Otto Suhr

Otto Suhr (Bildmitte), 1955

Otto Ernst Heinrich Hermann Suhr (* 17. August 1894 in Oldenburg (Oldb); † 30. August 1957 in West-Berlin) war ein deutscher Politiker der SPD und vom 11. Januar 1955 bis zu seinem Tod Regierender Bürgermeister von West-Berlin.

Suhr war in der Zeit der Weimarer Republik Gewerkschaftssekretär und Journalist, später leistete er Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Von 1946 bis 1950 war er Vorsteher der Berliner Stadtverordnetenversammlung, die nach der Spaltung der gemeinsamen Kommunalverwaltung 1948 nur noch in den Westsektoren der Stadt wirken konnte. Als Berliner Vertreter gehörte er 1948/1949 dem Parlamentarischen Rat und anschließend bis 1952 dem Deutschen Bundestag an. Außerdem leitete er von 1948 bis 1955 die Deutsche Hochschule für Politik, aus der später das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin hervorging.

Nach dem Inkrafttreten der West-Berliner Landesverfassung war Otto Suhr von 1951 bis 1955 erster Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin. Als Nachfolger Walther Schreibers wurde er infolge der Abgeordnetenhauswahl im Dezember 1954 Stadtoberhaupt und Regierungschef West-Berlins und stand an der Spitze eines Senats aus SPD und CDU.

Leben bis 1933

Otto Suhr war der Sohn eines (Ober-)Postsekretärs und wuchs in einem bürgerlich-liberalen Elternhaus auf. Den beruflichen Stationen des Vaters folgend, zog er im Alter von neun Jahren mit seiner Familie nach Osnabrück, vier Jahre später nach Leipzig. Nach dem Abitur an der dortigen Städtischen Oberrealschule begann er 1914 an der Leipziger Universität sein Studium in den Fächern Germanistik und Geschichte (insbesondere bei Karl Lamprecht am Institut für Kultur- und Universalgeschichte), das er wegen Teilnahme am Ersten Weltkrieg für fünf Jahre unterbrechen musste. Er war Leutnant der Reserve im Königlich-Sächsischen Reserve-Feld-Artillerie-Regiment Nr. 40 der sächsischen Armee und konnte sich als Artillerieverbindungsoffizier an der Ostfront auszeichnen. Während der Kerenski-Offensive konnte er unversehrt mit einer Meldung über die Sprengungen an seine Artilleriegruppe zurückkehren. Er wurde deshalb am 10. August 1917 mit dem Ritterkreuz des Militär-St.-Heinrichs-Ordens ausgezeichnet.[1] Nach Kriegsende setzte er ab 1919 sein Studium in Leipzig fort, zusätzlich zu Geschichte (u. a. bei Erich Brandenburg) und Germanistik (Literaturgeschichte bei Georg Witkowski) belegte er nun Volkswirtschaft und Zeitungswissenschaft (bei Karl Bücher).[2]

Noch vor Abschluss seines Studiums übernahm Suhr 1920 eine Stelle als Pressereferent bei der Reichszentrale für Heimatdienst in Kassel. In Leipzig heiratate er 1921 die gelernte Bibliothekarin und spätere Journalistin Susanne Pawel (1893–1989), Tochter eines jüdischen Kaufmanns. Im Jahr darauf wurde er Arbeitersekretär beim Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund in Kassel. Seine Promotion erfolgte 1923 bei Walter Goetz in Leipzig zum Thema Die berufsständische Verfassungsbewegung in Deutschland bis zur Revolution von 1848. Er war publizistisch tätig und war Dozent zu wirtschafts- und sozialpolitischen Themen an mehreren Volkshochschulen in Nordhessen und Thüringen.[3] Im November 1925 wechselte Suhr als Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung in die Zentrale des Allgemeinen freien Angestelltenbundes (AfA) nach Berlin, untersuchte die wirtschafts- und sozialpolitische Lage der Angestelltenschaft in der Weimarer Republik. In der Berliner Volkszeitung prognostizierte er Ende 1932 die Dauer einer damals drohenden NS-Herrschaft auf zwölf Jahre.[4]

