Spinozerebelläre Ataxie
| Klassifikation nach ICD-10 | |
|---|---|
| G11.1 | Früh beginnende zerebellare Ataxie |
| G11.2 | Spät beginnende zerebellare Ataxie |
| ICD-10 online (WHO-Version 2019) | |
Spinozerebelläre Ataxien (früher spino-cerebellare Heredoataxie; im Englischen spinocerebellar ataxias, kurz SCA genannt) sind eine große Gruppe klinisch gleichartiger, zu den autosomal-dominanten zerebellären Ataxien (ADCA) gehörender neurodegenerativer Erkrankungen des Menschen.
Geschichte
Früher wurden bei der „spino-cerebellaren Heredoataxie“ zwei Formen unterschieden: die spinale Heredoataxie (Friedreich) (siehe Friedreich-Ataxie) und die cerebellare Heredoataxie (Nonne, Pierre Marie) (siehe Nonne-Marie-Syndrom).[1]
Ende des 19. Jahrhunderts wurden Fälle einer autosomal-dominant vererbbaren Ataxie beschrieben. Eine erste Klassifikation dieser und weiterer Fälle erfolgte in den 1980er Jahren. In den 1990er wurden erstmalig die ursächlichen Genveränderungen detektiert und die Krankheit als spinozerebelläre Ataxie 1 bezeichnet. Wenige Jahre später wurde dann eine zweite Genveränderung entdeckt, die dann spinozerebelläre Ataxie 2 benannt wurde. So etablierte sich die Nomenklatur mit fortlaufender Nummerierung nach Beschreibung der Erkrankung und der entsprechenden genetischen Veränderung.[2]
Symptome, Diagnose und Therapie
Die Häufigkeit aller spinozerebellären Ataxien beträgt 0-5/100.000. In Deutschland sind etwa 1 von 100.000 betroffen. Die SCA3 ist am häufigsten in Europa und macht etwa 35 % der Fälle aus.[2]
Die Erkrankung tritt typischerweise im Alter von 30 bis 50 Jahren auf. In einzelnen Fällen können erste Symptome im Kindesalter oder im hohen Alter auftreten. Zu den typischen Symptomen gehört eine Gang- und Balancestörung sowie eine zunehmende Ungeschicklichkeit (Ataxie). Entgegen des Namens zeigen sich aber nicht nur Symptome einer zerebellären Störung. Andere Hirnareale und -funktionen können ebenfalls betroffen sein. In den weiteren Details unterscheiden sich die 50 verschiedenen Subformen der SCA. Es können kognitive Störungen, eine Polyneuropathie, Störungen der Augenbewegung oder Sehstörungen hinzutreten. Die kognitiven Störungen beinhalten die räumliche Orientierung, Sprachstörungen und Störungen der Exekutivfunktion. Bei der SCA1 treten dazu noch ausgeprägte Gedächtnisstörungen hinzu. Schlafstörungen und Depressionen können ebenfalls Teil der Symptomatik sein. Das Ausmaß der kognitiven Störungen hängt davon ab, wie sehr die pathologischen Veränderungen über das Kleinhirn bis in andere Hirnarealan hinausgehen.[3][4]
Je nach Symptomausmaß und Subtyp unterscheidet sich die Lebenserwartung. Meistens ist diese reduziert. Bei der eher milden SCA 6 und 11 ist die Lebenserwartung aber typischerweise unverändert.[3]
Die Diagnose wird über das klinische Erscheinungsbild mit passender Familiengeschichte und dann folgender genetischer Analyse gestellt. Die Diagnose erfolgt damit interdisziplinär zwischen Humangenetik und Neurologie.
