Rechtsarchäologie

Rechtsarchäologie ist ein Forschungsgebiet der Rechtsgeschichte. Als Begründer des Fachs gilt der Münchener Rechtshistoriker Karl von Amira (1848–1930).[1]
Gegenstand

Karl von Amira ging vom Oberbegriff der „Rechtsdenkmäler“ aus, die er in drei Gruppen einteilte. Er unterschied gegenständliche, mündliche und schriftliche Denkmäler. Die zumeist literarisch überlieferten, mündlichen Denkmäler fasste er unter den Begriff der Rechtssprache, die schriftlichen Denkmäler waren die Rechtsquellen. Die Rechtsarchäologie wiederum behandelt die gegenständlichen Rechtsdenkmäler.[2] Diese spielten vor allem für den ländlichen Rechtsalltag in Mittelalter und Früher Neuzeit eine wichtige Rolle, da in diesem Bereich die schriftlichen Quellen über das Rechtsleben relativ spät und nur partiell einsetzen.[3]
Insoweit befasst sich Rechtsarchäologie mit der Erforschung, Auswertung, Systematisierung und Inventarisierung von Bauwerken, Denkmälern und anderen Gegenständen, die vornehmlich der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte entstammen, wobei die genaue Datierung oft schwierig ist.[4][5][6] Während die in diesem Bereich tätigen Archäologen – etwa im Wege von Ausgrabungen – Informationen über nicht mehr existierende Gebäude und Anlagen zu sammeln suchen, etwa verschwundene Gerichtsplätze oder Richtstätten, setzen sich rechtsarchäologisch arbeitende Rechtshistoriker primär mit noch bestehenden Objekten auseinander und suchen diese hinsichtlich ihrer spezifisch rechtlichen Bedeutung zu erforschen.[7] Hierbei sind die Grenzen zur Rechtsikonographie[8] und Rechtlichen Volkskunde fließend.[9]
Quellen

