Mutesarriflik Libanonberg

Das Mutesarriflik Libanonberg im Jahr 1914
Libanonberg und seine administrative Gliederung im Jahr 1898

Das Mutesarriflik Libanon[1][2][3] (türkisch Cebel-i Lübnan Mutasarrıflığı, französisch Moutassarifiat du Mont-Liban, arabisch متصرفية جبل لبنان, DMG Mutaṣarrifīyat Ǧabal Lubnān) war eine Provinz innerhalb des Osmanischen Reiches, die 1861 im Libanongebirge infolge des drusisch-maronitischen Konflikts und der Ausschreitungen von 1860 unter Einflussnahme europäischer Mächte eingerichtet wurde und ein autonomes Gebiet bildete, das einem christlichen Gouverneur („Mutasarrif“) unterstellt war. Der Mutesarriflik, der im Jahr 1870 etwa 110.000 Einwohner zählte,[4] hatte Beit ed-Din bei Dair al-Qamar als Hauptstadt.[5] Amtssprache waren Osmanisch (Türkisch) und Französisch, Umgangssprache libanesisches Arabisch. Auch das Hocharabische spielte als Bildungssprache eine Rolle. Die großen libanesischen Städte, namentlich Beirut, waren aus dem Mutesarriflik ausgeklammert.

Geschichte

Hintergrund

Nachdem die Osmanen 1840 Syrien von Muhammad Ali Pascha zurückgewonnen hatten, schafften sie wegen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Maroniten und Drusen 1842 das Emirat Libanonberg ab und nahmen das Gebiet unter ihre direkte Kontrolle. Wegen der fortwährenden Feindseligkeiten gegen den christlichen Bevölkerungsteil schlugen Vertreter europäischer Mächte dem osmanischen Sultan Abdülmecid I. vor, den Libanon in christliche und drusische Verwaltungsgebiete zu unterteilen. Die Hohe Pforte entschied sich schließlich dazu, die Direktherrschaft des Libanon aufzugeben. Am 7. Dezember 1842 nahm der Sultan den Vorschlag von Fürst Metternich an und bat Assad Pascha, den Wali von Beirut, die Region des Libanon in zwei Distrikte zu unterteilen: in einen nördlichen Distrikt unter einem christlichen Kaymakam und in einen südlichen Distrikt unter einem drusischen Kaymakam, jeweils von Stammesführern gewählt. Beide waren dem Gouverneur von Sidon, der in Beirut residierte, unterstellt.[6][7]

Bürgerkrieg von 1860

Am 22. Mai 1860 kam es am Stadteingang von Beirut zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Maroniten und einer Gruppe von Drusen, bei dem ein Mensch getötet und zwei verwundet wurden. Dies entfachte den Bürgerkrieg im Libanongebirge, in dem vom 29. bis zum 31. Mai 1860 60 Dörfer in der Umgebung von Beirut zerstört[6] und 33 Christen und 48 Drusen getötet wurden.[8] Im Juni weiteten sich die Unruhen auf die religiös gemischten Gebiete des Südlibanon und des Antilibanon sowie nach Sidon, Hasbaja, Rascheiya, Dair al-Qamar und Zahlé aus. Die drusischen Bauern leiteten eine Belagerung von katholischen Klöstern und Missionen ein, brannten sie nieder und töteten die Mönche.[6] Nach den Massakern, bei denen mehr als 10.000 Christen ums Leben kamen, intervenierten Frankreich im Interesse der örtlichen christlichen Bevölkerung und Großbritannien für die Drusen.[9][10] Beide Kolonialmächte rangen um Einfluss im Nahen Osten und sahen im Libanon eine Gelegenheit, Fuß zu fassen.