NS-Zeit

Von 1933 bis 1935 arbeitete Otto Suhr als Redakteur für die Berliner Wochenzeitschrift Blick in die Zeit sowie als freier Wirtschaftspublizist, u. a. für die Frankfurter Zeitung und das Magazin Deutscher Volkswirt. 1936 beauftragte er Andreas Gayk als seinen freien Mitarbeiter mit Rechercheaufgaben. Zu dieser Zeit wohnte Suhr in der Kreuznacher Straße 28 in Wilmersdorf.[5]

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten gehörte Suhr dem gewerkschaftlichen Untergrund und dem Widerstandskreis um Adolf Grimme an. Vor Kriegsbeginn forderte ihn die Reichsschrifttumskammer mehrmals auf, sich von seiner Ehefrau Susanne, die aus einem jüdischen Elternhaus stammte, zu trennen. Otto Suhr lehnte dies kategorisch ab, konnte dank Intervention der Frankfurter Zeitung weiterhin publizistisch arbeiten. Dennoch wurde er mehrmals von der Gestapo gesucht, aber konnte zeitweise untertauchen.[6] Gegen 1944 sollte Suhr zur Organisation Todt eingezogen werden, und Ehefrau Susanne war von Deportation bedroht. Als ihm gegen Ende des Krieges die Verhaftung drohte, gelang ihm im letzten Augenblick die Flucht.[7] Unterkunft fanden er und seine jüdische Ehefrau bei der Berliner Journalistin Herta Zerna, die mehrere jüdische Bürger vor dem Zugriff durch die Gestapo schützte.[8]

Nachkriegszeit

Ende Mai 1945 leitete Otto Suhr eine wirtschaftspolitische Abteilung im Magistrat, engagierte sich für den Wiederaufbau der SPD und der Gewerkschaften in der Viersektorenstadt Berlin. Er wandte sich vehement gegen die im April 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone vollzogene Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED. Für die in den Westsektoren Berlins reorganisierte SPD (unter dem Vorsitz Franz Neumanns) wurde er erster Generalsekretär und organisierte ihren Wahlkampf für die Wahl zur Stadtverordnetenversammlung im Oktober 1946, den die Sozialdemokraten mit 48,7 Prozent der Stimmen gewannen. Die Stadtverordnetenversammlung wählte Suhr zu ihrem Vorsteher, woraufhin er das Amt des SPD-Generalsekretärs ab. Im neu gegründeten Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) kam es zum Streit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, der 1948 zur Gründung der Unabhängigen Gewerkschaftsorganisation (UGO) in den Westsektoren führte, zu deren maßgeblichen Gründern auch Otto Suhr zählte.[9]

Von 1948 bis 1955 leitete Suhr als Direktor die Deutsche Hochschule für Politik, die im 1959 gegründeten Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin aufging. Von 1951 bis 1953 war Suhr Mitglied im Verwaltungsrat des Vereins Studentische Darlehnskasse e. V.

Otto Suhr wohnte zuletzt in der Dahlemer Hüninger Straße 4. Er starb am 30. August 1957 in Berlin an Leukämie und wurde auf dem Waldfriedhof Zehlendorf in Berlin-Nikolassee beigesetzt. Die Grabstätte in der Abt. IX-W-374/375 gehört zu den Ehrengräbern des Landes Berlin.

Abgeordneter

Berliner Gedenktafel am Neuen Stadthaus in Berlin-Mitte, Parochialstraße 1–3

Seit 1946 war Suhr Mitglied und bis Anfang 1951 Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung von Berlin. Diese tagte zunächst im Neuen Stadthaus im Stadtteil Mitte, der zum sowjetischen Sektor Berlins gehörte. In dieser Zeit blockierte die sowjetische Besatzungsmacht vom 24. Juni 1948 bis Mai 1949 die Land- und Wasserwege zwischen den Westsektoren Berlins (die von der Sowjetischen Besatzungszone umgeben waren) und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands.

Suhr leitete die Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 6. September 1948, die von kommunistischen Demonstranten gestürmt wurde, ohne dass die im sowjetischen Sektor zuständige Volkspolizei diese behinderten. Die Stadtverordneten von SPD, CDU und LDP beschlossen daraufhin, ihre Sitzungen vorläufig ins Studentenhaus der Technischen Universität Berlin am Steinplatz in Charlottenburg zu verlegen, das zum britischen Sektor gehörte. Die SED-Stadtverordneten boykottierten diesen Umzug, womit die gemeinsame Volksvertretung von Groß-Berlin endete, bald darauf wurde für Ost-Berlin auch ein separater Magistrat eingesetzt.

