Synagoge an der Reichenbachstraße München


Die Synagoge an der Reichenbachstraße (jiddisch: Reichenbachschul) ist ein jüdisches Gotteshaus in München und eine von wenigen Synagogen weltweit im Bauhaus-Stil.[1] Das Gebäude in der Isarvorstadt nahe dem Gärtnerplatz ist die einzige erhaltene Münchener Synagoge aus der Vorkriegszeit. Seit ihrer im September 2025 abgeschlossenen Restaurierung ist sie wieder für die Öffentlichkeit zugänglich.[2] Von 1947 bis 2006 war sie Münchens Hauptsynagoge.
Lage und Bauwerk
Das Gebäude, ein Werk von Gustav Meyerstein (1889–1975), steht im Hinterhof der Reichenbachstraße 27. Mit 27 Metern Länge, 14 Metern Breite und 8 Metern Höhe bot der dreischiffige, aus Stahlbeton errichtete Bau Platz für 550 Menschen.[3]:82 Meyerstein hat die Synagoge im Stil des Bauhauses und der Neuen Sachlichkeit entworfen.[4] Der schlichte Bau hat eine besondere Farbgebung mit dem bernsteinfarbenen Marmor der Ostnische um den Toraschrein, dem Türkisblau und Cremeton der Wände und dem pompejanisch Rot im Foyer, dieses kontrastiert mit schwarzem Marmor.[5] Die Frauen-Empore ragt weit in den Raum hinein und ruht nur auf zwei Säulen. Das Lichtkonzept wird durch das milchfarbige Glasdach, die Kunstglasfenster an der Nord- und Westfassade sowie stab- und kugelförmige weiße Leuchten mit Messinghalterung bestimmt, wobei die Stableuchten in der Ostnische an Torarollen erinnern.
Aufgrund des stimmigen Gesamtkonzepts bezeichnet der Kunsthistoriker Christoph Wagner (Universität Regensburg) den Bau als ein „Schlüsselwerk des Synagogenbaus im 20. Jahrhundert“. Mit Blick auf die architektonische Handschrift Meyersteins könne man „auch im übertragenen Sinne von einer Bauhaus-Synagoge oder einer Bauhaus-adaptierten Architektur sprechen“.
Zur Zeit der Erbauung der Synagoge im Jahr 1931 floss der Kaiblmühlbach an der Rückseite des sich anschließenden Hofes vorbei, so dass dort das Taschlich-Ritual vollzogen werden konnte. Das Gebäude steht seit 2007 unter Denkmalschutz.[6][7]
Geschichte
Umstände bei der Eröffnung
Nach Beginn des 20. Jahrhunderts waren viele Juden aus dem Osten, Österreich-Ungarn und Russland nach München zugewandert. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen viele Emigranten aus der Sowjetunion hinzu, so dass der Anteil der sogenannten Ostjuden in der jüdischen Gemeinde schließlich etwa ein Viertel betrug. Diese Gruppe von Juden hatte ein eigenes Zusammengehörigkeitsgefühl und eigene Formen der Frömmigkeit – und zunächst auch, da es sich nicht um deutsche Staatsangehörige handelte, kein Wahlrecht für den Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde. Bereits ab 1914 betrieben die ostjüdischen Vereine Linath Hazedek („Stätte des Rechts“) und Agudas Achim („Bund der Brüder“) einen Betsaal an der Reichenbachstraße.[8] Beide Vereine kauften 1921 gemeinsam das Gebäude an der Reichenbachstraße 27 (damals Hausnummer 9)[9] von der Schwabinger Brauerei AG und nutzten das Rückgebäude fortan als Betsaal.[3]:82 Zu Beginn der 1930er Jahre lebten 2300 Juden aus dem Osten in München, so dass ein Synagogenneubau nötig wurde, an dem sich die Kultusgemeinde beteiligte.
