Oflag 62 Hammelburg

Das Oflag 62 (ab August 1941 Oflag XIII D) war ein von April 1941 bis November 1942 eingerichtetes Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht im nördlichen Teil des Truppenübungsplatzes Hammelburg.[1] Es wurde nach Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges ausschließlich für gefangene Offiziere der Roten Armee genutzt und deshalb als „Russenlager“ bezeichnet. Nachdem hier viele hochrangige russische Offiziere ihr Leben ließen, spielte es in der russischen Erinnerungskultur und in den deutsch-russischen Beziehungen eine besondere Rolle.

Generelles

Der Truppenübungsplatz Hammelburg gehörte zum Wehrkreis XIII in Nürnberg. Die Lager im Wehrkreis waren dem Kommandeur der Kriegsgefangenen im Wehrkreis XIII, Generalmajor Nikolaus Schemmel unterstellt, der diesen Posten bis April 1942 bekleidete. Auf ihn folgte Generalmajor Kurt Anger.

Das Oflag 62 war eines von mehreren Lagern im Wehrkreis XIII und änderte seine Bezeichnung am 23. August 1941 in Oflag XIII D.[2] Das Oflag XIII D wurde am 26. Oktober 1942 mit den meisten Gefangenen von Hammelburg nach Nürnberg-Langwasser verlegt.[3] Es ist nicht mit den gleichfalls in Hammelburg existierenden Lagern Stalag XIII C oder dem ab 1943 in Hammelburg bestehenden Oflag XIII B zu verwechseln. Die Behandlung sowjetischer Gefangener unterschied sich während der Zeit des Nationalsozialismus aus ideologischen Gründen deutlich von Kriegsgefangenen anderer Nationalitäten, von denen sie strikt getrennt wurden. Sie erhielten eine wesentlich schlechtere Versorgung in Bezug auf Unterkunft und Verpflegung, nachdem die Sowjetunion dem Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen nicht beigetreten war. Verantwortlich für die Kriegsgefangenen der Wehrmacht war der Generalleutnant Hermann Reinecke vom Allgemeinen Wehrmachtsamt im Oberkommando der Wehrmacht (OKW). Er war dort für das Kriegsgefangenenwesen zuständig. Er erließ einige rechtswidrige Befehle. So galt der Waffengebrauch gegen sowjetische Gefangene generell als rechtmäßig, weshalb ohne Anruf auf sie geschossen werden durfte.[4]

Die unzureichende Hygiene und die Mangelernährung in den sogenannten „Russenlagern“ führten auch in Hammelburg zum Ausbruch eine Typhusepidemie (Fleckfieber), der viele Gefangene im Winterhalbjahr 1941/42 zum Opfer fielen.[5]

Belegung

Die ersten russischen Offiziere trafen um den 20. Juli 1941 im Lager ein. Bereits am 23. und 24. Juli 1941 wurden die ersten 1200 Gefangenen geimpft, um einer Epidemie vorzubeugen. Am 10. August 1941 befanden sich 4753 Gefangene im Lager. Am 1. Dezember 1941 waren es 5140, am 1. Juni 1942 5850. Das Lager war wegen der Typhusepidemie von Dezember 1941 bis April 1942 unter Quarantäne gestellt und nahm daher in dieser Zeit keine neuen Häftlinge auf.[6]

Lagerverwaltung

Die deutschen Lagerkommandanten waren in aller Regel hohe Offiziere kurz vor dem Ruhestand. Öffentlich sind die Namen der Kommandanten trotz ihrer Verantwortung für Kriegsverbrechen kaum genannt geworden. Anfang 1942 leitete Oberstleutnant Alfred Wörlen das Oflag Hammelburg. Er hatte bis Ende Januar 1942 im Stalag 304 in Zeithain Erfahrung mit russischen Gefangenen gesammelt.[7] Zum Zeitpunkt des Umzugs nach Nürnberg-Langwasser war Oberst Wilhelm Pellet Kommandant. Mindestens zwei weitere Offiziere waren in Hammelburg zwischen Sommer 1941 und September 1942 als Kommandanten des Oflag eingesetzt. Der Kommandant wie auch sein Stellvertreter waren für die Lager gesamtverantwortlich. Sie ließen die Lagerordnung erstellen, bestimmten die Leiter der Gefangenen-Selbstverwaltung, erlaubten die Gründung von Gefangenen-Organisationen, unterzeichneten die Sterbefälle, arbeiteten mit dem Gestapo-Einsatzkommando zusammen und genehmigten die Abgabe der zur „Sonderbehandlung“ vorgesehenen Offiziere.[8]

