Szilárd-Petition

Die Petition in der „endgültigen“ Fassung vom 17. Juli 1945

Die Szilárd-Petition, die im Juli 1945 vom Wissenschaftler Leó Szilárd verfasst und in Umlauf gebracht wurde, wurde von 70 Wissenschaftlern unterzeichnet, die am Manhattan-Projekt in Oak Ridge und am Metallurgical Laboratory (Met Lab) in Chicago arbeiteten. Darin wurde Präsident Harry S. Truman aufgefordert, Japan über die von den Alliierten geforderten Kapitulationsbedingungen zu informieren und Japan die Möglichkeit zu geben, diese Bedingungen anzunehmen oder abzulehnen, bevor die USA Atomwaffen einsetzen würden. Die Petition gelangte jedoch nie über die Befehlskette bis zu Präsident Truman. Sie wurde erst 1961 freigegeben und veröffentlicht.

Im Jahr 1946 gründete Szilárd gemeinsam mit Albert Einstein und sechs weiteren Wissenschaftlern das Emergency Committee of Atomic Scientists (ECAS, dt. etwa: Notstandskomitee der Atomwissenschaftler). Zu dessen Vorstand gehörte Linus Pauling, der 1962 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Hintergrund

Leó Szilárd (um 1960)

Der Petition ging der Franck-Report voraus, der vom Ausschuss für die sozialen und politischen Auswirkungen der Atombombe unter dem Vorsitz von James Franck verfasst worden war. Szilárd und sein Kollege Glenn T. Seaborg vom Met Lab verfassten gemeinsam den Report, in dem sie argumentierten, dass die politische Sicherheit in einer postnuklearen Welt vom internationalen Austausch und Besitz atomarer Informationen abhängen werde und dass Japan vor dem Abwurf der Bombe angemessen gewarnt werden müsse, um ein nukleares Wettrüsten zu vermeiden und das Wohlwollen gegenüber den Vereinigten Staaten zu bewahren.[1]

Im Gegensatz zum Franck-Report, der sich im Wesentlichen auf die Politik des Einsatzes der Atombombe und die Möglichkeit einer internationalen Zusammenarbeit konzentrierte, war die Szilárd-Petition ein moralischer Appell.[1] Die Unterzeichner, die ein Zeitalter rascher nuklearer Expansion vorausahnten, warnten, dass die Vereinigten Staaten, sollten sie die Bombe abwerfen, um den Krieg im Pazifikraum zu beenden, „die Verantwortung dafür tragen würden, die Tür zu einer Ära der Verwüstung unvorstellbaren Ausmaßes zu öffnen“.[2] Sie befürchteten, dass die Vereinigten Staaten durch den Einsatz der Bombe ihre moralische Autorität verlieren würden, um das anschließende nukleare Wettrüsten unter Kontrolle zu bringen.

Mehr als 50 der ursprünglichen Unterzeichner arbeiteten in der Chicagoer Niederlassung des Manhattan-Projekts. Nach vielen Meinungsverschiedenheiten unter den anderen Wissenschaftlern in Chicago führte Laborleiter Farrington Daniels eine Umfrage unter 150 Wissenschaftlern durch, um herauszufinden, was ihrer Meinung nach die beste Vorgehensweise in Bezug auf die Bombe wäre. Die Ergebnisse waren wie folgt:

  • 15 % – Die Bombe sollte vom Militär als Waffe eingesetzt werden, um die Kapitulation Japans mit möglichst geringen Verlusten auf Seiten der Alliierten zu erreichen.
  • 46 % – Die Bombe sollte vom Militär in Japan vorgeführt werden, in der Hoffnung, dass eine Kapitulation folgen würde; wenn nicht, sollte die Bombe als Waffe eingesetzt werden.
  • 26 % – Die Bombe sollte Teil einer experimentellen Demonstration in den Vereinigten Staaten sein, bei der eine japanische Delegation als Zeugen anwesend sein sollte, in der Hoffnung, dass sie ihre Beobachtungen an die Regierung weitergeben und für eine Kapitulation eintreten würden.
  • 11 % – Die Bombe sollte nur im Rahmen einer öffentlichen Demonstration eingesetzt werden.
  • 02 % – Die Bombe sollte nicht im Kampf eingesetzt werden, und danach sollte absolute Geheimhaltung gewahrt werden.[3]

