede Verteidigung der Authentizität des Tractatus mit seinem griechischen Text beginnen.“

Richard Janko: Aristotle on Comedy: Towards a Reconstruction of Poetics II, S. 3[24]

Der Altphilologe Heinz-Günther Nesselrath setzte sich in seiner Habilitatiionsschrift Die attische Mittlere Komödie auf den Seiten 102 – 149 kritisch mit dem TC auseinander, insbesondere mit der von Richard Janko vertretenen These, der TC sei eine Epitome der Poetik II des Aristoteles:

„Janko hält jeden Teil des TC für reines aristotelisches Gut, damit auch den Schlussparagraphen, in dem drei verschiedene Komödienepochen aufgeführt und charakterisiert werden; ist wirklich alles im TC von Aristoteles, so würde dieser auch zum ‚Erfinder‘ der Mittleren Komödie. Jankos Rückführung des ganzen TC auf Aristoteles erscheint schon auf den ersten Blick so kühn, daß kaum ein Rezensent sie bisher ohne weiteres akzeptieren wollte.“

Heinz-Günther Nesselrath: Die attische Mittlere Komödie: Ihre Stellung in der antiken Literaturkritik und Literaturgeschichte, S. 104/105[25]

Laut Nesselraths Studien ist es höchst unwahrscheinlich, dass der TC in seiner Gänze auf Aristotles zurückgehe. Stattdessen argumentiert Nesselrath, dass der Traktat Material enthalte, welches auf seinen Schüler Theophrastus zurückgehe.[26]

Walter Watson, US-amerikanische Philosoph, stützt 2012 mit philosophischen, nicht-philologischen Argumenten in The Lost Second Book of Aristotle’s Poetics die Annahme Jankos, der Tractatus sei eine Zusammenfassung des vermuteten zweiten Buches der Poetik.[27] Ausschlaggebend sei, dass die Komödientheorie im TC makellos mit Aristoteles Tragödien- und Dichtungstheorie harmoniere:

“We have found an excellent fit between what can be expected in Book II and what the epitome tells us was in it. Everything that we expected is there except the ends of the three kinds of poetry, and we have explained why they are missing. […] A number of problems remain to be solved, but we can, I think, proceed to their solution with confidence in the epitome's general reliability.”

„[Nach genauer Durchsicht der Thesen im TC] haben wir eine ausgezeichnete Übereinstimmung festgestellt zwischen dem, was in Buch II [von Aristoteles′ Poetik] zu erwarten ist, und dem, was das Epitome [TC] uns darüber berichtet, was darin enthalten gewesen sei. Alles, was wir erwartet haben, findet sich dort, mit Ausnahme der Zwecke der drei Dichtungsarten – und wir haben erklärt, warum sie fehlen. […] Eine Reihe von Problemen bleibt noch zu lösen, doch können wir, so denke ich, mit Vertrauen in die allgemeine Zuverlässigkeit des Epitomes an ihre Lösung herangehen.“

Walter Watson: The Lost Second Book of Aristotle’s “Poetics”, S. 95 f.[28]

In einer positiven Rezension zu Watsons Buch schreibt Richard F. Hardin:

“Philology alone has failed to settle the matter of authenticity, but Watson believes that philosophy can augment philology through support from what he calls his “symbolon argument.” The term refers to the ancient Greek practice of guaranteeing contracts by giving each of the parties the broken half of a durable object such as a vertebra, each half of which was called a symbolon. The task, then, is to prove that the epitome of Book Two fits not just with what is said in Book One but with Aristotle’s general practices and body of work.”

„Die Philologie allein hat die Frage der Authentizität nicht klären können, doch Watson glaubt, dass die Philosophie die Philologie durch sein sogenanntes „Symbolon-Argument“ unterstützen kann. Der Begriff bezieht sich auf die altgriechische Praxis, Verträge dadurch zu garantieren, dass jeder Vertragspartner die abgebrochene Hälfte eines haltbaren Gegenstands, beispielsweise eines Wirbels, erhielt; jede Hälfte wurde als Symbolon bezeichnet. Die Aufgabe besteht also darin, zu beweisen, dass die Epitome des zweiten Buches nicht nur mit dem übereinstimmt, was im ersten Buch gesagt wird, sondern auch zu Aristoteles’ allgemeiner Arbeitsweise und seinem Gesamtwerk passt.“

