Nina de Vries

Nina de Vries (2015)

Nina de Vries (geboren 21. Januar 1961 in IJmuiden, Niederlande) ist eine niederländische Sexualassistentin, die seit 1990 in Deutschland lebt und arbeitet. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit ist die Arbeit mit stark beeinträchtigten Menschen sowie die Aus- und Fortbildung von Sexualassistenten.

Werdegang

Nina de Vries ist Kind politisch engagierter Eltern. Ihr Vater war Lehrer, die Mutter Hausfrau. Ihre Mutter nahm sich das Leben, als de Vries 16 Jahre alt war – wie sie sagt, ein „Moment, der ihren Lebensweg entscheidend geprägt hat“.[1] Bald darauf sah sie im holländischen Fernsehen eine Reportage über die dort sogenannten „sex helpers“. Dies erinnerte sie an jene Clowndoktoren, die sterbenskranke Kinder in Krankenhäusern aufzuheitern versuchen. Im Laufe der Jahre entwickelte sie sich dann zu einer Kämpferin für die sexuelle Selbstbestimmung jener, die sich selbst nicht helfen können.[2]

Nina de Vries ging in Amersfoort zur Schule. Ihr Abitur legte sie 1979 in Arnheim ab, danach studierte sie in Leeuwarden Sozialarbeit und machte eine Ausbildung in Körperarbeit und Sexualpädagogik.[3]

1990 verlegte Nina de Vries ihren Lebensmittelpunkt nach Berlin und dann nach Potsdam. 1992 nahm sie ihre Tätigkeit als Erzieherin in einem Rehabilitationszentrum auf und kam in Kontakt mit Behinderten.[4]

Wirken

Nina de Vries gilt als Pionierin der Sexualassistenz.[1] Ende der 1990er Jahre nahm sie ihre Arbeit als Sexualassistentin auf und hat sich seitdem kontinuierlich fortgebildet. Inzwischen arbeitet de Vries in erster Linie mit mehrfach behinderten Menschen, mit Autisten und Menschen mit kognitiven Störungen oder Demenz.[5] Daneben will sie in der Ausbildung Flexibilität, Sensibilität, Respekt und Wahrhaftigkeit einbringen und Qualitätsstandards einführen.[1] Unter anderem hat sie 2004 im Auftrag der Fachstelle für Behinderung und Sexualität (FABS) in Basel ein halbes Jahr lang zehn Sexualtherapeuten ausgebildet.[6] Daneben bietet sie Coaching für Organisationen an, die sich für die sexuelle Selbstbestimmung der Menschen engagieren.[7] Verschiedene Institutionen, unter anderem wissenschaftliche Fachgesellschaften, Wohnheime für Behinderte[8] und Altenpflegeeinrichtungen, engagieren sie zu Vorträgen oder Workshops zu den Themen „Sexualität und Behinderung“ oder „Sexualität und Alter“.[9] Auf dem 4. Altenpflegekongress 2010 gab sie ein Interview, das auf YouTube abrufbar ist.[10]

Als sie mit ihrer Arbeit der Sexualassistenz und Fortbildung begann, war sie über die Resonanz in Deutschland „überrascht, denn in den Niederlanden geht man offener damit um. ‚Sex Helpers‘ sind dort schon seit den Siebzigerjahren aktiv. Hier ist es bis heute tabuisiert.“ Auch würden in Deutschland, anders als in den Niederlanden, „sehr wenige Fragen gestellt“.[3] Allerdings finanziert die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) seit 2014 ein Forschungsprojekt, das der Frage nachgeht, „wie behinderte Menschen in Wohneinrichtungen in ihrer sexuellen Selbstbestimmtheit unterstützt werden können“.[11] Für das Modellprojekt unter dem Namenskürzel ReWiKs,[12] das für „Reflexion, Wissen, Können“ steht, gab es zwei Förderphasen. Die erste mit einer Laufzeit von 2014 bis 2018[13] stand unter Leitung eines Teams aus dem Sonderpädagogen Sven Jennessen und den beiden Professorinnen Barbara Ortland von der Katholischen Hochschule NRW und Kathrin Römisch von der Evangelischen Hochschule Bochum. Die zweite mit einer Laufzeit von 2019 bis 2022[14] stand unter der Leitung von Jennessen, der 2017 von der Universität Koblenz-Landau an das ‘Institut für Rehabilitationswissenschaften‘‘ der Humboldt-Universität Berlin wechselte.[15] Das Forschungsprojekt der zweiten Förderphase widmet sich mit drei Projektmodulen der Frage, wie die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten in besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe verbessert und erweitert werden kann.[16][14]