Szilárd bat seinen Freund und Kollegen, den Physiker Edward Teller, ihm dabei zu helfen, die Petition in Los Alamos zu verbreiten, in der Hoffnung, weitere Unterschriften zu sammeln. Teller wandte sich jedoch zunächst mit Szilárds Bitte an den Direktor von Los Alamos, Robert Oppenheimer, der Teller mitteilte, dass Politiker in Washington bereits über das Thema berieten und es für die Wissenschaftler des Labors besser sei, sich daraus herauszuhalten. Daher wurden in Los Alamos keine neuen Unterschriften für die Petition gesammelt.[4]

Zusammenfassung

Die Petition war an Präsident Truman gerichtet und erklärte, dass die ursprüngliche Absicht des Manhattan-Projekts darin bestand, die Vereinigten Staaten gegen einen möglichen Atomangriff Deutschlands zu verteidigen, eine Bedrohung, die zu diesem Zeitpunkt bereits beseitigt war. Sie baten Truman dann eindringlich, die vollständigen Kapitulationsbedingungen zu veröffentlichen und die Antwort Japans abzuwarten, bevor die Atombombe abgeworfen werde, und seine „Verpflichtung zur Zurückhaltung“ zu berücksichtigen:

„Wenn nach diesem Krieg eine Situation in der Welt entsteht, die es rivalisierenden Mächten erlaubt, unkontrolliert über diese neuen Vernichtungswaffen zu verfügen, werden die Städte der Vereinigten Staaten ebenso wie die Städte anderer Nationen in ständiger Gefahr einer plötzlichen Vernichtung stehen […] Die zusätzliche materielle Stärke, die dies den Vereinigten Staaten verleiht, bringt die Verpflichtung zur Zurückhaltung mit sich, und wenn wir diese Verpflichtung verletzen würden, würde unsere moralische Position in den Augen der Welt und in unseren eigenen Augen geschwächt werden. Es würde uns dann schwerer fallen, unserer Verantwortung gerecht zu werden, die entfesselten Kräfte der Zerstörung unter Kontrolle zu bringen. Wir, die Unterzeichner, bitten Sie höflichst: Erstens, dass Sie Ihre Befugnisse als Oberbefehlshaber ausüben und anordnen, dass die Vereinigten Staaten in diesem Krieg keine Atombomben einsetzen, es sei denn, die Bedingungen, die Japan auferlegt werden sollen, wurden im Detail veröffentlicht und Japan hat sich trotz Kenntnis dieser Bedingungen geweigert, sich zu ergeben; zweitens, dass in einem solchen Fall die Frage, ob Atombomben eingesetzt werden sollen oder nicht, von Ihnen unter Berücksichtigung der in dieser Petition dargelegten Überlegungen sowie aller anderen damit verbundenen moralischen Verantwortlichkeiten entschieden wird.[2]

Nachwirkungen

Im Frühjahr 1945 brachte Szilárd die Petition zu dem Mann, der bald zum Außenminister ernannt werden sollte, James F. Byrnes, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der Präsident Truman die Botschaft der Wissenschaftler übermitteln würde, dass die Bombe nicht gegen die Zivilbevölkerung in Japan eingesetzt werden sollte und dass sie nach dem Krieg unter internationale Kontrolle gestellt werden sollte, um ein Wettrüsten nach dem Krieg zu vermeiden. Byrnes zeigte sich dieser Idee gegenüber jedoch völlig unbeeindruckt.

Daher hat Präsident Truman die Petition vor dem Abwurf der Bombe nie gesehen. Szilárd bedauerte, dass ein solcher Mann [Byrnes] so viel Einfluss in der Politik hatte, und er schien auch verzweifelt darüber zu sein, Physiker geworden zu sein, da er in seiner Karriere zur Entwicklung der Bombe beigetragen hatte. Nach dem Treffen mit Byrnes soll er gesagt haben: „Wie viel besser wäre die Welt, wenn ich in Amerika geboren worden wäre und Einfluss auf die amerikanische Politik genommen hätte und wenn Byrnes in Ungarn geboren worden wäre und Physik studiert hätte.“[5]