Zur Eröffnung am 5. September 1931 sprachen die Rabbiner aller drei großen jüdischen Gruppierungen in München: Samuel Wiesner, der Rabbiner der neuen ostjüdischen Synagoge, Ernst Ehrentreu von der alten Synagoge Ohel Jakob und der Gemeinderabbiner Leo Baerwald von der damaligen Hauptsynagoge. In München gab es mit der neu eröffneten Synagoge nunmehr drei große Synagogenbauten. In der größten Münchner Tageszeitung, den Münchner Neuesten Nachrichten, wurde allerdings nicht über die Eröffnung berichtet. Die Ostjuden nannten ihre Synagoge damals Reichenbachschul (vom jiddischen Wort Schul für Synagoge).[3]:83
Verwüstung und Neuanfang
Bei den Novemberpogromen 1938 wurde die Synagoge an der Reichenbachstraße in der Nacht vom 9. auf den 10. November verwüstet und angezündet. Die Feuerwehr löschte den Brand jedoch, weil ein Übergreifen des Feuers auf die Nachbargebäude befürchtet wurde. Da die beiden anderen Synagogen auch zerstört wurden, musste die jüdische Gemeinde in einer ehemaligen Tabakfabrik in der Lindwurmstraße Zuflucht suchen. Ein Betsaal im ehemaligen Maschinenhaus bestand dort bis zum Juni 1942.[10]
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wurde die Israelitische Kultusgemeinde 1945 wiederbegründet. Im Jahr 1946 lebten wieder 2800 Juden in München. Die Synagoge in der Reichenbachstraße wurde ab 1946 provisorisch nach Plänen von Werner Bürkles und Kurt Motschmann und nicht im Originalzustand von Meyerstein wiederhergerichtet. Sie wurde am 20. Mai 1947 in Anwesenheit von Militärgouverneur Lucius D. Clay[3]:86 und anderen Vertretern der amerikanischen Militärregierung sowie der bayerischen Staatsregierung, der Stadtverwaltung und der christlichen Konfessionen wiedereröffnet. Sie war damit das erste im Nachkriegsdeutschland wieder eingeweihte jüdische Gotteshaus. Unter den Mitgliedern der neuen jüdischen Gemeinde waren viele Displaced Persons. Die Gebetsordnung des neuen Gebetbuchs entsprach dem ostjüdischen Ritus, dem gleichen, der nach Errichtung der Synagoge in den 1930er Jahren dort gepflegt worden war.[11]
Zeit als Hauptsynagoge
Die Synagoge an der Reichenbachstraße war nach dem Zweiten Weltkrieg die Hauptsynagoge der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Nach der Auflösung der Sowjetunion immigrierten wieder viele Juden aus Osteuropa. Die Synagoge bot den 10.000 Juden in München (Stand 2005) nicht mehr genug Platz.[3]:87
Seit der Eröffnung der neuen Münchner Hauptsynagoge Ohel Jakob am St.-Jakobs-Platz im Jahr 2006[3]:76 wurde die Synagoge an der Reichenbachstraße nicht mehr als solche genutzt und verfiel zusehends. Nach dem Umzug der Israelitischen Kultusgemeinde wollte die liberale Gemeinde Beth Shalom die Synagoge kaufen. Dazu kam es aber nicht.[3]:87
Anschläge
Auf das im Vorderhaus der Reichenbachstraße 27 befindliche Altenheim der Kultusgemeinde wurde am 13. Februar 1970 ein bis heute nicht aufgeklärter Brandanschlag verübt, dem sieben Bewohner zum Opfer fielen. Im Februar 2020 wurde aus Anlass des 50sten Jahrestages des Anschlags auf dem benachbarten Gärtnerplatz ein Container mit Fotografien und Informationen zum Anschlag sowie einer Liste der Ermordeten aufgestellt.