Die Abwehrstelle im Wehrkreis schickte in jedes Lager einen Abwehroffizier der Abwehr III (Spionageabwehr), der dort für die abwehrmäßige Überwachung, Gegnerpropaganda und Spionageabwehr zuständig war. Die Berichte der Abwehroffiziere wurden üblicherweise in der Abwehrstelle zusammengefasst und ergaben beim OKW regelmäßig ein Bild über die Lage in den Gefangenenlagern des Wehrkreises.[9] Bei der Abwehrstelle in Nürnberg war Abwehroffizier Karl Pirazzi von der Abwehr III für die Kriegsgefangenen zuständig. Laut Pirazzi beriet der Abwehroffizier im Lager den Kommandanten in Sicherheitsangelegenheiten.[10] Über die Tätigkeit der Abwehr im Lager Hammelburg selbst gibt es wenig Informationen. Aus sowjetischen Befragungen ist jedoch bekannt, dass im Herbst 1941 ein Hauptmann Siefert der Abwehroffizier in Hammelburg war.[11] Im Sommer 1942 war zudem ein Sonderführer Arnold von der Abwehr in Hammelburg tätig.[12] Dieser Sonderführer dürfte der Baltendeutsche Arnold von Stritzky gewesen sein, der offiziell für die Auslandsabteilung bzw. Ostabteilung des Propagandaministeriums unter Eberhard Taubert von 1941 bis 1944 arbeitete. Im Zuge der geplanten Sommeroffensive 1942 wurde die deutsche Propaganda gegen die Sowjetunion intensiviert und ausgewählte Freiwillige aus Hammelburg kamen in die Propagandalager im Raum Berlin.

Aus der gewollten Massierung sowjetischer Offiziere in Hammelburg ergibt sich, dass gerade in Hammelburg eine enge Zusammenarbeit der Lagerleitung mit den im Oberkommando der Wehrmacht angesiedelten Stellen Kriegsgefangenenwesen, Abwehr und Wehrmacht-Propaganda erfolgte. Von August 1941 bis etwa Mai 1942 kam noch ein Sondereinsatzkommando der Gestapo in Hammelburg hinzu, dass etwa 15 Prozent der Gefangenen zur Exekution aussonderte.

Gestapo-Einsatzkommando

Am 16. Juli 1941 hatten sich leitende Herren vom Kriegsgefangenenwesen im OKW unter Führung von Generalleutnant Hermann Reinecke, Oberst Erwin Lahousen von der Abwehr, Otto Bräutigam vom Ostministerium und Gestapo-Chef Heinrich Müller über die weitere Behandlung der Kriegsgefangen abgesprochen.[13]

Unmittelbar nach der Regelung des Verfahrens mit dem OKW erteilte Reinhard Heydrich als Chef der Sicherheitspolizei und des SD am 17. Juli 1941 und am 21. Juli 1941 mit den Einsatzbefehlen Nr. 8 und 9 einzelnen Gestapostellen den Befehl, in deren Zuständigkeitsbereich „Russenlager“ existierten, besondere Einsatzkommandos für die in ihrem Bereich befindlichen Kriegsgefangenenlager aufzustellen.[14]