Als Reaktion auf die Petition versuchte General Leslie Groves, der Leiter des Manhattan-Projekts war, Beweise gegen Szilárd zu finden, um ihn wegen Verstoßes gegen das Spionagegesetz anzuklagen. Dazu schrieb er an Frederick Lindemann, den wichtigsten wissenschaftlichen Berater Großbritanniens während des Ersten Weltkriegs. Dies führte jedoch nicht zum Erfolg, da Lindemann berichtete, dass Szilárds „Sicherheit gut bis zur Unhöflichkeit“ gewesen sei.[6]

Die erste Atombombe, genannt „Little Boy“, wurde am 6. August 1945 auf Hiroshima abgeworfen. Drei Tage später folgte die zweite Bombe, genannt „Fat Man“, über Nagasaki. Der Einsatz dieser Bomben führte zu schätzungsweise 200.000 Todesopfern unter der Zivilbevölkerung und, umstritten, zur letztendlichen Kapitulation Japans. Im Dezember 1945 ergab eine Studie des Wirtschaftsmagazins Fortune, dass über drei Viertel der befragten Amerikaner die Entscheidung zum Abwurf der Bomben befürworteten.[7]

Trotzdem schloss sich eine Gruppe der renommiertesten Wissenschaftler der damaligen Zeit zusammen, um sich gegen diese Entscheidung und gegen das künftige nukleare Wettrüsten auszusprechen. Der Lehrdokumentar-Kurzfilm One World or None: A Report to the Public on the Full Meaning of the Atomic Bomb (deutsch Eine Welt oder keine: Ein Bericht an die Öffentlichkeit über die volle Bedeutung der Atombombe)[8] wurde 1946 veröffentlicht und enthält Essays von Leó Szilárd selbst sowie von Albert Einstein, Niels Bohr, Arthur Holly Compton, Robert Oppenheimer, Harold C. Urey, Eugene Paul Wigner, Edward Condon, Hans Bethe, Irving Langmuir und anderen. Das Thema des Buches, das sich über eine Million Mal verkaufte, war, dass Atomwaffen nie wieder eingesetzt werden sollten und dass ihre Verwendung durch internationale Zusammenarbeit geregelt werden sollte.[9]

Unterzeichner

Die 70 Unterzeichner im Metallurgical Laboratory des Manhattan-Projekts in Chicago waren in alphabetischer Reihenfolge mit ihren Positionen:[2]