Sexualassistenz

Für Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen, die zur Erfüllung ihrer Sexualität Hilfe benötigen, wurde ein Berufsbild geschaffen, das de Vries Sexualbegleitung oder Sexualassistenz nennt und über das seit einigen Jahren wissenschaftliche[17][18][19] und heilpädagogische[20] Veröffentlichungen erscheinen. Auf der Fachmesse Integra für Pflege, Therapie und Rehabilitation[21] in Wels (Österreich), auf der sie ihr Ausbildungskonzept vorstellte, gab sie eine Definition für diesen Beruf:

„SexualbegleiterInnen sind Frauen und Männer, die aus einer gesunden[22] und bewussten Motivation heraus, Menschen mit einer körperlichen, seelischen/psychischen oder geistigen Beeinträchtigung/Behinderung Hilfestellungen zum Erleben ihrer Sexualität anbieten und dies zu ihrem Beruf machen. Sie ermöglichen Menschen, die auf Grund ihrer Situation (u. a. Krankheit, Unfall, Biographie) eine behutsame, kreative Annäherung auf dem Gebiet der Sexualität brauchen, ein intimes, sinnliches und erotisches Erlebnis und vermitteln ihnen ein positives Körpergefühl. […] Sie achten Menschen mit Behinderung als gleichwertig.“

Nina de Vries: Vortrag[23]

Sexualassistenz sei eine „Erfahrungsmöglichkeit“,[3] sagt de Vries zu ihrem Berufsbild. Mit der Assistenz werde, ähnlich der Prostitution, eine bezahlte sexuelle Dienstleistung angeboten, allerdings in einer unterschiedlichen Haltung. Sofern möglich, werde dabei Hilfe zur Selbsthilfe angestrebt. Anders als bei der Prostitution sei bei der Sexualassistenz intensive Beziehungsarbeit nicht nur mit der Klientel, sondern auch mit den sie betreuenden Personen notwendig. Dies schaffe besondere Voraussetzungen für diesen Beruf und sei in der Ausbildung entsprechend zu berücksichtigen. Erstmals hat de Vries Sexualbegleiterinnen und -begleiter im Jahr 2002 am Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB) ausgebildet.[24]

„Manche ihrer Kolleginnen nennen sich Berührerin, das klingt poetischer, weniger nach Prostitution. Nina de Vries hat da keine Scheu. ‚Was ich tue, ist eine sexuelle Dienstleistung ebenso wie die Prostitution, auch wenn es natürlich Unterschiede gibt. Ich bin nichts Besseres‘, sagt sie. Die tiefe Überzeugung, nichts Besseres zu sein, ist so etwas wie der Grundpfeiler ihrer Arbeit, auch im Umgang mit ihren Klienten.“

Jörg Böckem: Spiegel Online[1]

Den Unterschied zwischen Sexualassistenz und Surrogatpartnerschaft sieht de Vries auf verschiedenen Ebenen. Einerseits stellt sich in ihrem Verständnis ein Sexualassistent seinem Klienten nicht als „Ersatzpartner“ zur Verfügung, sondern geht eine sehr persönliche, individuell gestaltete Beziehung ein. Sie ist von einer Liebesbeziehung verschieden. Nina de Vries nennt das eine „Begegnung“[25] – mit Menschen, „die nicht berechnend sind, weil sie nicht berechnend sein können“.[26] Zum anderen verfolgt die Sexualassistenz keine therapeutischen Ziele, sondern will Menschen zur sexuellen Selbstbestimmung verhelfen, die ohne Hilfe den Weg dorthin nicht finden.

