Theodor Dierlamm
Theodor Dierlamm (* 29. November 1912 in Hülben bei Urach; † 4. Januar 2004) war ein deutscher Pädagoge, der als Rektor an der Heimsonderschule der Heil- und Pflegeanstalt Stetten im Remstal (heute Diakonie Stetten) wirkte und ein Wegbereiter für das Recht von Menschen mit geistiger Behinderung auf schulische Bildung war.
Leben und Wirken
Beruflicher Werdegang
Theodor Dierlamm wuchs mit vier Geschwistern in Hülben (Landkreis Reutlingen) auf. Sein Vater war der Pfarrer Theodor Dierlamm (1878–1965), verheiratet mit Marie Antonie, geb. Haug.[1]
Nach der Grundschule (damals Volksschule) in Hülben und Ludwigsburg besuchte Dierlamm von 1922 bis 1924 zunächst das Gymnasium in Ludwigsburg, wechselte dann auf das Reform-Realprogymnasium in Korntal und schloss es 1928 mit der Mittleren Reife ab. Dann besuchte er die Lehrerbildungsanstalt Backnang, wo er 1933 die erste Volksschuldienstprüfung ablegte. Von 1934 bis 1935 unterrichtete er am Erziehungsheim in Stammheim (Calw) und absolvierte von 1935 bis 1936 in München einen staatlichen heilpädagogischen (sonderpädagogischen) Ausbildungslehrgang mit abschließender zweiter Dienstprüfung für staatliche Hilfsschullehrkräfte (Sonderpädagogen). Danach erhielt er eine Stelle als Lehramtsanwärter an einer Hilfsschule in Esslingen am Neckar.[2]
Während des Aufbaustudiums in München nahm Dierlamm im Januar 1936 an einem Vortrag des Leiters des Rassepolitischen Amtes der NSDAP, Walter Groß, teil. Der Referent sprach vor dem Publikum aus Amtsärzten und Pädagogen über die NS-Rassenlehre, Erbkrankheiten und die sich daraus ergebende „Notwendigkeit“ erbkranke Personen zu sterilisieren. Seine kirchen- und behindertenfeindlichen Äußerungen wurden vom christlich geprägten Dierlamm verbotenerweise schriftlich aufgezeichnet und gelangten später auf ein Flugblatt der Bekennenden Kirche Baden-Württembergs. Nach Aufdeckung des Vorgangs wurde Dierlamm von der Gestapo befragt und verhaftet.[3][4] Er saß im Juni 1937 einige Tage im Polizeigefängnis am Alexanderplatz in Berlin ein und wurde wegen politischer Unzuverlässigkeit bis Ende August 1937 aus dem staatlichen Schuldienst entlassen.[2][5]
Im April 1938 verließ Dierlamm seine Arbeitsstelle in Esslingen und ging nach Loßburg-Rodt (Landkreis Freudenstadt) an die dortige private Sonderschule, eine Zweigstelle der Gustav Werner Stiftung zum Bruderhaus (Reutlingen), heute BruderhausDiakonie.[2][5]
Im selben Jahr heiratete er Margarethe, geborene Steigleder, aus Fellbach. Ihnen wurden vier Kinder geboren.[2]
Von 1940 bis 1945 leistete Dierlamm Wehrdienst und geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft in Sibirien, aus der er Anfang 1950 entlassen wurde.[2][5]
Im selben Jahr kam Dierlamm als Lehrkraft an die damalige Anstalts-Schule in Stetten im Remstal und wurde zugleich als Heimleiter (Hausvater) des Schülerwohnheims eingestellt. Frau Dierlamm wurde als HTW-Lehrerin, neben ihrer Tätigkeit als Hausmutter, der hauswirtschaftliche Unterricht übertragen. Dierlamm stieg rasch zum Schulleiter auf und wurde 1952 zum Rektor der Schule ernannt, ein Amt, das er bis zu seinem Ruhestand 1980 innehatte.[2]
Einsatz für das Recht auf Bildung