Die Kommandos sollten eine Selektion unter den sowjetischen Kriegsgefangenen durchführen. Es sollte sowohl eine Negativauslese nach dem Kommissarbefehl hinsichtlich „untragbarer Elemente“ (Kommunistische Funktionäre, Parteikader, Kommissare, Juden usw.) wie auch eine Positivauslese (Personen, die für den Wiederaufbau oder als Auskunftspersonen für die Nachrichtengewinnung geeignet waren) erfolgen. Die Einsatzkommandos der Gestapo sollten außerdem eine Überprüfung der Gefangenen in politischer Hinsicht durchführen. Die von den Kommandos erstellten Listen wurden im Reichssicherheitshauptamt zur Exekutionsunterschrift an Gestapo-Chef Müller weitergereicht.[15]

Ergänzend dazu erließ Reinecke im OKW am 8. September 1941 schließlich einen Befehl über „die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener“, worin die Lagerkommandanten angewiesen wurden, die Einsatzkommandos von Sipo und SD bei der Aussonderung der „politisch untragbaren Elemente“ sowie der Auswahl besonders vertrauenswürdiger und für den Wiederaufbau in den besetzten Gebieten geeignete Personen, zu unterstützen. An den von der Gestapo veranlassten Exekutionen durch die SS war so auch die Wehrmacht beteiligt. Dieser Negativauslese fielen insgesamt mehr als 50.000 russische Gefangene zum Opfer, die in die Konzentrationslager verbracht und dort ermordet wurden.[16]

Zuständig waren die Stapo-Leitstellen, in deren Zuständigkeitsbereich sich die Lager befanden. Ab Herbst 1941 führte daher ein Gestapo-Einsatzkommando aus Nürnberg-Fürth diese Auslese auch im Lager Hammelburg durch, um „unerwünschte“ Häftlinge auszusortieren.[17] Der Nürnberger Gestapo-Chef Benno Martin und sein Stellvertreter, Sturmbannführer Ottomar Otto, hatten für dieses Einsatzkommando kaum geeignetes Personal, jedenfalls kein Russisch sprechendes. Sie wählten eine Handvoll Beamter unter Führung von Kriminalkommissar Ernst Gramowski von der Würzburger Gestapo aus.[18] Später übernahm Kriminalinspektor und Obersturmführer Paul Ohler von der Gestapo Nürnberg die Leitung des Einsatzkommandos, das etwa im Mai 1942 aufgelöst wurde.[19]

Das Kommando sollte nicht nur politische Kommissare, sondern allgemein alle „untragbaren Elemente“ ausschalten wie Kriminelle, Juden, politische Führungsträger und sowjetische Intelligenzler. Außerdem sollten auch Fachleute und Spezialisten herausgefiltert werden, die wichtige Informationen liefern konnten. Somit war das Einsatzkommando auf die Zuarbeit der Wehrmacht angewiesen und musste eng mit der Leitung des Kriegsgefangenenlagers und dem Abwehroffizier Hauptmann Siefert zusammenarbeiten. Die Gestapo-Leute hatten schlichtweg keine genaue Vorstellung, wer auszuwählen war. Lagerverwaltung und Abwehr mussten demnach die Gefangenen vorsortieren und verdächtige Personen wie auch potenzielle Informanten identifizieren. Man suchte im Lager also nach „guten Russen“ und nach „schlechten Russen“. Die Auswahl besorgten russische Vertrauensleute bzw. die Lagerpolizei, die im Auftrag der Lagerleitung und der Abwehr entsprechende Hinweise gab und so ihre eigenen Landsleute der Gestapo ans Messer lieferte.[20]

Ein von russischen Offizieren geleitetes „Komitee“ nahm innerhalb des Lagers eine Art „Vorsichtung“ unter den Gefangenen vor, meldete sich anschließend mit Genehmigung des Kommandanten bei den Polizeibeamten und nannte ihnen die Namen von Verdächtigen und Zeugen. Am folgenden Tag wurden die Betreffenden dann zum Verhör vorgeführt. Gestapo-Kommandoführer Ohler und seine Kollegen führten nach dem Krieg diese Arbeit der Kollaborateure zu ihrer Entlastung an. Bei den Vernehmungen habe es sich eigentlich gar nicht mehr um Aussonderungen gehandelt, sondern jeder Beamte habe lediglich die Angaben nachgeprüft, die ihm die Kriegsgefangenen geliefert hätten, mithin habe letztlich das Komitee die Aussonderungen durchgeführt.[21]