Die Selbstbestimmung ihrer Klientel steht im Vordergrund. „Wenn jemand eine Stunde lang nur meine Hand auf seinem Bauch haben möchte, ist das auch okay. Für einen Autisten kann es eine Höchstleistung sein, das zuzulassen!“[25]

Für den Dokumentarfilm Beruf: Berührerin ließ sich de Vries von zwei Filmemacherinnen im Jahr 2013 als eine von drei Sexualassistentinnen einen Tag lang begleiten.[27]

Schriften

  • Nina de Vries: Lust leben statt Leiden schaffen – Sexualassistenz für Menschen mit einer Beeinträchtigung. In: Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (Hrsg.): Orientierung. „stattlich, prächtig, stark bewegt“ – Voller Stolz und Leidenschaft, Nr. 2, 2009 (beb-orientierung.de [abgerufen am 10. November 2016]).
  • Mitwirkung bei: Ingrid Ewering, Silvia Gartinger, Anke Hennig, Jörg Hinderberger, Ulrike Jocham, Corina Rott-König, Christoph Schmidt: Heilerziehungspflege in besonderen Lebenslagen gestalten. In: Jeanne Nicklas-Faust, Ruth Scharringhausen (Hrsg.): Heilerziehungspflege. Band 2. Cornelsen, Berlin 2011, ISBN 978-3-06-450304-5 (cornelsen.de).