Als nicht stimmberechtigter Vertreter Berlins nahm Suhr im August 1948 am Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee teil, der einen Verfassungsentwurf ausarbeiten sollte, der dem Parlamentarischen Rat als Grundlage dienen sollte. Die Arbeit des Konvents bildete somit das Fundament für das Grundgesetz. Als einer von fünf Berliner Abgeordneten mit beratender Stimme gehörte er von September 1948 bis Mai 1949 auch dem Parlamentarischen Rat in Bonn an. Nach der ersten Bundestagswahl 1949 entsandte die (West-)Berliner Stadtverordnetenversammlung acht Abgeordnete mit eingeschränktem Stimmrecht – darunter Otto Suhr – in den Deutschen Bundestag, dem er bis zu seiner Mandatsniederlegung am 31. Januar 1952 angehörte. Ein besonderes Anliegen war Suhr die Direktwahl der Berliner Abgeordneten zum Deutschen Bundestag, seine Bemühungen im Bundestag wie auch gegenüber den westlichen Alliierten blieben allerdings erfolglos, wurden erst nach der Wiedervereinigung 1990 Realität.[10]

Nach dem Inkrafttreten der neuen Landesverfassung von (West-)Berlin 1950 und der ersten Wahl des Abgeordnetenhauses war Otto Suhr von Januar 1951 bis Januar 1955 dessen Präsident.

Regierender Bürgermeister

Briefmarke der Deutschen Bundespost Berlin (1958) zum ersten Todestag

Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus im Dezember 1954 war Suhr Spitzenkandidat der SPD, die eine knappe absolute Mehrheit der Mandate erringen konnte. Suhr bildete dessen ungeachtet eine Koalition mit der CDU und wurde im Januar 1955 zum Regierenden Bürgermeister von Berlin gewählt. Franz Amrehn von der CDU war sein Stellvertreter. Am 21. Juli 1957 wurde er turnusmäßig zum Präsidenten des Bundesrats gewählt, verstarb aber noch vor der Amtsübernahme (die am 7. September 1957 erfolgen sollte). Interimsweise übernahm Bürgermeister Amrehn die Amtsgeschäfte des West-Berliner Regierungschefs, während die Amtszeit des amtierenden Bundesratspräsidenten Kurt Sieveking aus Hamburg bis Ende Oktober verlängert wurde. Am 3. Oktober 1957 wurde der bisherige Abgeordnetenhauspräsident Willy Brandt (SPD) zum Regierenden Bürgermeister gewählt.

Ehrungen

Ehrengrab Otto Suhrs auf dem Waldfriedhof Zehlendorf

Im Jahr 1954 erhielt Suhr das Großkreuz des Bundesverdienstkreuzes.

In Berlin sind neben dem Otto-Suhr-Institut seit 1957 die Otto-Suhr-Allee und die 1958 im West-Berliner Bezirk Wedding eröffnete Otto-Suhr-Bücherei in der Schönwalder Straße nach ihm benannt, die 1997 geschlossen wurde.

Außerdem sind die „Otto-Suhr-Straße“ in seiner Geburtsstadt Oldenburg und der „Otto-Suhr-Ring“ in Wiesbaden nach ihm benannt. In Bremen liegt die „Otto-Suhr-Straße“ im direkten Umfeld des Platzes und Einkaufszentrums „Berliner Freiheit“. Die Volkshochschule Neukölln zu Berlin trägt den Namen Otto-Suhr-Volkshochschule.

Schriften

  • Die Organisationen der Unternehmer, 1924
  • Die Welt der Wirtschaft vom Standort des Arbeiters, 1925
  • Die Lebenshaltung der Angestellten, 1928
  • Angestellte und Arbeiter. Wandlungen in Wirtschaft und Gesellschaft, et al., 1928
  • Tarifverträge der Angestellten, 1931
  • Eine Auswahl aus Reden und Schriften, 1967

Otto Suhr war 1946 bis 1950 gemeinsam mit Louise Schroeder Herausgeber der in Berlin erscheinenden Halbmonatsschrift Das sozialistische Jahrhundert (Auflage: 20.000, während der Blockade 10.000 Stück).