Karl von Amira und Claudius Freiherr von Schwerin haben das gesamte rechtsarchäologische Material in sechs Abteilungen systematisiert:[7]
- Orte und Gebäude
- Gebrauchsgegenstände (Werkzeuge und Geräte)
- Attribute und Symbole
- Zeichen (von Personen, Sachen, Territorien)
- Amtstrachten
- Formen des Rechtsbrauchs.
Witold Maisel unterscheidet Objekte (Orte und Gegenstände) mit funktionalem Charakter für Rechtssetzung und -anwendung und Gegenstände rechtlichen Handelns, Zeichen und Symbole, welche konkret-historische Erscheinungsformen des Rechts (Rechtsinstitute) und Handlungen begleiten sowie versinnbildlichen.[10][7]
Zu den ersten zählt er natürlich vorkommende (Rechts-)Orte unter freiem Himmel wie Versammlungs-, Wahl-, Inthronisations-, Schwur-, Rechtsprechungs-, Verkünd-, Asyl-, Wallfahrts-, Huldigungs- und Strafvollzugsorte sowie für Rechtszwecke errichtete Räumlichkeiten, etwa Rathäuser, Zunfthäuser, Pfalzen, Gerichts-, Verwaltungs-, Behörden-, Kirchen-, Universitäts- und Gefängnisgebäude, Zollhäuser, Börsen, Büttel- und Henkerhäuser, Verliese, Kirchenportale als Rechtsstätten, Gilden-, Zunft-, Rats-, Gemeinde- und Bruderschaftsstuben sowie Folterkammern, Einrichtungen und Geräte des Rechtslebens, insbesondere zur Durchführung des Gerichtsverfahrens oder zur Vollstreckung von Strafen (Betzekämmerchen, Pranger, Galgen), Geräte und Zubehör der Verwaltung (z. B. Glocke als Zeichen für die Ankündigung einer Bekanntmachung oder als Gebot einer zu vollziehenden Handlung, Wahlurnen als Utensil der Abstimmung, Signalhörner zur Warnung vor Gefahren, Aktenschränke als Behältnisse im Archivwesen), Gegenstände des (insbesondere wirtschaftlich relevanten) Rechtsverkehrs (Münzen, Maße, Gewichte, Kerbhölzer, Auktionshämmer) und der Handwerkerzünfte sowie anderer Korporationen (Zunftladen, Handwerkstafeln, Becher, Kannen).[7]
Zur zweiten Kategorie zählen beispielsweise Amtstrachten, Hochzeitstrachten, Trachten bestimmter Personengruppen, Militär- und Polizeiuniformen, Insignien weltlicher Herrscher und Amtszeichen (vor allem die Reichskleinodien und andere Kronen, Lanzen, Schwerter und Stäbe), Insignien kirchlicher Macht (z. B. Pallium), Universitätsinsignien (z. B. Zepter), Attribute kirchlicher Würdenträger (z. B. Krummstäbe), Attribute weltlicher Beamter (z. B. Amtsketten), Zeichen der Staatsgewalt (z. B. Flaggen, Banner, Fahnen, Standarten), Zeichen für Privilegien, Berechtigungen (z. B. Strohwisch/Kranz als Zeichen der Schankgerechtigkeit) und Amtsfunktionen (z. B. Richterstäbe), Beglaubigungszeichen (z. B. Notarsignets), Zeichen der Entrichtung von Abgaben, Personenzeichen (z. B. Siegel), Eigentumszeichen (z. B. Brandzeichen an Haustieren, Hauszeichen) und Produktionszeichen (z. B. Steinmetzzeichen, Warenzeichen), Steine (z. B. Gerichts-, Grenz-, Bauern-, Sühne- oder Blaue Steine), Friedens- und Freiheitszeichen (z. B. Freiheitsbäume, Rolande, Marktkreuze, Schwertnachbildungen), öffentliche Beschau- und Prüfungszeichen (z. B. Qualitätssiegel) sowie Entfernungszeichen (z. B. Meilensteine, Postmeilensäulen).[7]
Wegen der Vielfalt und Multifunktionalität der Örtlichkeiten, Gegenstände, Symbole und Handlungen und dem Bedeutungswandel, dem diese im Lauf der Zeit unterliegen konnten, ist eine abschließende Systematik nicht möglich.[7]
Literatur
- Hermann Baltl: Rechtliche Volkskunde und Rechtsarchäologie. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde. Band 48, 1952, S. 65–82.
- Paul De Win (Hrsg.): Rechtsarcheologie en rechtsiconografie/Rechtsarchäologie und Rechtsikonographie. Een kennismaking; handelingen van het colloquium gehouden te Brussel op 27 april 1990, Brüssel 1992.
- Adalbert Erler: Percy Ernst Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung). Band 72, Heft 1, 1955. S. 290–293.
- Wernfried Fieber, Reinhard Schmitt: Erfassung und Schutz von Rechtsdenkmälern – erste Ergebnisse rechtsarchäologischer Forschung. In: Archäologie und Heimatgeschichte Band 4, S. 66–69. (1989).
- Gerhard Köbler: Bilder aus der deutschen Rechtsgeschichte, C.H. Beck München, 1988. ISBN 978-3-406-32880-0.
- Heiner Lück: Was ist und was kann Rechtsarchäologie? Denkströme 2012, PDF–Version.
- Witold Maisel: Rechtsarchäologie Europas, 1992, ISBN 3-205-05364-8.
- Witold Maisel: Die Abgrenzung der Rechtsarchäologie und der Rechtlichen Volkskunde. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde, Band 2 (1979), S. 93–104.
- Reiner Schulze (Hrsg.): Rechtssymbolik und Wertevermittlung. Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte (ERV), Band 47, Berlin 2004. ISBN 978-3-428-11235-7.
Zeitschriften und Reihen zur Rechtsarchäologie
- Signa Iuris – Beiträge zur Rechtsikonographie, Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde (Verlagsseite, Inhaltsverzeichnis der gesamten Reihe).
- Forschungen zur Rechtsarchäologie und zur Rechtlichen Volkskunde (Verlagsseite, Inhaltsverzeichnis der gesamten Reihe).
Weblinks
- Stephan Altensleben: Die vergessene Botschaft der Rechtsdenkmäler in: Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen beim Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege (Hrsg.): Museum heute 32, Fakten–Tendenzen–Hilfen, München 2007, S. 67–73
- Rechtsarchäologische Sammlung Karls von Amira.
- Internationale Gesellschaft für Rechtliche Volkskunde, Arbeitskreis Rechtsikonographie
Einzelnachweise
- ↑ Mathias Schmoeckel: Karl von Amira und die Anfänge der Rechtsärchäologie. Die rechtsarchäologische Sammlung Karl von Amiras am Leopold-Wenger-Institut. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde. Band 17, 1997, S. 67–81.
- ↑ Karl von Amira: Germanisches Recht. (Band 1: Rechtsdenkmäler), in: Grundriss der germanischen Philologie. De Gruyter, Berlin 1960. S. 7 ff.
- ↑ Vgl. dazu Wernfried Fieber, Reinhard Schmitt: Heiße Steine in Mitteldeutschland – eine Problemanzeige, in Signa Iuris 1 (2008), S. 135–151.
- ↑ Vgl. Wernfried Fieber, Reinhard Schmitt: Zum Stand der Inventarisation rechtsarchäologischer Denkmale in Sachsen-Anhalt, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 13 (1991), S. 67–93.
- ↑ Caspar Ehlers, Lutz Fenske, Thomas Zotz: Die deutschen Königspfalzen. Repertorium der Pfalzen, Königshöfe und übrigen Aufenthaltsorte der Könige im deutschen Reich des Mittelalters. Göttingen 1983 ff.
- ↑ Ulrich Rüger: Die historischen Grenzsteine des Rennsteigs in der Neuhäuser Region. Erfurt 2003.
- ↑ a b c d e f Heiner Lück: Was ist und was kann Rechtsarchäologie? In: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Nr. 8, 2012, S. 35–55, 40 f. (denkstroeme.de).
- ↑ Rechtsikonographie - Was ist das? Abgerufen am 27. Februar 2019.
- ↑ Witold Maisel: Die Abgrenzung der Rechtsarchäologie und der Rechtlichen Volkskunde. In: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde, Band 2 (1979), S. 93–104.
- ↑ Witold Maisel: Rechtsarchäologie Europas. Aus dem Polnischen übersetzt von Ruth Ponińska-Maisel. Wien, Köln, Weimar 1992.