Richard F. Hardin Rezension[29]

Daniel Larose schreibt dagegen eine sehr negative Rezension zu Watsons Buch:

« Watson n’apporte pas, comme il le prétend, une contribution nouvelle aux travaux de Janko. Ce dernier demeure la référence en ce qui concerne le livre deux de la poétique. L'ouvrage de Watson ne sera utile ni aux spécialistes d'Aristote, en raison d'un usage déficient de la littérature savante, ni aux débutants qui risquent, sur plusieurs points, d'être induits en erreur. »

„Watson liefert entgegen seiner Behauptung keinen neuen Beitrag zu Jankos Arbeiten. Letzterer bleibt der Standard für das zweite Buch der Poetik. Watsons Werk wird weder Aristoteles-Spezialisten von Nutzen sein, da es die wissenschaftliche Literatur nicht ausreichend berücksichtigt, noch Anfängern, die Gefahr laufen, in mehreren Punkten in die Irre geführt zu werden.“

Daniel Larose: Review of The Lost Second Book of Aristotle’s Poetics, by W. Watson, S. 156.[30]

Der Name der Rose und der Tractatus Coislinianus

Aristoteles selbst kündigte im Kapitel 6, 1449b21 (Bekker-Zählung) seiner erhaltenen Poetik (I) eine spätere Behandlung der Komödie und des Epos (epische Dichtung in Hexametern) an, weshalb die Existenz eines zweiten Bandes der Poetik vermutet wird:

“περὶ μὲν οὖν τῆς ἐν ἑξαμέτροις μιμητικῆς καὶ περὶ κωμῳδίας ὕστερον ἐροῦμεν.”

„Perì mèn oûn tês en hexamétrois mimētikês kaì perì kōmōidías hýsteron eroûmen.“

„Von derjenigen Kunst, die in Hexametern nachahmt, und von der Komödie werden wir später reden.“[31]

Im Roman Der Name der Rose (1980) von Umberto Eco spielt das fiktive, angeblich verschollene „zweite Buch“ von Aristoteles’ Poetik, das die Komödie und das Lachen behandelt, eine Schlüsselrolle. Es wird als subversives, „verbotenes Buch“ dargestellt, da inkompatibel zur christlichen Lehre.

Im Kapitel „Siebenter Tag, Nacht“ findet der Protagonist William von Baskerville das verloren geglaubte Buch. Eco lässt ihn daraus die erste Seite vorlesen. Im Buch ist der Text kursiv gedruckt, handelt es sich doch um eine „literarische Rekonstruktion“ der fiktiven aristotelischen Poetik II:

„Im ersten Buch haben wir die Tragödie behandelt... Hier wollen wir nun, wie versprochen, die Komödie behandeln... und darlegen, wie sie durch Erweckung von Vergnügen am Lächerlichen zu einer Reinigung von ebendiesen Gefühlen führt. ...“[32]

Walter Watson argumentiert, dass Ecos „literarische Rekonstruktion“ sich auf Auszüge aus dem Tractatus Coislinianus stützt:

“Eco actually includes in this novel a summary of the contents of the second book taken directly from the epitome.”

„Eco fügt in diesen Roman tatsächlich eine Zusammenfassung des Inhalts des zweiten Buches ein, die direkt aus der Epitome [=der TC] stammt.“

Walter Watson: The Lost Second Book of Aristotle's 'Poetics' , S. 14[33]

Constantino Marmo, Professor für Semiotik an der Universität Bologna, weist in diesem Zusammenhang auf eine chronologische Merkwürdigkeit hin. Umberto Eco schrieb seinen Roman bereits im Jahre 1980, während Richard Jankos Buch Aristotle on Comedy. Toward a reconstruction of Poetics II erst 1984 erschienen ist.

Wieso Eco, einem Nicht-Gräzisten, der Tractatus schon vor Erscheinen von Jankos Buch bekannt gewesen sein konnte, geht aus einem Brief Richard Jankos hervor, den Constantino Marmo zitiert. Demnach hatte sich Umberto Eco während seiner Arbeit am Roman Der Name der Rose von Benedetto Marzullo, einem italienischen Altphilologen, beraten lassen. Marzullo habe Eco auf den Tractatus hingewiesen, der wahrscheinlich eine Epitome von Poetik II, dem verschollenen Zweiten Buche, sei, dessen Inhalte er in seinen Roman einfließen lassen könne.

