Rietmann (Familie)
Die Familie Rietmann ist ein altes Schweizer Patriziergeschlecht. Die frühesten Belege reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück und deuten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einen Ursprung in Bischofszell (Kanton Thurgau) hin. Im Laufe der Zeit liessen sich verschiedene Linien in zahlreichen eidgenössischen Städten nieder – darunter Zürich, St. Gallen, Schaffhausen und Basel – und brachten Kaufleute, Militärs, städtische Amtsträger sowie prägende Mitglieder des Zunftwesens hervor. Seit dem 19. Jahrhundert wanderten einzelne Angehörige auch ins Ausland aus, u. a. nach Mailand und bis nach Neuseeland.[1]
Herkunft und Verbreitung
Obwohl das Bürgerrecht in Bischofszell seit 1417 belegt ist, stammt der früheste gesicherte Hinweis auf die Familie aus dem Jahr 1296, als ein Burkard Rietmann in Zürcher Registern erscheint. Zwischen dem 14. und 15. Jahrhundert sind mehrere Rietmann im Raum zwischen Bischofszell und Wattwil bezeugt, teils durch Eide an die Grafen von Toggenburg gebunden. In den folgenden Jahrhunderten siedelten Angehörige zuerst nach Zürich, Schaffhausen und Basel über und später nach St. Gallen, wo die Familie ihre grösste politische und wirtschaftliche Bedeutung erlangte.[1][2]
Familienzweige
Zweig St. Gallen
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Die einflussreichste Linie bildete sich in St. Gallen heraus. Um 1420 zogen Rietmann von Rorschach in die Stadtrepublik; 1499 erhielt Hans Rietmann, zuvor Vogt auf der rorschachischen Burg, das Bürgerrecht. Ein zweiter aus Bischofszell stammender Zweig (genannt Kudermann) wurde 1538 eingebürgert.[1] Mit dem Eintrag ins Bürgerbuch erhielten die Familienmitglieder vollen Zugang zu den korporativen Regierungsorganen: Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert stellten die Rietmann mehrfach Zunftmeister, besonders in der Metzgerzunft und der Schmiedezunft, nahmen Einsitz in den Kleinen Rat und bekleideten zeitweise die Ämter des Unterbürgermeisters und des Bürgermeisters. Über vierzehn Generationen lassen sich mindestens 63 Rietmann als Metzger nachweisen, davon 45 im Hauptzweig; sechs stiegen zu Zunftmeistern auf – eine nahezu durchgehende Präsenz in der Lokalpolitik über rund vier Jahrhunderte.[3][1]
Bereits im 15. Jahrhundert sind mehrere Familienmitglieder als Bürger von Bischofszell mit Rechten an Kirchengütern und Zehnten belegt: 1421 erhielt Üli Rietmann vom Abt von St. Gallen Güter und Renten in Nieder-Arnegg; 1440 erscheint Hans Rietmann als Besitzer von Gütern in Begginen; 1467 wurden die Brüder Hans und Üli Rietmann (Söhne des verstorbenen Üli) mit Gütern und Zehnten in Nieder-Arnegg und Hüttenwil belehnt. 1571 sind Heinrich und Ulrich Rietmann als Miteigentümer von Liegenschaften in Lustnau dokumentiert. Diese Quellen belegen die Kontinuität und Ausbreitung des Geschlechts in der Ostschweiz bereits vor der St. Galler Einbürgerung von 1499.[4][5]
Im Juni 1529, während der Spannungen vor dem Zweiten Kappelerkrieg, führte Heinrich Rietmann, genannt Vogt, ein Kontingent von 105 Milizionären, das vom St. Galler Rat an die Rheingrenze entsandt worden war, und übernahm kurz darauf das Kommando über eine 24 Mann starke Garnison zur Sicherung der städtischen Abtei – ein frühes Zeugnis der militärisch-politischen Einbindung der Familie in der korporativen Republik.[2]