Literatur

  • Otto Suhr. In: Franz Osterroth: Biographisches Lexikon des Sozialismus. Band 1: Verstorbene Persönlichkeiten. Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH, Hannover 1960, S. 306–308.
  • Gunter Lange: Otto Suhr, Im Schatten von Ernst Reuter und Willy Brandt, Eine Biographie. Verlag Dietz Nachfolger, Bonn 1994.
  • Siegfried Mielke (Hrsg.) unter Mitarbeit von Marion Goers, Stefan Heinz, Matthias Oden, Sebastian Bödecker: Einzigartig – Dozenten, Studierende und Repräsentanten der Deutschen Hochschule für Politik (1920–1933) im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Lukas-Verlag, Berlin 2008, ISBN 978-3-86732-032-0, S. 332–336.
  • Werner Breunig, Siegfried Heimann, Andreas Herbst: Biografisches Handbuch der Berliner Stadtverordneten und Abgeordneten 1946–1963 (= Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin. Band 14). Landesarchiv Berlin, Berlin 2011, ISBN 978-3-9803303-4-3, S. 259.
  • Gunter Lange: Otto Suhr, 1894–1957 – Leidenschaft für reale Politik und Politikwissenschaft, Schriftenreihe des Abgeordnetenhauses von Berlin, 2019, ISBN 978-3-922581-34-5.
  • Henriette Hülsbergen: Otto Suhr 1894–1957 – Ein politisches Leben, Ausstellungskatalog des Landesarchivs Berlin, 1994
  • Britta Herweg, Siegfried Mielke: Otto Suhr – Von der Arbeiterbildung zur Politikwissenschaft, Hrsg. Otto-Suhr-Institut, FB Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin, Begleitband zur Ausstellung im Otto-Suhr-Institut, 1999, ISBN 3-929532-27-1
  • Gunter Lange: Im Schatten Reuters und Brandt, Berliner Stimme, Nr. 12, 2017, S. 10–11
  • Christoph Stamm: Suhr, Otto. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 25, Duncker & Humblot, Berlin 2013, ISBN 978-3-428-11206-7, S. 691 (Digitalisat).
Commons: Otto Suhr – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien
Commons: Otto Suhr – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. SLUB Dresden: Der Königlich Sächsische Militär-St.-Heinrichs-Orden. Abgerufen am 16. Juli 2023 (deutsch).
  2. Gerald Wiemers: Student in Leipzig: Otto Suhr, Leipzig-Lese.
  3. Gunter Lange: Otto Suhr, 1894–1957 – Leidenschaft für reale Politik und Politikwissenschaft, Schriftenreihe des Abgeordnetenhauses von Berlin, 2019, S. 11, S. 15–16.
  4. Gunter Lange: Otto Suhr, Im Schatten von Ernst Reuter und Willy Brandt, Eine Biographie, Verlag Dietz Nachfolger, Bonn 1994, S. 85.
  5. Jensen, Rickers: Andreas Gayk. Neumünster 1974, S. 196.
  6. Gunter Lange: Otto Suhr, Im Schatten von Ernst Reuter und Willy Brandt, Eine Biographie, Verlag Dietz Nachfolger, Bonn 1994, S. 96 – S. 101.
  7. berlin.de
  8. Peter Böthig, Stefanie Oswalt (Hrsg.): Juden in Rheinsberg. Eine Spurensuche. Edition Rieger, Karwe 2005.
  9. Gunter Lange: Otto Suhr, Im Schatten von Ernst Reuter und Willy Brandt, Eine Biographie, Verlag Dietz Nachfolger, Bonn 1994, S. 109 ff., S. 116 ff., S. 130 ff., S. 154 ff.
  10. Gunter Lange: Otto Suhr, Im Schatten von Ernst Reuter und Willy Brandt, Eine Biographie, Verlag Dietz Nachfolger, Bonn 1994, S. 109 ff., S. 116 ff., S. 130 ff., S. 178 ff.