Bei einer Begegnung zwischen Richard Janko und Umberto Eco sei es zu folgendem Dialog gekommen:

“I took the opportunity to ask him how the idea came to him that the manuscript most likely to have something to do with the second book of Poetics was the Tractatus Coislinianus. He explained to me that he had consulted a very learned colleague in Milan, Benedetto Marzullo, who had informed him of the possibility.”

„Ich nutzte die Gelegenheit, ihn zu fragen, wie er auf die Idee gekommen sei, dass ausgerechnet der Tractatus Coislinianus am ehesten etwas mit dem zweiten Buch der Poetik zu tun haben könnte. Er erklärte mir, er habe einen sehr gelehrten Kollegen in Mailand konsultiert, Benedetto Marzullo, der ihn auf diese Möglichkeit hingewiesen habe.“

Costantino Marmo: On the Reception of Aristotle’s Poetics in the Middle Ages – and a Case Study of The Name of the Rose, S. 162[34]

Literatur

  • (Bibliographie) Omert J. Schrier: The Poetics of Aristotle and the Tractatus Coislinianus: A Bibliography from about 900 Till 1996, Bril, Leiden 1998, ISBN 978-9004111325
  • Helmut von Ahnen: Das Komische auf der Bühne. Versuch einer Systematik (= Theaterwissenschaft. Nr. 6). Herbert Utz Verlag, München 2006, ISBN 3-8316-0569-6, S. 87–110. – unvollständige Vorausschau auf der Verlagsseite: (utzverlag.de PDF).
  • Jacob Bernays: Ergänzungen zu Aristoteles' Poetik. In: Zwei Abhandlungen über die aristotelische Theorie des Drama. Verlag von Wilhelm Hertz, Berlin 1880, ab S. 136 ff über Tractatus Coislinianus – Internet Archiv.
  • John Anthony Cramer (Hrsg.): Anecdota Graeca. E codicibus manuscriptis bibliothecae regiae Parisiensis. Olms, Hildesheim 1967 (Vier Bände; Nachdr. d. Ausg. Oxford 1839/41), Band I, Addenda, S. 403, Codex Coislianus 120 (babel.hathitrust.org).
  • Lane Cooper: An Aristotelian Theory of comedy with an adaptation of the poetics and a translation of the „Tractatus coislinianus“. Kraus Reprint, New York 1969 (Textarchiv – Internet Archive).
  • Martin Hose (Hrsg.): Aristoteles, ›Poetik‹: Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar. Mit einem Anhang: Texte zur aristotelischen Literaturtheorie (Sammlung wissenschaftlicher Commentare (SWC)). De Gruyter 2022, ISBN 978-3-11-070319-1, S. 504–506 und S. 542–547, Inhaltsverzeichnis auf Verlagsseite.
  • Richard Janko: Aristotle on Comedy: Towards a Reconstruction of Poetics II. Duckworth London 1984/2002, ISBN 0-7156-3169-1 (auf Scribd – Volltext-PDF)
  • Richard Janko: Aristotle Poetics: with the Tractatus Coislinianus, reconstruction of Poetics II, and the fragments of the On Poets: A Hypothetical Reconstruction of Poetics II. Hackett Publishing, 1989, ISBN 0-87220-034-5 (Textarchiv – Internet Archive).
    • Rezension: Arnott WG. Aristotle’s Poetics, Plus… - Richard Janko. Aristotle’s Poetics I, with the Tractatus Coislinianus, a Hypothetical Reconstruction of Poetics II, the Fragments of the On Poets (Translated, with Notes). Pp. xxvi + 235. Indianapolis and Cambridge, MA: Hackett Publishing Company, 1987. In: The Classical Review. 1989;39(2): pp. 195-196. doi:10.1017/S0009840X00271345.
    • (Französisch) Simon Byl: L’Antiquité Classique, vol. 60, 1991, pp. 355–56. JSTOR, Rezension Aristotle Poetics, in: L’Antiquité Classique, vol. 60, 1991, pp. 355–56. – auf JSTOR,Accessed 29 Aug. 2025.
  • Georg Kaibel: Die Prolegomena περὶ κωμῳδίας [Peri Kōmōidias]. Weidmann, Berlin 1898; Die Prolegomena περὶ κωμῳδίας – Internet Archiv, insbesondere Seiten 53ff.
  • Nesselrath, Heinz-Günther. 1990. Die attische mittlere Komödie: ihre Stellung in der antiken Literaturkritik und Literaturgeschichte. (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte. vol. Band 36). Walter de Gruyter, Berlin, ISBN 3-11-012196-4, Kapitel II, 2, S. 102–149.
  • Walter Watson: The Lost Second Book of Aristotle's 'Poetics. University of Chicago Press, 2015, ISBN 978-0-226-27411-9, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
    • (Französisch) Rezension von Daniel Larose: Review of The Lost Second Book of Aristotle’s Poetics, by W. Watson. In: Revue de Métaphysique et de Morale. Band 1, 2015, S. 150–156, JSTOR:24311659.
    • (Englisch) Rezension von Richard F. Hardin, University of Kansas – in BMCR, 29. Juni 2014.