Das Einsatzkommando untersuchte dann in einer Befragung, ob es sich tatsächlich um „staatsfeindliche Elemente“ handelte. Nachdem die Gestapo-Leute kein Russisch sprachen, hing von den hier eingesetzten Dolmetschern (Sonderführern) daher zum Teil die Entscheidung über Tod oder Leben ab.[22]

Bis Anfang Januar 1942 hatten die Gestapobeamten im Oflag Hammelburg insgesamt 652 Offiziere „ausgesondert und der Sonderbehandlung zugeführt“. Von Februar bis zum Mai kamen laut einer Aussage Ohlers noch wenigstens drei oder vier Transporte aus Hammelburg an. Im Mai stellte das Einsatzkommando nach den Bekundungen seiner Angehörigen die Aussonderungen ein, jedoch wurde noch am 12. Juni 1942 ein Häftling an die Gestapo überwiesen. Spätestens zwei oder drei Tage nach den jeweiligen Terminen kamen die Ausgesonderten in das Konzentrationslager nach Dachau und wurden in Hebertshausen erschossen. Man muss davon ausgehen, dass bis zum Sommer 1942 wenigstens 1100 sowjetische Offiziere aus Hammelburg im Konzentrationslager Dachau ermordet wurden.[23]

Im Bereich des Wehrkreises XIII arbeiteten Wehrmacht und Gestapo eng zusammen. Es bestand zwischen den Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei in den russischen Kriegsgefangenenlagern und den Wehrmachtsdienststellen unter dem Kommandeur der Kriegsgefangenen, Generalmajor Schemmel, bestes Einvernehmen, wie die Gestapo im Januar 1942 notierte.[24]

Kollaboration

Für die Sicherheit im Lager war 1941 Hauptmann Siefert von der Abwehr zuständig, der auch die Lagerpolizei unter dem Kommando des russischen Majors Alexander P. Fillipow beaufsichtigte. Die russische Selbstverwaltung des Oflag 62 in Hammelburg hatte unter Siefert schon vor dem Eintreffen des Gestapo-Kommandos ein „russisches Komitee gegen den Bolschewismus“ gebildet, dass zur Zusammenarbeit mit den Deutschen und zur Denunzierung von Kameraden bereit war. Bereits im August 1941 sorgte Siefert dafür, dass kollaborationswillige Offiziere diesem „Komitee“ beitraten. Siefert sorgte auch dafür, dass sowohl dieses Komitee wie auch die Lagerpolizei Bolschewisten und Juden unter den Gefangenen identifizierten und an die Gestapo meldeten.[25]

Das Komitee setzte sich, so erinnerte sich wenigstens ein Angehöriger des Gestapo-Einsatzkommandos, aus sechs bis zehn hochrangigen sowjetischen Offizieren zusammen, unter ihnen ein Militärjurist, ein Oberst, ein Major, ein angeblicher Generaloberstaatsanwalt einer Division und war von sich aus an die Kommandantur des Oflag herangetreten. Diese wiederum informierte die Stapo in Nürnberg. Bei den Betreffenden handelte es sich vor allem um ältere Offiziere, die Josef Stalin und sein System, dessen Brutalität sie in den großen Säuberungen Ende der dreißiger Jahre erfahren hatten, ablehnten und die sich von den Politoffizieren überwacht und bedroht fühlten.[26]

Bei diesem „Komitee“ handelte es sich um Mitglieder der „Russische Arbeitervolkspartei“ (Russkoy Trudovoy Narodnoy Partii, RTNP). Sie wurde vom Militär-Staatsanwalt Semjon A. Malzew und von Leutnant Sergei N. Swertschkow in Hammelburg gegründet. Bald traten dieser Partei in Hammelburg auf Empfehlung von Siefert weitere Stabsoffiziere bei, darunter die Generalmajore Iwan Blagoweschtschenski, Jefim Zybin, Jewgeni Jegorow und Fjodor Truchin.[27]