Es gehörte zu Theodor Dierlamms Überzeugungen, dass selbst Kinder und Jugendliche mit schweren geistigen Einschränkungen bildungsfähig sind und somit ein Recht auf Förderung und Beschulung haben. Dafür setzte er sich neben seiner Tätigkeit und Aufbauarbeit als Schul- und Heimleiter über viele Jahre in zahlreichen Verbänden ein, darunter im Bundesverband Deutscher Sonderschulen (heute Verband Sonderpädagogik), als zweiter Vorsitzender im Landesverband dieses Vereins und im Gesamtvorstand, im pädagogischen Ausschuss des Bundesverbands „Lebenshilfe“ und im Ausschuss des Landesverbandes für Erziehungs- und Behindertenhilfe Württemberg.[2][4]
Sein in Stetten erprobtes Bildungsplankonzept wurde zur Grundlage des ersten Bildungsplans an Schulen für Geistigbehinderte in Baden-Württemberg von 1968. Dierlamm leistete zudem wichtige Vorarbeiten für die Fassung der Schulrechte von Bildungsschwachen im Schulverwaltungsgesetz (Gesetz zur Vereinheitlichung und Ordnung des Schulwesens), das 1965 in Kraft trat und zur Schulpflicht von Kindern mit geistiger Behinderung oder Lernbehinderung führte, weil man ihnen nun Bildungsfähigkeit zuerkannte.[2][4]
Seit 1954 war Dierlamm auch Beauftragter für die Lehrerfortbildung innerhalb des Verbandes Evangelischer Einrichtungen für geistig-seelisch Behinderte (heute Bundesverband evangelische Behindertenhilfe). Er trat für die fachgerechte Ausbildung des Lehr- und Erziehungspersonals sowohl für die Schulen selbst als auch die entsprechenden Kindergärten ein. So gehörte er zu den Gründervätern des Fachseminars für Sonderpädagogik in Reutlingen.[4][6]
1977 erhielt er für sein pädagogisches Engagement den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg.[7]
1980 trat er in den Ruhestand und verstarb Anfang Januar 2004.[2]
Im Jahr 2006 wurde die damalige Sonderschule für Geistigbehinderte in Theodor-Dierlamm-Schule (TDLS) umbenannt.[5][6]
Seit 2016 nennt sich die TDLS Privates sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) mit den Förderschwerpunkten geistige sowie körperliche und motorische Entwicklung (Bildungsgang Geistige Entwicklung) in freier Trägerschaft am Heim der Diakonie Stetten.
Schriften (Auswahl)
Während seiner beruflichen Zeit in Stetten schrieb Dierlamm häufig Artikel in pädagogischen Fachzeitschriften. Im Ruhestand widmete er sich vermehrt lokalhistorischen Themen und verfasste und illustrierte entsprechende Werke.
Fachartikel
- Die Vorklassen unserer Hilfsschule. In: Zeitschrift für Heilpädagogik. Band 6, 1955, S. 317–322.
- Erstleseunterricht in einer Schwachsinnigenschule. In: Zeitschrift für Heilpädagogik. Band 9, Heft 12, 1958, S. 539–546.
- Die Mittelstufe an der Heimsonderschule der Heil- und Pflegeanstalt Stetten i. R. In: Lebenshilfe e. V. (Hrsg.): Zur Methodik und Praxis der Bildungsarbeit in Tageseinrichtungen für geistig behinderte Kinder. Band 1, Marburg/Lahn 1962, S. 36–48.
- Rechtliche Grundlagen der Sonderschule für geistig Behinderte. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, Sonderheft April 1966, S. 160–163.
- mit Emanuel Bernart und Johann Romann: Zur Frage der Lehrkräfte für geistigbehinderte Kinder und Jugendliche. In: Zeitschrift für Heilpädagogik. Band 21, 1970, S. 506–509.