Einzelnachweise

  1. Martin Hose (Hrsg.): Aristoteles, ›Poetik‹: Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar. Mit einem Anhang: Texte zur aristotelischen Literaturtheorie (Sammlung wissenschaftlicher Commentare (SWC)). De Gruyter 2022, ISBN 978-3-11-070319-1, Band 2, S. Anhang, S. 505; Inhaltsverzeichnis – auf Verlagsseite
  2. John Anthony Cramer: Anecdota Graeca. Band 1, Oxford 1839, S. 403–406 (babel.hathitrust.org)
  3. Richard Janko: Aristotle on Comedy: Towards a Reconstruction of Poetics II. Duckworth, London 1984, ISBN 0-7156-3169-1, S. 42 im Buch, Seite 54 auf Scribd (Volltext-PDF)
  4. Martin Hose (Hrsg.): Aristoteles, ›Poetik‹: Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar. Mit einem Anhang: Texte zur aristotelischen Literaturtheorie (Sammlung wissenschaftlicher Commentare (SWC)). De Gruyter 2022, ISBN 978-3-11-070319-1, Band 2, S. Anhang, S. 416; Inhaltsverzeichnis – auf Verlagsseite
  5. Abgebildet sind die ersten beiden Seiten von COISLIN 120, fol. 248v–249r und fol. 249v, den drei Folia des TC.
  6. COISLIN 120, fol. 248v–249r – unklare Zuordnung der Seiten. Gallica ordnet Scans digital zu. „NP“ (non paginé) statt fol. nr. Eine Seitenbezeichnung sieht man oben rechts „249“.
  7. Beschreibung der Sammelhandschrift Coislin 120 - (auf Französisch)
  8. Richard Janko: Aristotle on Comedy: Towards a Reconstruction of Poetics II. Duckworth London 1984, ISBN 0-7156-3169-1 auf Scribd – Volltext-PDF – S. 14 auf Scribd.
  9. Martin Hose (Hrsg.): Aristoteles, ›Poetik‹: Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar. Mit einem Anhang: Texte zur aristotelischen Literaturtheorie (Sammlung wissenschaftlicher Commentare (SWC)). De Gruyter 2022, ISBN 978-3-11-070319-1, S. 505.
  10. Bibliographische Angabe: Aristotelis Opera, edidit Immanuel Bekker, Tomus II. Berolini (Berlin): apud G. Reimer, 1837. Darin: Περὶ ποιητικῆς (De Poetica), S. 1447a–1462b (nach Bekker-Zählung).
  11. John Anthony Cramer: Anecdota Graeca. Band 1, Oxford 1839, Addenda S. 404 (babel.hathitrust.org).
  12. Aristoteles Poetik, übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, S. 37, Reclam 1982, ISBN 978-3-15-007828-0
  13. TC, fol. 249v Folium links, erstes Diagramm. Man liest: πρόλογος, χορικόν, ἐπεισόδιον, ἔξοδος.
  14. John Anthony Cramer: Anecdota Graeca. Band I, Addenda, Oxford 1839, S. 405 (über dem Diagramm babel.hathitrust.org).
  15. Reinhold F. Glei: Aristoteles im Mönchskloster. Bemerkungen zum zweiten Buch der Poetik In: (Poetica 22, 1990, S. 289/290), doi.
  16. John Anthony Cramer: Anecdota Graeca. Vol. I, Oxford 1839, S. 403 auf babel.hathitrust.org]
  17. Jakob Bernays: Ergänzung Zu Aristoteles’ Poetik. In: Rheinisches Museum Für Philologie, vol. 8, 1853, pp. 561–96. JSTOR – Accessed 20 Aug. 2025.
  18. Reinhold F. Glei: Aristoteles im Mönchskloster. Bemerkungen zum zweiten Buch der Poetik. In: Poetika. Band 22, Nr. 3–4, 1990, S. 282–303, hier 289, doi:10.30965/25890530-0220304003.