Eine spezifische Therapie existiert nicht. Der Weg von der Genentdeckung in den 90er Jahren bis zu einer Therapie hat sich als komplexer als erwartet herausgestellt.[5] Zurzeit werden an verschiedene Möglichkeiten der Genmodulation, z. B. mittels Antisense-Nukleotiden geforscht.[6]
Pathologie
Pathologisch begleitet die Krankheit ein Verlust der Purkinje-Zellen, die größten Neuronen des Kleinhirns (Cerebellum). Auf genetischer Ebene ist die Gruppe der spinozerebellären Ataxien sehr heterogen, es wurden mehr als 40 Genorte in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben und – mit wenigen Ausnahmen – entsprechend der Reihenfolge ihrer Entdeckung mit SCA1 bis SCA47 bezeichnet.[7][8] Allerdings ist nicht für alle Krankheitsbilder die exakte Mutation oder deren genaue Lokalisation bekannt.
Die schon länger bekannten SCA-Typen 1, 2, 3, 6, 7 und 17 werden zu der Gruppe der Trinukleotiderkrankungen wie Chorea Huntington gerechnet, da die krankheitsauslösende Mutation eine ungewöhnlich lange Triplettwiederholung des Codons CAG (entspricht der Aminosäure Glutamin) ist. Ihnen gemeinsam ist des Weiteren ein autosomal-dominanter Vererbungsmodus und die Tatsache, dass sich die CAG-Wiederholung in der Regel mit jeder Generation verlängert und die Erkrankung früher und in stärkeren Ausmaß auftritt. Die biologische Funktion der durch diese Gene codierten Proteine (sie heißen Ataxin 1, 2, 3, 6, 7 und TBP (bei SCA17)) ist weitgehend unklar. Es codieren nicht alle betroffenen SCA-Gene für Proteine. Das SCA8-Gen codiert zum Beispiel für eine Antisense-RNA, was wissenschaftlich gesehen anfangs zu großer Verwirrung führte, da zu diesem Zeitpunkt aberrante Proteinagglomerate als krankheitsauslösend galten.
Machado-Joseph-Krankheit
Die spinozerebelläre Ataxie Typ 3 (SCA3) wird in der Literatur meist als Machado-Joseph-Krankheit (MJD) bezeichnet. Die Ursache der Krankheit ist eine Mutation des MJD1-Gens auf Chromosom 14 Genlocus q24.3-32.1, die zu einer Verlängerung des Polyglutamin-Bereiches führt. Mit einem Anteil von 35 % an den autosomal-dominant vererbten cerebellären Ataxien ist die MJD die häufigste Form dieser Krankheit in Deutschland.[9]
SCA13
Spinozerebelläre Ataxie Typ 13 (SCA13) ist eine neurodegenerative Erkrankung, die das Kleinhirn (Zerebellum) befällt. SCA13 wird autosomal dominant vererbt.
SCA13 ist verursacht durch Mutationen im Kaliumkanal KCNC3 (Kv3.3). Bisher sind drei Mutationen beobachtet worden: R420H, R423H, und F448L. R420H-Mutationen gehen mit Erkrankung im Erwachsenenalter einher, die anderen mit Erkrankung im Kindesalter oder kongenital und langsamer Progredienz.
Literatur
- R. A. M. Buijsen, L. J. A. Toonen, S. L. Gardiner, W. M. C. van Roon-Mom: Genetics, Mechanisms, and Therapeutic Progress in Polyglutamine Spinocerebellar Ataxias. In: Neurotherapeutics. Band 16, Nr. 2, April 2019, S. 263–286, doi:10.1007/s13311-018-00696-y, PMID 30607747.
- H. L. Paulson, V. G. Shakkottai, H. B. Clark, H. A. T. Orr: Polyglutamine spinocerebellar ataxias - from genes to potential treatments. In: Nat Rev Neurosci. Band 18, Nr. 10, Oktober 2017, S. 613–626, doi:10.1038/nrn.2017.92, PMID 28855740.
- L. Schöls, P. Bauer, T. Schmidt, T. Schulte, O. Riess: Autosomal dominant cerebellar ataxias: clinical features, genetics, and pathogenesis. In: Lancet Neurol. Band 3, Nr. 5, Mai 2004, S. 291–304, doi:10.1016/S1474-4422(04)00737-9, PMID 15099544.
- O. Riess, T. Schmidt, L. Schols: Autosomal dominant vererbte spinozerebelläre Ataxien - Klinik, Genetik und Pathogenese. In: Deutsches Ärzteblatt. Band 98, Nr. 23, 2001, S. 1233–1240.