  1. David S. Anthony, Assistenz-Chemiker
  2. Larned B. Asprey, Chemiker S.E.D.
  3. Walter Bartky, Stellvertretender Direktor
  4. Austin M. Brues, Leiter der Abteilung Biologie
  5. Mary Burke, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
  6. Albert Cahn Jr., Junior Physiker
  7. George R. Carlson, Wissenschaftlicher Mitarbeiter – Physik
  8. Kenneth Stewart Cole, Leitender Biophysiker
  9. Ethaline Hartge Cortelyou, Junior-Chemiker
  10. John Crawford, Physiker
  11. Mary M. Dailey, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
  12. Miriam Posner Finkel, Assistenz-Biologin
  13. Frank G. Foote, Metallurge
  14. Horace Owen France, Assistenz-Biologe
  15. Mark S. Fred, Wissenschaftlicher Mitarbeiter – Chemie
  16. Sherman Fried, Chemiker
  17. Francis Lee Friedman, Physiker
  18. Melvin S. Friedman, Assistenz-Chemiker
  19. Mildred C. Ginsberg, Computer
  20. Norman Goldstein, Junior-Physiker
  21. Sheffield Gordon, Assistenz-Chemiker
  22. Walter J. Grundhauser, Wissenschaftlicher Mitarbeiter
  23. Charles W. Hagen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter
  24. David B. Hall, Physiker
  25. David L. Hill, Assistenz-Physiker, Argonne
  26. John Perry Howe, Jr., Stellvertretender Abteilungsleiter, Chemie
  27. Earl K. Hyde, Assistenz-Chemiker
  28. Jasper B. Jeffries, Junior-Physiker, Junior-Chemiker
  29. William Karush, Assistenz-Physiker
  30. Truman Paul Kohman, Chemiker-Forschung
  31. Herbert E. Kubitschek, Junior-Physiker
  32. Alexander Langsdorf, Jr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter
  33. Ralph Eugene Lapp, Assistent des Abteilungsleiters
  34. Lawrence B. Magnusson, Junior-Chemiker
  35. Robert Joseph Maurer, Physiker
  36. Norman Frederick Modine, Wissenschaftlicher Mitarbeiter
  37. George Spencer Monk, Physiker
  38. Robert James Moon, Physiker
  39. Marietta Catherine Moore, Technikerin
  40. Robert Sanderson Mulliken, Informationskoordinator
  41. James Joseph Nickson, Mediziner, Abteilung Biologie
  42. William Penrod Norris, Assistenz-Biochemiker
  43. Paul Radell O’Connor, Junior-Chemiker
  44. Leo Arthur Ohlinger, Senior-Engineer
  45. Alfred Pfanstiehl, Junior-Physiker
  46. Robert Leroy Platzman, Chemiker
  47. Clifford Ladd Prosser, Biologe
  48. Robert Lamburn Purbrick, Junior-Physiker
  49. Wilfrid Rall, Wissenschaftlicher Mitarbeiter – Physik
  50. Margaret H. Rand, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abteilung Gesundheit
  51. William Rubinson, Chemiker
  52. B. Roswell Russell, (Position nicht bekannt)
  53. George Alan Sacher, Assistenz-Biologe
  54. Francis R. Shonka, Physiker
  55. Eric L. Simmons, Assistenz-Biologe, Gesundheitsgruppe
  56. John Alexander Simpson, Physiker
  57. Ellis P. Steinberg, Junior-Chemiker
  58. D. C. Stewart, Staff Sergeant, S.E.D.
  59. George Svihla, (Position nicht bekannt), Gesundheitsgruppe
  60. Marguerite N. Swift, Assistenz-Physiologin, Gesundheitsgruppe
  61. Leó Szilárd, Chefphysiker
  62. Ralph E. Telford, (Position nicht bekannt)
  63. Joseph D. Teresi, Assistenz-Chemiker
  64. Albert Wattenberg, Physiker
  65. Katharine Way, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
  66. Edgar Francis Westrum, Jr., Chemiker
  67. Eugene Paul Wigner, Physiker
  68. J. Ernest Wilkins Jr., Assistenz-Physiker
  69. Hoylande Young, Senior-Chemikerin
  70. William Houlder Zachariasen, Berater

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b Lawrence Badash: American Physicists, Nuclear Weapons in World War II, and Social Responsibility. In: Physics in Perspective. Band 7, Nr. 2, 2005, S2CID:119510266, S. 138–149, doi:10.1007/s00016-003-0215-6, bibcode:2005PhP.....7..138B (englisch). ISSN 1422-6944
  2. a b c A Petition to the President of the United States. In: Atomic Bomb: Decision, section of Leo Szilard Online. 17. Juli 1945, abgerufen am 25. August 2025 (englisch).
  3. Lansing Lamont: Day of TrinityPhysics in Perspective. In: The American Historical Review. Band 71, Nr. 3, 1965, S. 138–149, doi:10.1086/ahr/71.3.1100 (englisch).
  4. Philip Ball: H-bomb inventor Edward Teller dies. In: Nature. 11. September 2003, doi:10.1038/news030908-6 (englisch). ISSN 0028-0836
  5. Goodman, Roger (director) (1995): Hiroshima: Why the Bomb Was Dropped. ABC News. 00:28:00~00:31:00.
  6. Groves Seeks Evidence Against Szilard, July 4, 1945. In: Atomic Bomb: Decision, section of Leo Szilard Online. 4. Juli 1945, abgerufen am 25. August 2025 (englisch).
  7. Elmo Roper: The Fortune survey, Fortune 32, Dezember 1945, S. 303–310, hier S. 305.
  8. One World Or None, eine zeitgemäße Neuauflage eines Artikels aus der New York Times von 1946, von Dexter Masters, Katharine Way, Books for Libraries Press, 1972 in der Google-Buchsuche, 79 Seiten; ISBN 978-0-8369-2610-1.
  9. Dexter Masters, Katharine Way: One World or None. Edited by D. Masters and K. Way. (A report to the public on the full meaning of the atomic bomb). Hrsg.: McGraw-Hill Book Co. 1946, S. 79 (englisch). OCLC 563074303