Innerhalb der RTNP existierte laut russischer Zeugenaussagen eine „Kriegsgeschichtliche Abteilung“. Von Angehörigen der RTNP wurden die sowjetischen Offiziere dazu aufgefordert, die Geschichte der Niederlage ihrer Militäreinheit zu beschreiben und auf die Fehler der sowjetischen und deutschen Seite während der Kämpfe hinzuweisen.[28] Nebenbei offenbarte das den Deutschen auch die Haltung zum Sowjetsystem und lieferte so der Abwehr Anhaltspunkte, wer bereit war, dagegen zu arbeiten. Das führende Mitglied dieser „Militärhistoriker“ war 1942 nach übereinstimmenden Angaben mehrerer Gefangener der Oberst Walentin Gawrilow.[29]

Die Generalmajore Michail Bogdanow, Andrej Naumow und Andrej Sewastjanow sowie Oberst Nikolai Schatow und viele andere Offiziere schrieben solche militärhistorischen Beiträge. Danach entwickelte sich oft eine engere Zusammenarbeit mit den Deutschen. Die genannten Offiziere und weitere gelangten so später in die Russische Befreiungsarmee (ROA), die 1943–45 auf deutscher Seite kämpfte.

Im Gegensatz zu den pro-deutschen Gefangenen versuchten linientreue sowjetische Offiziere eine pro-sowjetische Untergrundarbeit im Lager Hammelburg aufzubauen. Führender Kopf dieser Gruppe war Generalmajor Iwan Nikitin, der deshalb bereits im April 1942 hingerichtet wurde. Die Untergrundgruppe in Hammelburg um Nikitins Nachfolger, dem Luftwaffen-Generalmajor Grigori Thor wurde im September 1942 von Verrätern aus den Reihen der Gefangenen verraten, die mit der Haltung ihrer Kameraden unzufrieden war. Die Informanten der Deutschen waren Generalmajor Andrej Naumow und Oberst Nikolai Schatow, die dem deutschen Lagerkommandanten Oberst Pellet im September 1942 die Namen der Untergrundgruppe nannten.[30] Thors Gruppe wurde in das Gestapo-Gefängnis in Nürnberg überstellt und Thor und die Generalmajore Iwan Schepetow und Wassili Prochorow sowie andere wurden dann 1943 im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet.

Eine besondere Rolle nahm der Brigadekommandeur Iwan Georgiewitsch Bessonow ein. Er war am 28. August 1941 bei Gomel in Gefangenschaft geraten und wurde Mitte November 1941 nach Hammelburg verlegt, wo er im Winter 1941/42 für die „Abteilung für Kriegsgeschichte“ der RTNP arbeitete. Im Frühjahr 1942 gründete Bessonow in Hammelburg das „Politische Zentrum für den Kampf gegen den Bolschewismus“ (PCB), weil er selbst mit den Zielen der RTNP nicht einverstanden war. Auf Vorschlag der deutschen Leitung in Hammelburg sollte Bessonow im Mai 1942 aus den Kriegsgefangenen ein Freiwilligenkorps bilden.[31]

Ziel war die massenhafte Einschleusung antisowjetischer Gefangener in die Arbeitslager (Gulags) der sowjetischen Staatssicherheit (NKWD) an der Nördlichen Dwina und Ob. Vor der Verlegung des Lagers Hammelburg nach Nürnberg wurde Bessonow im September 1942 aus dem Lager entlassen und dem Amt VI (Auslands-SD) des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) für das „Unternehmen Zeppelin“ zur Verfügung gestellt um seine Pläne dort umzusetzen. Das Unternehmen Zeppelin betrieb Sabotage und Zersetzung in der Sowjetunion.