Einzelnachweise

  1. a b c d Jörg Böckem: Sex-Dienste im Pflegeheim. Die Pionierin. In: Spiegel Online. 23. Februar 2010 (spiegel.de [abgerufen am 9. November 2016]).
  2. Claudia Becker: Frau de Vries erklärt, wie Selbstbefriedigung geht. In: Welt N24. 3. Dezember 2012, abgerufen am 10. November 2016.
  3. a b c David Sarkar: Interview mit Sexualpädagogin Nina de Vries. Wie ‚Sex Helper‘ behinderten Menschen Zärtlichkeit schenken. In: Berliner Zeitung. 10. Juli 2015 (berliner-zeitung.de [abgerufen am 8. November 2016]).
  4. Nina de Vries: Person und beruflicher Werdegang. Abgerufen am 9. September 2025.
  5. Jörg Böckem: Sex-Dienste im Pflegeheim. Die Pionierin. In: Spiegel Online. 23. Februar 2010 (spiegel.de [abgerufen am 9. November 2016]): „Ihre Klienten sind Menschen mit schweren physischen und psychischen Beeinträchtigungen, Schwerst- und Mehrfachbehinderte, in aller Regel sind es Männer.“
  6. Nina de Vries. (PDF; 67 kB) Regierung von Unterfranken, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 9. November 2016; abgerufen am 9. November 2016.
  7. Beispielsweise Nessita. Erotik im Alter. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 20. Dezember 2016; abgerufen am 10. November 2016.
  8. Annegret Himrich: Wege aus emotionaler Not. In: Gesundheit und Gesellschaft. Spezial. Nr. 2, 2016, S. 13 (ninadevries.com [PDF; 100 kB; abgerufen am 10. November 2016]): „Die meisten Pflegekräfte wurden in ihrer Ausbildung nicht ausreichend auf das Thema vorbereitet. Um angemessen reagieren zu können, brauchen sie jedoch klare Richtlinien und Fortbildungen. Am Anfang von Nina de Vries’ Arbeit steht deshalb oft ein Workshop für die Beschäftigten. So können sie den Beruf der Sexualassistentin kennenlernen, Fragen stellen, Zweifel, Ängste und Vorurteile aussprechen. Denn noch immer ist Sexualität bei behinderten oder demenzkranken Menschen ein Tabu. Ganz anders im Nachbarland Dänemark. Dort müssen Betreuer darauf achten, dass die ihnen anvertrauten Menschen ihre Sexualität selbstbestimmt leben können, zum Beispiel durch Sexualassistenz.“
  9. Regierung von Unterfranken: Fachtagung Behindertenhilfe 2016 in Maria Bildhausen. „Heimlichkeiten“ – gegen den Strich, quer durchs Heim … Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 13. September 2016; abgerufen am 6. September 2016.
  10. Interview mit der Sexualassistentin Nina de Vries – Sozialhilfekongress 2010 auf YouTube
  11. Christian Steinmüller: Sex mit Behinderung. In: Apotheken Umschau. 27. Juli 2015 (archive.org [abgerufen am 10. November 2016]).
  12. ReWiKs. Reflexion, Wissen, Können. In: forschung.sexualaufklaerung.de. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, abgerufen am 4. Mai 2021.
  13. Reflexion, Wissen, Können – Qualifizierung von Mitarbeitenden und Bewohner/innen zur Erweiterung der sexuellen Selbstbestimmung von Erwachsenen mit Behinderung in Wohneinrichtungen (ReWiKs). (PDF) In: Humboldt-Universität zu Berlin. Abgerufen am 4. Mai 2021.
  14. a b Modellprojekt ReWiKs. Sexuelle Selbstbestimmung und Behinderung. Reflexion, Wissen, Können als Bausteine für Veränderungen. In: Humboldt-Universität zu Berlin. Abgerufen am 4. Mai 2021.
  15. Prof. Dr. Sven Jennessen. Vita. In: Humboldt-Universität zu Berlin. Abgerufen am 4. Mai 2021.
  16. ReWiKs – 2. Förderphase. Projektsteckbrief. In: Humboldt-Universität zu Berlin. Abgerufen am 4. Mai 2021.
  17. Jacob M. Appel: Sex rights for the disabled? In: Journal of Medical Ethics. Band 36, Nr. 3, 2010, ISSN 0306-6800, doi:10.1136/jme.2009.033183, PMID 20211994 (englisch).
  18. Giuseppe Mannino, Serena Giunta, Giuliana La Fiura: Psychodynamics of the Sexual Assistance for Individuals with Disability. In: Sexuality and Disability. Band 35, 2017, ISSN 0146-1044, S. 495–506, doi:10.1007/s11195-017-9491-y (englisch).
  19. Giulia Garofalo Geymonat: Disability Rights Meet Sex Workers’ Rights: the Making of Sexual Assistance in Europe. In: Sexuality Research and Social Policy. Band 16, 2019, ISSN 1868-9884, S. 214–226, doi:10.1007/s13178-019-0377-x (englisch).
  20. Edith Arnold: Das unterdrückte Bedürfnis? In: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik (= Behinderung und Sexualität. Band 25, Nr. 4). 2019, ISSN 1420-1607 (szh.ch [abgerufen am 9. September 2025]).
  21. Integra Messe. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 16. Mai 2016; abgerufen am 6. September 2016.
  22. Begriff „gesund“ 2016 geändert in „transparent“:
    Nina de Vries: Lust statt Frust …?! (PDF; 944 kB) In: Fachtagung Behindertenhilfe 2016 in Maria Bildhausen. ‚Heimlichkeiten‘ – gegen den Strich, quer durchs Heim … Regierung von Unterfranken, 2016, S. 75, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 5. Dezember 2016; abgerufen am 5. Dezember 2016.
  23. Vortrag auf Integra – Fachmesse für Pflege, Therapie und Rehabilitation in Wels, Österreich (Memento vom 13. September 2016 im Internet Archive) von Nina de Vries, September 2006, abgerufen am 6. September 2016 (PDF; 128 kB).
  24. ISBB Trebel. Website. Abgerufen am 10. November 2016.
  25. a b Ariane Lemme: „Die sind ja eigentlich so wie ich“. In: taz. 3. Dezember 2009 (taz.de [abgerufen am 10. November 2016]).
  26. Beatrix Fricke: Zärtlichkeit auf Bestellung. In: Berliner Morgenpost. 1. Oktober 2011, abgerufen am 10. November 2016.
  27. Nora Bruckmüller: „Das Bedürfnis nach Sexualität hört nicht auf, nur weil man beeinträchtigt ist“. Crossing Europe: Die Linzer Filmemacherinnen Claudia Dworschak und Andrea Müller porträtieren in ihrem Dokumentarfilm „Beruf: Berührerin“ drei Frauen, die im Bereich Sexualassistenz oder Berührungstraining arbeiten. In: OÖNachrichten. 26. April 2013, abgerufen am 8. September 2025.