- Aya Kito: 1 litre of tears. (japanisch: Ichi Rittoru no Namida. dt. übersetzt: ‚1 Liter Tränen‘).
- D. Tait: Subzelluläre Lokalisierung des Ataxin-3 Proteins und Aggregatenanalysen in vitro und in Zellkultursystemen. Dissertation. FU Berlin, 2000 (diss.fu-berlin.de).
- Yuliia V. Nikonishyna et al.: Novel CACNA1A Variant p.Cys256Phe Disrupts Disulfide Bonds and Causes Spinocerebellar Ataxia. In: Movement disorders. Official journal of the Movement Disorder Society. 14. Oktober 2021, doi:10.1002/mds.28835.
Weblinks
- Forschungskonsortium für die spinozerebellären Ataxien
- Wissenschaftliche Veröffentlichungen zu SCAs über HubMED
- Universität Regensburg: Spinocerebelläre Ataxie (SCA)
Einzelnachweise
- ↑ Immo von Hattingberg: Spino-cerebellara Heredoataxie. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 1347 f.
- ↑ a b Filippo De Mattei, Fabio Ferrandes, Salvatore Gallone, Antonio Canosa, Andrea Calvo, Adriano Chiò, Rosario Vasta: Epidemiology of Spinocerebellar Ataxias in Europe. In: The Cerebellum. Band 23, Nr. 3, 1. Juni 2024, ISSN 1473-4230, S. 1176–1183, doi:10.1007/s12311-023-01600-x, PMID 37698771, PMC 11102384 (freier Volltext).
- ↑ a b Neurologie compact: Für Klinik und Praxis. 9. Auflage. Thieme, Stuttgart 2022, ISBN 978-3-13-243035-8.
- ↑ Naveed Malek, Chulika Makawita, Yaqub Al-Sami, Aram Aslanyan, Rajith de Silva: A Systematic Review of the Spectrum and Prevalence of Non-Motor Symptoms in Adults with Hereditary Cerebellar Ataxias. In: Movement Disorders Clinical Practice. Band 9, Nr. 8, 2022, ISSN 2330-1619, S. 1027–1039, doi:10.1002/mdc3.13532, PMID 36339305, PMC 9631846 (freier Volltext) – (wiley.com [abgerufen am 15. September 2025]).
- ↑ Stefan M. Pulst: Spinocerebellar Ataxia Type 2. In: Neurology Genetics. Band 11, Nr. 1, Februar 2025, S. e200225, doi:10.1212/NXG.0000000000200225 (neurology.org [abgerufen am 15. September 2025]).
- ↑ Zi-Ting Cui, Zong-Tao Mao, Rong Yang, Jia-Jia Li, Shan-Shan Jia, Jian-Li Zhao, Fang-Tian Zhong, Peng Yu, Ming Dong: Spinocerebellar ataxias: from pathogenesis to recent therapeutic advances. In: Frontiers in Neuroscience. Band 18, 4. Juni 2024, ISSN 1662-453X, doi:10.3389/fnins.2024.1422442, PMID 38894941, PMC 11185097 (freier Volltext) – (frontiersin.org [abgerufen am 15. September 2025]).
- ↑ Roisin Sullivan, Wai Yan Yau, Emer O’Connor, Henry Houlden: Spinocerebellar ataxia: an update. In: Journal of Neurology. Band 266, Nr. 2, Februar 2019, ISSN 1432-1459, S. 533–544, doi:10.1007/s00415-018-9076-4, PMID 30284037, PMC 6373366 (freier Volltext).
- ↑ Jenish Bhandari, Pawan K. Thada, Debopam Samanta: Spinocerebellar Ataxia. In: StatPearls. StatPearls Publishing, Treasure Island (FL) 2021, PMID 32491748 (nih.gov [abgerufen am 6. September 2021]).
- ↑ Humangenetik der Universität Bochum: Ataxien, spinozerebelläre autosomal-dominante (SCA)