Im Juni 1970 kam es zu einem weiteren antisemitischen Anschlag, als Unbekannte in die Synagoge eindrangen und die Thorarolle sowie weitere Kultgegenstände schändeten.[12]
Sanierung


Ab 2011[13] engagierte sich der von Rachel Salamander und Ron C. Jakubowicz gegründete „Verein Synagoge Reichenbachstraße e. V.“ für die Wiederherstellung der Synagoge in ihrem ursprünglichen Zustand vom Jahr 1931.[14] Im Herbst 2021 fand in der Synagoge eine temporäre Installation des Vereins in Zusammenarbeit mit dem Staatsministerium für Unterricht und Kultus und dem Jüdischen Museum München statt. Diese Ausstellung diente dazu, das Sanierungsvorhaben einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.[15]
Die Wiederherstellung der Synagoge nach den original erhaltenen Plänen Meyersteins wurde 2025 abgeschlossen. Der Toraschrein ist jetzt mit einem Vorhang versehen, der aus einem originalen Stoff aus dem Nachlass der Bauhaus-Künstlerin Gunta Stölzl besteht.[5] Die farbigen Fenster mit religiösen Motiven konnten alle nach den Originalzeichnungen von derselben Glaserei wiederhergestellt werden, die 1931 bereits die Originale angefertigt hatte. Selbst die Wandfarben wurden in der gleichen Werkstatt gemischt, welche die Originalfarben geliefert hatte.[16]
Die Synagoge an der Reichenbachstraße wurde am 15. September 2025 wieder eröffnet. Am Festakt nahmen 450 Gäste teil, unter ihnen Bundeskanzler Friedrich Merz, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, sowie Emanuel Meyerstein, der Sohn des Architekten Gustav Meyerstein, und Ariel Aloni, der Enkel von Gunta Stölzl.[17][18] Reden zum Festakt hielten Rachel Salamander, Merz, Söder, Reiter und Knobloch. Der Pianist Igor Levit sorgte für den musikalischen Rahmen.[19]
Die originalgetreue Wiederherstellung kostete 14 Millionen Euro,[18] die zu je 30 Prozent von der Stadt München, dem Freistaat Bayern und der Bundesrepublik Deutschland aufgebracht wurden; 10 Prozent steuerte der Verein aus Spendengeldern bei.
Laut dem Nutzungskonzept, das der Verein den Fördergebern vorlegen musste, wird das Gebäude künftig wieder „ritusfähig“ sein,[20] also als Gotteshaus genutzt werden. Außerdem soll es für Kulturveranstaltungen, Konzerte, Besichtigungen von Schulklassen und Touristen zur Verfügung stehen.
Rabbiner
Vereine Linath Hazedek und Agudas Achim
- Samuel Wiesner
Neugegründete Gemeinde ab 1947
- Aaron Ohrenstein
- Hans Isaak Grünewald
- Pinchas Paul Biberfeld
- Jitzchak Ehrenberg
- Steven Langnas
Literatur
- Wolfram Selig (Hrsg.): Synagogen und jüdische Friedhöfe in München. Aries, München 1988, ISBN 3-920041-34-8.
- Rachel Salamander, Christoph Wagner: Die Reichenbach – eine ‚Bauhaus‘-Synagoge. Klinkhardt & Biermann, München 2025, ISBN 978-3-943616-98-9.
Weblinks
- Geschichte jüdischen Lebens in München. In: ikg-m.de.
- München (Bayern). Jüdische Geschichte/Synagogen. In: Alemannia Judaica. 30. Juni 2020.
- Synagoge Reichenbachstrasse e. V.
- Die Reichenbachschul: Die älteste Münchner Synagoge. In: haGalil. 7. November 2006.
- Judith Leister: Ort lebendiger jüdischer Kultur – Wiedereröffnung der Reichenbach-Synagoge. In: Deutschlandfunk-Kultur-Sendung „Religionen“. 14. September 2025.
Einzelnachweise
- ↑ Festrede Rachel Salamander. In: Süddeutsche Zeitung. 15. September 2025, abgerufen am 16. September 2025 (Rede zum Festakt am 15. September 2025 von der Initiatorin des Rettungsakts).
- ↑ Ulrike Heidenreich: Eine einzigartige Synagoge, eröffnet vom Bundeskanzler – offen für alle. sueddeutsche.de, 15. September 2025, abgerufen am 17. September 2025.
