Schmerzensmann (Ulmer Münster)

Kopie Schmerzensmann von Hans Multscher am Westportal des Ulmer Münsters

Der Schmerzensmann ist eine zentral angeordnete Figur am Hauptportal des Ulmer Münsters. Die Christusfigur von 1429 gilt als Hauptwerk von Hans Multscher und zählt zu den hervorragendsten Skulpturen der Spätgothik.

Beschreibung

Als Schmerzensmann wird eine Darstellung des lebenden Jesus Christus bezeichnet, die meist alle Wunden seiner Kreuzigung zeigt, einschließlich Dornenkrone und der Seitenwunde. Die Darstellung soll zur Andacht und zum Mitleid anregen.[1]

Multschers lebensgroße Figur des Schmerzensmann ist von dramatischem Leben erfüllt und stellt eine steinerne Persönlichkeit dar.[2] Die Physiognomie des Gesichtes ist realistisch ausgearbeitet und dient der Verdeutlichung der Leiden Jesu. Der leidgeprüfte Gesichtsausdruck basiert auf den tiefliegende Augenbrauen, den markanten Nasen- und Stirnfalten sowie den schmalen gefurchten Wangen. Dieser Ausdruck des Leides wird durch die tiefen Grate in den Haar- und Bartlocken weiter gesteigert.[3] Demgegenüber weist Zimmermann darauf hin, dass das Gesicht „keinerlei schmerzliche Züge aufweise, sondern eher den Eindruck mache, als könnten ihn die durch die Wunden anschaulich gemachten Ereignisse nicht aufhalten“.[4]

Meier-Lörcher führt hierzu aus: „Mit kaum beschreibbarer Eindringlichkeit richtet sich der Schmerzensmann an den Beschauer: «Das litt ich für Dich»“.[2] Jesus steht seinem Betrachter frontal und in Bewegung gegenüber. Der Oberkörper ist leicht vorgebeugt, die Hüfte zum Schritt vorgeschoben. Die rechte Hand weist auf die Seitenwunde hin. Die Linke wird ebenfalls in der Höhe der Seitenwunde gehalten und erscheint durch die Qual der sichtbaren Nagelwunde verkrampft.[2][4] „Wieder lebendig geworden führt er den Dialog mit den Gläubigen“.[2]

Mit dem stark hervortretenden realistischen, ja expressiven Stil dieser Figur brach Multscher mit dem bis dahin noch gültigen „weichen Stiel“ der Bauskulpturen am Ulmer Münster, so dass die Figur schon zur damaligen Zeit eine Besonderheit darstellte.[2][3] Multschers Vorstellung eines neuen Erscheinungsbildes zeigt sich im Verzicht der Stoffülle sowie im sichtbaren muskulösen rechten Arm, der kraftvoll aus der Schulter heraus nach vorne zeigt. Zusammen mit den sehnigen und mageren Beinen, die unschön gespreizt sind, vermittelt die Figur den Eindruck freier Bewegung.[2] Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass das links geknotete Lendentuch über dem linken Oberschenkel spannt als setze Jesus Christus gerade zu einem Schritt an.[4] Mit dem nach vorne und rechts geneigten Oberkörper geht die Figur zusammen mit den gespreizten Beinen weit über den Baldachinraum hinaus.[2] Nur der dünne Mantel, der von der linken Schulter und der Beuge des rechten Armes hinter dem Körper herabfällt und so eine Gewandschale bildet, gibt optisch Halt. Der Erlöser ist einerseits darin eingebettet und versucht andererseits, nach der Stellung der Beine zu urteilen, sich aus dieser zu lösen.[4][2] Als Folge schreitet der gekreuzigte und wiederauferstandene Christus voll Schmerz auf den Betrachter zu, weist aber gleichzeitig auf sich selbst.[2] „Schmerz als etwas Erfahrbares aber Überwindbares wird anschaulich gemacht“.[2]

Wahrscheinlich wurde nie vorher die Gegenwart Jesus Christus so real, bedrängend und fordernd, aber auch hilfreich dargestellt.[2] Die Figur gilt als Hauptwerk Multschers und zählt zu den hervorragendsten Skulpturen der Spätgotik.[2][3] Er wird damit als Wegbereiter des aus den burgundischen Niederlanden nach „Deutschland“ vordringenden Realismus angesehen.[5]

Datierung, Urheber und Aufstellungsort

Original des Schmerzensmanns im Chor des Münsters; ursprünglicher Standort war am Zentralpfeiler des Westportals

Auf einem Täfelchen am Sockel der Sandsteinfigur steht die Jahreszahl 1429. An der Urheberschaft von Hans Multscher gibt es keine Zweifel, obwohl sein Namen nicht an der Figur zu finden ist. Der Auftraggeber ist unbekannt ist, mitunter wird der Namen Hans Hütz genannt.[4][2]

Wahrscheinlich war der Schmerzensmann von Multscher ursprünglich nicht als freiplastische Portalfigur entworfen worden, sondern war als eigenständiges Werk für eine Wand- bzw. Pfeileraufstellung gedacht gewesen.[2][4] Möglicherweise sollte er in einem Sakramentshaus aufgestellt werden. Jedenfalls ist ein geplanter Standort am Zentralpfeiler des Westportals mehr als fraglich. Mathäus Böblingers Turmriss sah an diesem Platz Maria vor, die Kirchenpatronin des Ulmer Münsters war. Der Standort eines Schmerzensmanns sollte einen Sockel höher sein. Eventuell wurde Multschers Schmerzensmann schon vor der Reformation am Platz der Maria aufgestellt, obwohl die vorhandene Nische für die Figur eigentlich zu klein ist.[2]

Heute steht eine Kopie des Schmerzensmanns im Westportal, während das Original an der südlichen Chorwand im Inneren des Münsters steht.[2]

Einzelnachweise

  1. Was versteht man unter dem Begriff "Schmerzensmann"? In: the-artinspector.de. Abgerufen am 13. September 2025.
  2. a b c d e f g h i j k l m n o p Barbara Maier-Lörcher: Meisterwerke Ulmer Kunst. Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm im Thorbecke Verlag, Ulm 2004, ISBN 3-7995-8004-2, S. 24, 25.
  3. a b c Christliche Kunst in Südwestdeutschland: Gotik. Abgerufen am 13. September 2025.
  4. a b c d e f Andrea Zimmermann: Jesus Christus als „Schmerzensmann“ in hoch- und spätmittelalterlichen Darstellungen der bildenden Kunst: eine Analyse ihres Sinngehalts. Hrsg.: Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 1997, S. 87 (uni-halle.de [PDF]).
  5. Patrick Müller: Berühmter Schmerzensmann in Leutkirch zu sehen. In: schwaebische.de. 4. April 2023, abgerufen am 14. September 2025.

Koordinaten: 48° 23′ 55″ N, 9° 59′ 33″ O