Einrichtung eines autonomen Gebiets unter der nominellen Oberherrschaft der Hohen Pforte

Libanesische Soldaten während des Mutesarriflik

Am 5. September 1860 traf sich eine internationale Kommission, zusammengesetzt aus Vertretern Frankreichs, Großbritanniens, Österreichs, Preußens, Russlands und des Osmanischen Reiches, um die Ursachen der Ereignisse von 1860 zu ermitteln und ein neues Verwaltungs- und Justizsystem für den Libanon vorzuschlagen, das das Wiederaufflammen der Gewalt verhindern sollte. Die Kommission stellte fest, dass die von der Hohen Pforte vorgenommene Teilung des betreffenden Gebiets in einen drusischen und einen christlichen Sektor, die den divergierenden Bevölkerungsgruppen eine gewisse Autonomie geben sollte, mitverantwortlich für die Unruhen war. Deswegen wurde im Libanonstatut von 1861 der Libanon vom Vilâyet Syrien abgespalten und einem nichtlibanesischen christlichen Mutasarrif (Gouverneur) unterstellt, der mit Zustimmung der europäischen Mächte zu berufen war.[6] Der Mutasarrif sollte durch einen Verwaltungsrat aus zwölf Mitgliedern unterstützt werden, die den verschiedenen religiösen Gemeinschaften des Libanon entstammten. Jede der sechs Religionsgruppen, die den Libanon bevölkerten (Maroniten, Drusen, Schiiten, Sunniten, Griechisch-Orthodoxe und melkitisch Griechisch-Katholischen), wählten zwei Mitglieder in den Rat.[6][10] Die Städte Beirut, Sidon und Tripoli blieben außerhalb des Gebiets der neuen Provinz.

Das Mutesarriflik bestand von 1861 bis 1915. In diesem Jahr wurde die Autonomie des Libanonbergs im Zuge des Ersten Weltkriegs von der Regierung in Konstantinopel aufgehoben. Nach dem Ende des Krieges erhielt Frabnkreich vom Völkerbund das Mandat über Syrien und Libanon und übernahm die Verwaltung des Gebiets bis zur Unabhängigkeitserklärung des Libanons als eigentständige Republik 1943.[11]

Bezeichnung

Die Mitglieder der Internationalen Kommission suchten nach Namen für die neue Verwaltungseinheit und nach einem entsprechenden Titel ihres Gouverneurs. Viele Varianten wurden dabei in Betracht gezogen; Emir (أمير) wurde schnell aufgegeben, da er zu offensiv gegen die Osmanische Pforte und zu nahe beim Emiratssystem angesiedelt war, den die Osmanen abschaffen wollten. Wāli (والي) fiel auch aus, da die Kommissionsmitglieder die Wichtigkeit des Ranges dieses neuen Titels vermitteln wollten, welcher über dem der osmanischen Gouverneure der benachbarten Vilâyets stand; Gouverneur (حاكم) wurde auch verworfen, da der Titel alltäglich und weit verbreitet war. Die Kommissionsmitglieder überlegten auch den Titel „Präsident“ (رئيس جمهورية), jedoch wurde dieser Vorschlag nicht vom Osmanischen Reich angenommen. Nach zwei Wochen Beratung wurde der französische Begriff plénipotentiaire vereinbart, und dessen arabische Übersetzung mutasarrif wurde als neuer Titel für den Gouverneur und für die Verwaltungseinheit Mutesarriflik Libanon angenommen.

Mütesarrifs

Insgesamt acht Mütesarrifs wurden ernannt und regierten entsprechend der Regelungen, die im Jahre 1861 verabschiedet und durch die Reform von 1864, mit der das Vilâyet-System eingeführt wurde.