  19. Lane Cooper: An Aristotelian Theory of comedy with an adaptation of the poetics and a translation of the „Tractatus coislinianus“. Kraus Reprint, New York 1969, S. 224–226 (Nachdr. d. Ausg. New York 1922; Übersetzung des Tractatus ins Englische: Textarchiv – Internet Archive).
  20. Richard Janko: Poetics: with the Tractatus Coislinianus, reconstruction of Poetics II, and the fragments of the On Poets: A Hypothetical Reconstruction of Poetics II. Hackett Publishing, 1989, ISBN 0-87220-034-5, S. 3 (Textarchiv – Internet Archive): für „the Greekless reader“.
  21. Lane Cooper: An Aristotelian Theory of comedy with an adaptation of the poetics and a translation of the „Tractatus coislinianus“. Kraus Reprint, S. 226 oben (Textarchiv – Internet Archive).
  22. Richard Janko: Aristotle on Comedy. Towards a Reconstruction of Poetics II. Duckworth London 1984/2002, ISBN 0-7156-3169-1
  23. Richard Janko: Poetics: with the Tractatus Coislinianus, reconstruction of Poetics II, and the fragments of the On Poets: A Hypothetical Reconstruction of Poetics II. Hackett Publishing, 1989, ISBN 0-87220-034-5, S. 47 (Textarchiv – Internet Archive).
  24. Richard Janko: Aristotle on Comedy. Towards a Reconstruction of Poetics II. Duckworth London 1984/2002, ISBN 0-7156-3169-1, S. 3 Volltext PDF – auf Scribd
  25. Heinz-Günther Nesselrath: Die attische Mittlere Komödie. Ihre Stellung in der antiken Literaturkritik und Literaturgeschichte. Walter de Gruyter, Berlin, New York 1990, ISBN 3-11-012196-4, S. 104 f. (Vorschau in der Google-Buchsuche).
  26. Heinz-Günther Nesselrath: Die attische Mittlere Komödie. Ihre Stellung in der antiken Literaturkritik und Literaturgeschichte. Walter de Gruyter, Berlin, New York 1990, ISBN 3-11-012196-4, S. 149.
  27. Vergleiche bereits Walter Watson: The Lost Second Book of Aristotle’s “Poetics”. University of Chicago Press, 2015, ISBN 978-0-226-27411-9. S. 9 f. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  28. Walter Watson: The Lost Second Book of Aristotle’s “Poetics”. University of Chicago Press, 2015, ISBN 978-0-226-27411-9, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  29. (Englisch) Rezension von Richard F. Hardin, University of Kansas – in BMCR, 29. Juni 2014.
  30. (Rezension auf Französisch): Daniel Larose: Review of The Lost Second Book of Aristotle’s Poetics, by W. Watson. In Revue de Métaphysique et de Morale, 1, 150–156, 2015, JSTOR:24311659, S. 156.
  31. Aristotle, Poetics, section 1449b21 – auf Perseus Digital Library
  32. Umberto Eco: Der Name der Rose. dtv München, 34. Auflage 2015, S. 613 (im Kapitel „Siebenter Tag, Nacht“ kursiv gedruckt)
  33. Walter Watson: The Lost Second Book of Aristotle's 'Poetics' . University of Chicago Press 2015, ISBN 978-0226274119, S. 14, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche
  34. Constantino Marmo: On the Reception of Aristotle’s Poetics in the Middle Ages – and a Case Study of The Name of the Rose. In: Brill's Companion to the Reception of Aristotle's Poetics. S. 162.