Während der Konferenz von Jalta im Februar 1945 hatten Stalin, Roosevelt und Churchill festgelegt, dass nach Kriegsende alle Gefangenen der Roten Armee in die Sowjetunion repatriiert werden mussten. Doch Stalin hatte mit Befehl Nr. 270 vom 16. August 1941 jeden sowjetischen Gefangenen pauschal zum Verräter deklariert. Eine Folge war, dass sich nach 1945 alle vormaligen Gefangenen einer Überprüfung ihres Verhaltens in Gefangenschaft durch die sowjetischen Sicherheitsorgane unterziehen mussten, also auch alle Überlebenden des Lagers Hammelburg. Soweit sich bei dieser Untersuchung ergab, dass die Gefangenen mit den Deutschen kollaboriert hatten, wurden sie hart bestraft und in vielen Fällen zum Tod verurteilt und hingerichtet. Für viele der obengenannten Offiziere trifft das ebenfalls zu, weshalb sowohl die Treue zum Sowjetsystem wie auch die Kollaboration mit den Deutschen für die Gefangenen oft tödlich endete.[32]

Erinnerungskultur

Nach dem Ende des Kalten Krieges war es möglich, die im Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation (ZAMO) in Podolsk bei Moskau aufbewahrten Gefangenenkarten des Lagers Hammelburg auszuwerten.[33] Mit Hilfe dieser Karten konnten viele Schicksale der in Hammelburg inhaftierten sowjetischen Soldaten aufgeklärt werden.

So ist 2002 das Gedenkbuch Hammelburg über verstorbene sowjetische Kriegsgefangene entstanden, dass mit einem Vorwort von Bundeskanzler Gerhard Schröder versehen war. Das erste Exemplar des Buches wurde am 10. April 2002 dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vom damaligen Präsidenten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Karl Wilhelm Lange, persönlich überreicht.

Mit Stand 2014 konnte schließlich eine Liste mit 1721 Namen verstorbener Gefangener aus Russland auf dem Friedhof Hammelburg in beiden Weltkriegen ermittelt werden.[34]

Leider ist diese Zusammenarbeit zwischen russischen und deutschen Archiven, die für die Nachkommen der Verstorbenen letzte Gewissheit über das Schicksal der Väter geben konnte, inzwischen nicht mehr möglich.

Literatur

  • Gedenkbuch Friedhof Hammelburg (diverse Autoren), herausgegeben vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge eV, Kassel, 2002, ohne ISBN, im Artikel kurz als Gedenkbuch Hammelburg bezeichnet. (link)
  • Reinhard Otto: Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reichsgebiet 1941/42. Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 77, R. Oldenbourg Verlag, München, 1998, ISBN 3-486-64577-3, im Artikel kurz als Otto: Kriegsgefangene bezeichnet.
  • Reinhard Otto, Rolf Keller, Jens Nagel: Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1941–1945, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Verlag Oldenbourg, Heft 4/2008, S. 557–603, im Artikel kurz als Otto: VfZ Heft 4/2008 bezeichnet.
  • Christian Streit: Keine Kameraden – Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–45. Verlag Dietz, Bonn, 1991, ISBN 3-8012-5016-4, im Artikel kurz als Streit: Keine Kameraden bezeichnet.
  • Stefan Geck: Das deutsche Kriegsgefangenenwesen 1939–1945. Doktorarbeit, Universität Mainz, 1998, 107 Seiten. (link), im Artikel kurz als Geck: Kriegsgefangenenwesen bezeichnet.
  • Andreas Heinrich Winkler: Die Geheime Staatspolizei im NS-Gau Mainfranken 1933–1945. Schriften aus der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Band 45, 2023, ISBN 978-3-86309-947-3, im Artikel kurz als Winkler: Gestapo Mainfranken bezeichnet.
  • A. N. Artizov, T. V. Tsarevskaya-Dyakina: General Wlassow – Geschichte des Verrats, Buch 1, „Aktion Wlassow“. Moskau, 2015 (in Russisch), ISBN 978-5-8243-1954-5, im Artikel kurz als Wlassow: Buch 1 bezeichnet.
  • A. N. Artizov, V. S. Khristoforov, T. V. Tsarevskaya-Dyakina: General Wlassow – Geschichte des Verrats, Buch 2, Aus der Ermittlungsakte von A. A. Wlassow. Moskau 2015 (in Russisch), ISBN 978-5-8243-1954-5, im Artikel kurz als Wlassow: Buch 2 bezeichnet.
  • A. N. Artizov, V. S. Khristoforov, T. V. Tsarevskaya-Dyakina: General Wlassow – Geschichte des Verrats, Buch 3, Aus der Ermittlungsakte von A. A. Wlassow. Moskau, 2015 (in Russisch), ISBN 978-5-8243-1960-6, im Artikel kurz als Wlassow: Buch 3 bezeichnet.
  • Geoffrey P. Megargee, Rüdiger Overmans, Wolfgang Vogt, Mel Hecker: The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933–1945, Volume IV: Camps and Other Detention Facilities Under the German Armed Forces. Indiana University Press, 2022, ISBN 978-0-253-06089-1, im Artikel kurz als „Camps Encyclopedia IV“ bezeichnet.