Parallel zur Zunfttätigkeit zeichneten sich einzelne Angehörige in weiteren Bereichen aus: Michael Rietmann (1647–1726) unterstützte St. Galler Schulen; sein gleichnamiger Enkel (1782–1862) trieb die wissenschaftliche Bewirtschaftung der Gemeindewälder voran; Georg Karl Rietmann-Gruebler (1843–1899) war Vizepräsident der Unionbank und Mitinitiator der Mühleggbahn. In Kultur und Bildung hervorzuheben sind der Pfarrer und Schriftsteller Johann Jakob Rietmann-Brändli (1815–1867) sowie der Zeichenlehrer Johann Jakob Blasius Rietmann-Zollikofer (1808–1868). Im Sport erlangte der Goldschmied und Turnpädagoge Jakob Arnold Rietmann (1846–1906) landesweite Bekanntheit. Andere Familienmitglieder betrieben Wirtshäuser und Hotels.[1]
Im 19. Jahrhundert wanderten einzelne Linien ins Ausland aus: Kaufleute gründeten Niederlassungen in Galați (Rumänien), andere liessen sich in Mailand nieder; Reisende wie Otmar Laurenz Rietmann (1831–1869) gelangten bis nach Australien und Neuseeland. Trotz dieser Dispersion bleibt der Name eng mit der Wirtschafts- und Politikgeschichte St. Gallens verbunden, wo die Rietmann den Übergang von einer handwerklichen Elite zu einem städtischen Patriziat verkörperten – in Abwesenheit eines einheimischen Adels.[1]
Aus der in Mailand ansässig gewordenen Linie ging Hugo Eugen Rietmann hervor, ein Textilunternehmer und frühe Fussballpersönlichkeit. Er nahm am 9. März 1908 an der Gründung des Foot-Ball Club Internazionale teil, spielte 1909 als Mittelfeldspieler, wurde anschliessend Schiedsrichter (Mitgründer der Mailänder Sektion der Associazione Italiana Arbitri 1927) und leitete ein Unternehmen für hochwertige Stoffe mit engen Beziehungen in die Schweiz. 1948 zeichnete ihn der italienische Verband FIGC als «Pionier des italienischen Fussballs» aus.[6]

Zweig Schaffhausen
In Schaffhausen ist die Familie seit 1392 belegt (erstes städtisches Steuerregister). 1575 erwarb ein Familienmitglied formell das Bürgerrecht, womit der Eintritt in das städtische Patriziat besiegelt wurde. Aus diesem Zweig stammt u. a. Johannes Rietmann (1679–1765), der als Offizier in savoyisch-sardinischen Diensten bis zum maréchal de camp (Generalmajor) aufstieg.[7]
Zweig Zürich
Die Zürcher Rietmann gingen im 15. Jahrhundert aus Einbürgerungen von Bischofszell (1422–1434) hervor und gehörten dem handwerklich-kaufmännischen Bürgertum an. Die Linie erlosch am 28. März 1723.[3]
Verbindungen und Heiraten
Im Verlauf der Jahrhunderte ging die St. Galler Linie der Rietmann zahlreiche Bündnisse mit namhaften Geschlechtern ein und festigte so soziale wie politische Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien:
- Zollikofer – bedeutende St. Galler Kaufmannsfamilie, im HRR nobilitiert; einflussreich in der reformierten Führungsschicht der Ostschweiz (u. a. Mitglieder der Gesellschaft Notenstein).[8]
- Huber (SG) – seit dem 14. Jahrhundert belegt; u. a. Uli Huber (gefallen bei Marignano 1515) und der Komponist Ferdinand Fürchtegott Huber (1791–1863).[9]
- Zili – Leinenhändler aus St. Gallen; im 15. Jahrhundert zu den reichsten Familien zählend; wichtige Rolle in Reformation und Notenstein; Mitgründer der Bank Wegelin & Co.[10]
- Scheitlin – seit dem 16. Jahrhundert in St. Gallen; u. a. Peter Scheitlin (1779–1848), Pfarrer und Professor, Reformator des städtischen Kultur- und Bildungslebens.[1]
- Högger – appenzellischer Ursprung; im 17.–18. Jh. einzelne Nobilitierungen in Frankreich und Schweden; Bankgründer, Diplomaten und Militärs; prägend auch in St. Gallen (u. a. Notenstein).[11]
- Locher – seit dem 14. Jh. in St. Gallen belegt; Aufstieg durch Handel; Verbindungen u. a. zu den Högger; Stifter, Militär- und Kirchenämter.[1]
- Bonzi – lombardisches Adelsgeschlecht, Conti del Serio aus Crema; moderne Verbindung zur italienischen Aristokratie.[12]
Weitere Heiratsbeziehungen bestanden u. a. mit Wild, Tobler, Wettach, Alther, Rheiner, Scherrer, Dürrler, Schlegel, Ehrenzeller und Fehr.[3]