- Sonderschule in Baden-Württemberg. In: Zeitschrift für Heilpädagogik. Band 35, Heft 17, 1984, S. 73–74.
Lokalhistorische Werke
- Die Bilderpredigt der Schlosskapelle Stetten i. R. 1681. Verlag Anstalt Stetten, 1981.
- 600 Jahre Schloß Stetten: 1387–1987, Rückblick auf ein Jahrtausend vergangener Zeit in Wort und Bild. Gemeinde Kernen im Remstal (Hrsg.), Verlag Anstalt Stetten, 1987.
- Der Anfang: Carl Georg Haldenwang. Im Beziehungsgeflecht der Gründerzeit. In: Walther Dreher (Hrsg.): Geistigbehindertenpädagogik vom Menschen aus. Festschrift für Theodor Hofmann zum 60. Geburtstag. Verlag Jakob van Hoddis, Gütersloh 1990, S. 15–41.
- 1940 verlegt. Verlag Anstalt Stetten, 1990.
- Dreihundert Jahre Sommersaal, Schloß Stetten im Remstal. Verlag Anstalt Stetten, 1992.
- Herr Josef: Stetten. In: Mörikes Känzele und andere Kirchengeschichten. Stuttgart 1995, S. 94–95, ISBN 978-3-7918-2331-7.
Literatur
- Sieglind Ellger-Rüttgardt: Geschichte der Sonderpädagogik: eine Einführung. 2. aktual. Auflage. Ernst Reinhardt Verlag, München 2019, ISBN 978-3-8252-8765-8, S. 277–278.
- Gerhard Eberle: Hundert Jahre „VDS-Landesverband Baden-Württemberg“. In: Pädagogische Impulse. Artikelserie Teil I bis X, 2015–2019. Teil II, 2015, S. 88-91, Memento vom 23. März 2023 im Internet Archive.
- Nora Andrea Schulze: Verantwortung für die Kirche III Stenografische Aufzeichnungen und Mitschriften von Landesbischof Hans Meiser 1933–1955. Band 3. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2011, S. 383–384, 1008.
Weblinks
- Theodor-Dierlamm-Schule, Abteilung Geschichte
- Diakonie Stetten, Abteilung Geschichte/Chronologie
Einzelnachweise
- ↑ Deutsches Geschlechterbuch (Genealogisches Handbuch Bürgerlicher Familien.). Band 34 (1. Reutlinger Band). Berlin 1921, S. 219.
- ↑ a b c d e f g h i Personalakten Theodor Dierlamm, Oberschulamt Nord-Württemberg. EL 204 II Bue 2868. Staatsarchiv Ludwigsburg (StAL).
- ↑ Sieglind Ellger-Rüttgardt: Geschichte der Sonderpädagogik: eine Einführung. Ernst Reinhardt Verlag, München 2019, ISBN 978-3-8252-8765-8, S. 277–278.
- ↑ a b c d Gerhard Eberle: Hundert Jahre "VDS-Landesverband Baden-Württemberg". In: Pädagogische Impulse. 2015, abgerufen am 29. August 2025.
- ↑ a b c d Nora Andrea Schulze: Verantwortung für die Kirche III Stenografische Aufzeichnungen und Mitschriften von Landesbischof Hans Meiser 1933-1955. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2011, S. 383–384, 1008.
- ↑ a b Die Theodor-Dierlamm-Schule Geschichte. Abgerufen am 29. August 2025.
- ↑ Liste der Träger des Verdienstordens Baden-Württemberg 1977. Abgerufen am 29. August 2025.
- ↑ Peter Wachtel: Bibliographie 1949–2021. (PDF) In: Bibliographie der Zeitschrift für Heilpädagogik. Verband Sonderpädagogik, September 2024, abgerufen am 29. August 2025.
- ↑ Werke von und über Theodor Dierlamm. In: Katalog der Württembergischen Landesbibliothek. Abgerufen am 29. August 2025.