Einzelnachweise

  1. Camps Encyclopedia IV. S. 218.
  2. Camps Encyclopedia IV. S. 272.
  3. Otto: VfZ Heft 4/2008. S. 573, FN 56.
  4. Streim: Keine Kameraden. S. 181.
  5. Gedenkbuch Hammelburg. S. 19.
  6. Gedenkbuch Hammelburg. S. 19.
  7. Camps Encyclopedia IV. S. 286.
  8. Zur Lagerorganisation allgemein siehe Geck: Kriegsgefangenenwesen. S. 47ff.
  9. Geck: Kriegsgefangenenwesen. S. 56–59.
  10. Vernehmung Karl Pirazzi vom 6. August 1947, NMT Nürnberg.
  11. Vernehmungsprotokoll Blagoweschtschenski vom 8. Juni 1945, Wlassow Buch 2. S. 346.
  12. Vernehmung Oberst Schatow vom 31. Januar 1946, Wlassow: Buch 2. S. 526ff; Vernehmung Oberst Meandrow vom 16. März 1946, Wlassow Buch 2. S. 645.
  13. Otto: Kriegsgefangene. S. 51.
  14. Otto: Kriegsgefangene. S. 52, 56; Streim: Keine Kameraden. S. 90–91.
  15. Streim: Keine Kameraden. S. 94, FN 60; Otto: Kriegsgefangene. S. 70.
  16. Streim: Keine Kameraden. S. 94–95.
  17. Camps Encyclopedia IV. S. 210.
  18. Winkler: Gestapo Mainfranken. S. 150.
  19. Otto: Kriegsgefangene. S. 105ff.
  20. Winkler: Gestapo Mainfranken. S. 147–148.
  21. Otto: Kriegsgefangene, S. 106.
  22. Winkler: Gestapo Mainfranken, S. 148, 151; Otto: Kriegsgefangene. S. 67.
  23. Otto: Kriegsgefangene. S. 113.
  24. Schreiben der Gestapo München vom 26. Januar 1942, IMT Nuremberg Archives, H-3501, Blatt 79.
  25. Vernehmungsprotokoll Blagoweschtschenski vom 8. Juni 1945, Wlassow Buch 2. S. 361.
  26. Otto: Kriegsgefangene, S. 106.
  27. Wlassow Buch 2. S. 215–216.
  28. Aron Shneer: Gefangenschaft - Sowjetische Kriegsgefangene in Deutschland. 1941–1945 (in Russisch), S. 244–245.
  29. Vernehmungsprotokolle Generalmajor Michail Bogdanow, Wlassow Buch 3. S. 216; Generalmajor Andrej Naumow, Wlassow Buch 3. S. 258; Generalmajor Andrej Sewastjanow, Wlassow Buch 3. S. 261; Oberst Nikolai Schatow, Wlassow Buch 2. S. 514–515.
  30. Vernehmungsprotokoll Generalmajor Naumow vom 20. März 1946, Wlassow Buch 3. S. 259–260.
  31. Vernehmungsprotokoll Bessonow vom 29. März 1946, Wlassow Buch 3. S. 290.
  32. Streit: Keine Kameraden. S. 295.
  33. Otto: VfZ Heft 4/2008. S. 569–570.
  34. Die Liste ist hier abrufbar.