- ↑ a b c d e f g Martin Arz: Die Isarvorstadt. Gärtnerplatz-, Glockenbach- und Schlachthofviertel. Hirschkäfer Verlag, München 2008, ISBN 978-3-940839-00-8.
- ↑ Judith Leister: Ort lebendiger jüdischer Kultur – Wiedereröffnung der Reichenbach-Synagoge. In: Deutschlandfunk-Kultur-Sendung „Religionen“. 14. September 2025, abgerufen am 14. September 2025.
- ↑ a b Nick van der Velden: Synagoge in München: Sie leuchtet wieder. In: WELTKUNST, das Kunstmagazin der ZEIT. 16. September 2025, abgerufen am 16. September 2025.
- ↑ Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege: BayernAtlas. Abgerufen am 10. Oktober 2022.
- ↑ Hannes Hintermeier: Gerettetes Gotteshaus im Hinterhof. In: MSN. 14. September 2025, abgerufen am 17. September 2025.
- ↑ Elisabeth Angermair: Eine selbstbewußte Minderheit (1892–1918). In: Richard Bauer, Michael Brenner (Hrsg.): Jüdisches Leben. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. C. H. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54979-9, S. 110–136.
- ↑ Haus der Bayerischen Geschichte München (Hrsg.): Gustav Lippschütz. Unternehmer und Brauereibesitzer. Geboren: 01.10.1841, Hürben; Gestorben: 13.01.1914, Buffalo NY. Stand 15. September 2025.
- ↑ Andreas Heusler: Verfolgung und Vernichtung (1933–1945). In: Richard Bauer, Michael Brenner (Hrsg.): Jüdisches Leben. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. C. H. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54979-9, S. 161–184.
- ↑ Shalom Ben-Chorin: Der dritte Tempel. In: Hans Lamm: Vergangene Tage. Jüdische Kultur in München. Oldenbourg, München 1982, ISBN 3-7844-1867-8, S. 443–445
- ↑ Michael Brenner: Aufbruch in die Zukunft (1970–2006). In: Richard Bauer, ders. (Hrsg.): Jüdisches München. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. C. H. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54979-9, S. 209–226, hier S. 209.
- ↑ Das historische Baudenkmal wird saniert – Baustellenbesichtigung in der Synagoge Reichenbachstraße. In: Jüdisches Museum München. Landeshauptstadt München, 2021, abgerufen am 12. Oktober 2021.
- ↑ Nils Minkmar: Jüdisches Leben: Gibt es Rettung für die alte Münchner Synagoge? In: Süddeutsche Zeitung. 10. Oktober 2021, abgerufen am 12. Oktober 2021.
- ↑ Synagoge Reichenbachstrasse. Synagoge Reichenbachstraße e.V. (Website des Vereins Synagoge Reichenbachstraße e.V.).
- ↑ Sendung Kulturzeit vom 16.09.2025. In: 3sat. 16. September 2025, abgerufen am 17. September 2025 (deutsch).
- ↑ Dominik Baur: Jüdische Gemeinde in München: Licht im Hinterhof. In: Die Tageszeitung: taz. 27. August 2025, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 30. August 2025]).
- ↑ a b Julia Haderecker: Emotionaler Festakt: „Die Reichenbachschule ist auferstanden“. In: br.de. Bayerischer Rundfunk, 15. September 2025, abgerufen am 15. September 2025.
- ↑ Daniel Brössler, Henrike Roßbach: Friedrich Merz’ Tränen: Darf ein Kanzler so emotional sein? Sollte er es sogar? In: Süddeutsche Zeitung. 16. September 2025, abgerufen am 16. September 2025.
- ↑ Ellen Presser: Juwel im Hinterhof. In: Jüdische Allgemeine. 21. Oktober 2021, abgerufen am 16. September 2025.
Koordinaten: 48° 7′ 50,3″ N, 11° 34′ 35,7″ O