  • Daud Pascha 1861–1868
  • Franko Pascha 1868–1873
  • Rustom Pascha 1873–1883
  • Wassa Pascha 1883–1892
  • Naum Pascha 1892–1902
  • Mozafar Pascha 1902–1907
  • Yusuf Franko Pascha 1907–1912
  • Ohannes Pascha Kouyoumdjian 1912–1915

Als der Erste Weltkrieg 1914 ausbrach, besetzte Cemal Pascha den Libanon militärisch und hob die Autonomie des Libanonbergs auf. Er ernannte Mütesarrifs ohne Beachtung der Regelungen des Statuts von 1861. Diese Gouverneure waren: Ali Munif Bey, Ismail Bey und Mumtaz Bey.[11]

Die schwarze Strichlinie zeigt die Grenzen des Mutesarriflik Libanonberg auf einer Religionskarte des heutigen Libanon; diese ist nach Mehrheiten gegliedert, Minderheiten in den unterschiedlich gefärbten Gebieten werden nicht berücksichtigt

Bevölkerung

Die Gesamtbevölkerung 1895 wurde auf 399.530 geschätzt, von denen 319.296 (79,8 %) Christen, und 80.234 (17,8 %) Muslime sowie Drusen waren.[12] Im Jahre 1913 wurde die Bevölkerung auf 414.747 geschätzt, darunter 329.482 (79,5 %) Christen, und 85.232 (19,1 %) Muslime und Drusen.[12] Die Muslime waren in der Mehrzahl schiitisch.

Religiöse Gruppen 1895 und 1913[12]
Religion 1895 Anteil 1913 Anteil
Maroniten 229.680 57,5 % 242.308 58,3 %
griechisch-katholisch 34.472 8,5 % 31.936 7,7 %
griechisch-orthodox 54.208 13,5 % 52.536 12,8 %
Andere Christen 936 0,3 % 2.882 0,7 %
Drusen 49.812 12,5 % 47.290 11,3 %
Schiiten 16.846 4,3 % 23.413 5,5 %
Sunniten 13.576 3,5 % 14.529 3,6 %
Gesamtbevölkerung 399.530 100 % 414.747 100 %

Einzelnachweise

  1. Robert Fisk, Malcolm Debevoise, Samir Kassir: Beirut. University of California Press, 2010, ISBN 978-0-520-25668-2, S. 94.
  2. Salwa C. Nassar Foundation: Cultural resources in Lebanon. Librarie du Liban, Beirut 1969, S. 74.
  3. Charles Winslow: Lebanon: war and politics in a fragmented society. Routledge, 1996, ISBN 0-415-14403-5, S. 291.
  4. Reports by Her Majesty's secretaries of embassy and legation on the ... Great Britain. Foreign office, S. 176 (hier in der Google-Buchsuche).
  5. Abel Pavet de Courteille: État présent de l'empire ottoman. J. Dumaine, 1876, S. 112–113 (französisch, Online [abgerufen am 6. Oktober 2021]).
  6. a b c d e Wladimir Borisowitsch Luzki: Modern History of the Arab Countries. Progress Publishers, 1969, abgerufen am 12. November 2009 (englisch).
  7. United States Library of Congress - Federal Research Division (Hrsg.): Lebanon A Country Study. Kessinger Publishing, 2004, ISBN 1-4191-2943-0, S. 264.
  8. Caesar E. Farah: The politics of interventionism in Ottoman Lebanon, 1830–1861. I.B.Tauris, 2000, ISBN 1-86064-056-7, S. 564.
  9. Leila Tarazi Fawaz: Occasion for War: Civil Conflict in Lebanon and Damascus in 1860. illustrierte Auflage. I.B.Tauris & Company, 1995, ISBN 1-86064-028-1, S. 320.
  10. a b Lebanon - Religious Conflicts. In: countrystudies.us. U.S. Library of Congress, abgerufen am 23. November 2009.
  11. a b Abdallah el-Mallah: The system of Moutasarrifiat rule. (universitär) In: abdallahmallah.com. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 31. Dezember 2010; abgerufen am 16. November 2009.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.abdallahmallah.com
  12. a b c Joseph Chamie: Religion and Fertility: Arab Christian-Muslim Differentials. S. 29.