Bedeutende Angehörige
- Heinrich Rietmann († 1509): Teilnehmer am Schweizer Söldnerzug nach Neapel (1495); einer von vier Überlebenden unter 121 St. Gallern.[1]
- Michael Rietmann (1647–1726): wohlhabender Kaufmann und Ratsherr; Förderer der St. Galler Schulen; Stadtkämmerer.[1]
- Johannes Rietmann (1679–1765): Dienst bei den Niederlanden (1696–1703) und Savoyen/Piemont (1703–1743); Aufstieg bis maréchal de camp (Generalmajor) per königlichem Dekret; Teilnahme an den spanischen, polnischen und österreichischen Erbfolgekriegen. 1734 in Sardinien nobilitiert.[13]
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Johannes Rietmann - Hans Jakob Rietmann (1667–1756): Zunftmeister der Weber, Garnisons-Hauptmann, Leiter des Collegium Mercatorum, Spitalverwalter, Unterbürgermeister (1725–1729), Bürgermeister (1729–1756) und kaiserlicher Gerichtsoffizier; Reorganisator des städtischen Schulwesens.[1]
- Johannes «Trisch» Rietmann und sein Sohn Zacharias († 1830): Namensgeber der St. Galler Lese- und Wirtsgesellschaft zum Trischli.[1]
- J. J. Rietmann-Brändli (1815–1867): reformierter Pfarrer (v. a. in Lichtensteig), bekannt für eigenständiges Denken und literarische Lebendigkeit.[1]
- Georg Karl Rietmann-Gruebler (1843–1899): Unternehmer; baute sein Vermögen in Galați (Rumänien) auf; danach leitende Funktionen im St. Galler Bank- und Handelswesen.[1]
- Michael Rietmann (1782–1862): Impulsgeber für die nachhaltige Nutzung der St. Galler Gemeindewälder; 1819–1850 Forstverwalter, danach Mitglied der Forstkommission.[1]
- Hans Kaspar Rietmann (1717–1777): Feldkaplan im französischen Heer (Regiment Diesbach), später Gymnasiallehrer für Französisch und Pfarrer der Französischen Kirche in St. Gallen (1767–1775).[1]
- Hugo Eugen Rietmann (1886–1959): Textilunternehmer, Fussballer (Mitgründer von Inter), Schiedsrichter (Mitgründer der AIA-Sektion Mailand) und Trainer; später als «Pionier des italienischen Fussballs» geehrt.[6]

Literatur
- Georg Leonhard Hartmann: Geschichte der Stadt St. Gallen. St. Gallen 1818.[2]
- Johannes Göldi: Der Hof Bernang. St. Gallen 1897.
- Hermann Wartmann: Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen. Zürich 1904.
- Bürgerbuch der Ortsbürgergemeinde St. Gallen 1900. St. Gallen 1901.[1]
- Enzo Bonzi (Hrsg.): I Conti del Serio. Memorie familiari dei Conti Bonzi fu Giuseppe. La Moderna, 1946.
Einzelnachweise
- ↑ a b c d e f g h i j k l m n o p q Bürgerbuch der Ortsbürgergemeinde St. Gallen 1900. St. Gallen 1901.
- ↑ a b c Georg Leonhard Hartmann: Geschichte der Stadt St. Gallen. St. Gallen 1818.
- ↑ a b c Stammlinie Rietmann. In: Historisches Familienlexikon der Schweiz. Abgerufen am 26. Juni 2025.
- ↑ Johannes Göldi: Der Hof Bernang. St. Gallen 1897.
- ↑ Hermann Wartmann: Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen. Zürich 1904.
- ↑ a b Hugo Eugenio Rietmann. In: magliarossonera.it. Abgerufen am 22. März 2025.
- ↑ Stadtarchiv Schaffhausen (KSD): Genealogien (stadtarchiv-schaffhausen.ch), abgerufen am 26. Juni 2025 (Archivversion vom 5. Juni 2025).
- ↑ Rezia Krauer: Zollikofer. In: Historisches Lexikon der Schweiz, abgerufen am 4. August 2025.
- ↑ Franz Xaver Bischof: Huber (SG). In: Historisches Lexikon der Schweiz, abgerufen am 4. August 2025.
- ↑ Markus Kaiser: Zili. In: Historisches Lexikon der Schweiz, abgerufen am 4. August 2025.
- ↑ Marcel Mayer: Högger. In: Historisches Lexikon der Schweiz, abgerufen am 4. August 2025.
- ↑ Enzo Bonzi (Hrsg.): I Conti del Serio. Memorie familiari dei Conti Bonzi fu Giuseppe. La Moderna, 1946.
- ↑ Wolfgang Göldi: Johannes Rietmann. In: Historisches Lexikon der Schweiz, abgerufen am 4. August 2025.