Mririda n’Aït Attik

Mririda n’Aït Attik – Aufnahme ungefähr um 1940

Mririda n’Aït Attik (marokkanisches Tamazight ⵎⵔⵉⵔⵉⴷⴰ ⵏ’ⴰⵢⵜ ⴰⵜⵜⵉⴽ; auch Mrīrīda ūt-ʿAtiq, liebevoll: Mririda Tandamt) (geboren um 1900 in Megdaz, Marokko; Sterbedatum unbekannt, wahrscheinlich nach 1940) war eine Sängerin und Dichterin aus dem Volk der Schlöh. Ihre Reime und Lieder trug sie in ihrer Muttersprache Taschelhit auf den Märkten (Souks) im Azilal-Tal vor.

Da der Franzose René Euloge viele ihrer Verse aufschrieb und in einer Gedichtsammlung veröffentlichte, blieben ihre Lieder in einer französischen Übersetzung erhalten. Im heutigen Marokko gilt sie als eine der Symbolfiguren für die Auflehnung von Frauen gegen patriarchale Strukturen.[1][2]

Leben

Mririda n’Aït Attik stammte aus einfachen Verhältnissen und wurde sehr früh verheiratet. Da sie unglücklich war, floh sie aus ihrer Heimat und verdiente ihren Lebensunterhalt als reisende „Sheikha“; die örtliche Bezeichnung für eine darstellende Künstlerlin, die tanzt, singt und eigene Texte vorträgt. Abgesehen davon, dass sich die Bezeichnung auf Berberinnen aus dem Atlasgebirge bezieht, lässt sich die Tätigkeit mit der einer Trobairitz (dem weiblichen Gegenstück zum Troubadour) vergleichen. Mit ihrem ausgeprägten Improvisationstalent trat sie auf Märkten auf. Damals waren mündliche Überlieferungen die Norm, da nur wenige Frauen Schulen besucht und Lesen oder Schreiben gelernt hatten. Mririda trug ihre Texte, von denen viele als Reime formuliert waren, auf Tashelhit vor. Der eigentliche Name der Dichterin ist unbekannt, da Mririda lediglich der Künstlername war, den sie nutzte.[2]

Der Namenszusatz Aït Attik steht für ihre Familienzugehörigkeit, einer Untergruppe der Fraktion der Aït Mgoun, die im Gebiet der heutigen Provinz Azilal lebte.

Für eine weibliche Dichterin war es ungewöhnlich, dass sie sich mit tabuiserten Themen befasste, wie Scheidung, unerwiederter Liebe und Problemen, denen Frauen nach der Verheiratung im Haus ihrer Ehemänner begegnen. Durch die Offenlegung dieser Gedanken wurde sie sowohl bewundert als auch gemieden, das es als unschicklich galt, sich offen zu Themen zu äußern, die als Privatsache galten.[2]

Überlieferung

Details über Mriridas Werk und Biografie wurden der westlichen Welt durch ihren Übersetzer René Euloge bekannt, der als französischer Beamter, ungefähr von 1930 bis etwa zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in diesem Gebiet lebte und arbeitete.[3] Er erlernte die Sprache der dort lebenden Schlöh. Mririda war etwa 30 Jahre alt, als Euloge sie um 1930 im Souk des kleinen Militärpostens Azilal kennenlernte. Dort arbeitete sie als Prostituierte für die einheimischen Truppen des französischen Protektorats Marokko und war bekannt für ihre in der Tradition der Berberkultur vorgetragenen Reime. Sie erzählte ihm, dass sie aus dem Dorf Megdaz im oberen Teil des Tals des Flusses Tassaout stamme, einem damals sehr isolierten Gebiet im zentralen Hohen Atlas. Sie sprach nur Taschelhit, die Sprache ihres Volkes, und konnte weder lesen noch schreiben.[4]

Euloge traf die Poetin 1943 zum letzten Mal. 1946 verlor er ihre Spur, aber es wurde ihm berichtet, dass sie einige Jahre lang die Gefährtin eines französischen Unteroffiziers gewesen sein soll.[3][5] Es ist nicht bekannt, wann und wo Mririda n’Aït Attik starb.

Wirken

Mririda improvisierte ihre Gedichte und rhytmischen Gesänge auf öffentlichen Marktplätzen. In ihren Reimen sprach sie sowohl von ihrer Heimat, Sehnsucht nach Liebe, Alltag und Lebensbedingungen der Frauen im Hohen Atlas als auch über ihr Leben als Prostituierte. In ihnen richtete sie sich gegen die Marginalisierung der Frauen und lehnte sich gegen ihre Lebensbedingungen auf. In vielen Gedichten spricht sie ihre Mitmenschen direkt an,[6] wie zum Beispiel in L’Affront:

« Tu te trompes, Mère de mon ancien mari, Si tu penses un instant que je suis dans la peine, Et va dire à ton fils qui m'a répudiée Que sont partis de ma mémoire et de mon coeur Les bons et mauvais jours de notre vie commune Ainsi que brins de paille se dispersent au vent ... Je ne garde pas le moindre souvenir Des fatigues des travaux des champs, Des charges qui m'ont meurtri le dos, Des cruches qui m'ont marqué l'épaule, De mes doigts brûlés à cuire le pain Et des os qu'il me laissait, les jours de fête ... Il a repris les bijoux. Me les a-t-il jamais offerts ? M'a-t-il seulement donné des coups ? M'a-t-il seulement prise en ses bras ? Il ne m'en reste aucun, aucun souvenir ... C'est comme si je ne l’avais jamais connu. Toi qui fus ma belle-mère, va dire à ton fils Que je ne sais même plus son nom ! »

„Du irrst dich, Mutter meines ehemaligen Mannes, Wenn du auch nur einen Moment lang glaubst, dass ich traurig bin. Und sag deinem Sohn, der mich verstoßen hat, Dass die guten und schlechten Tage unseres gemeinsamen Lebens Aus meinem Gedächtnis und meinem Herzen verschwunden sind, So wie Strohhalme, die vom Wind verstreut werden ... Ich habe nicht die geringste Erinnerung An die Mühen der Feldarbeit, An die Lasten, die mir den Rücken ruiniert haben, An die Krüge, die mir Spuren auf den Schultern hinterlassen haben, An meine vom Brotbacken verbrannten Finger Und an die Knochen, die er mir an Feiertagen hinterlassen hat ... Er hat den Schmuck zurückgenommen. Hat er ihn mir jemals geschenkt? Hat er mich überhaupt geschlagen? Hat er mich überhaupt in seine Arme genommen? Ich habe keine einzige Erinnerung daran ... Es ist, als hätte ich ihn nie gekannt. Du, die du meine Schwiegermutter warst, sag deinem Sohn, dass ich nicht einmal mehr seinen Namen weiß!“

Mririda n’Aït Attik, übersetzt aus Taschelhit ins Französische von René Euloge: Les chants de la Tassaout[7]

Werke/Schriften

Ihre Gedichte und Gesänge wurden vom französischen Lehrer René Euloge, der damals in Demnate tätig war und den lokalen Berberdialekt erlernt hatte, bei Treffen auf dem Souk von Azilal zwischen 1930 und 1940 gesammelt. Die französische Übersetzung ihrer Texte veröffentlichte er erstmals 1956 in Marrakesch, Editions de la Tigherm, unter dem Titel Les Chants de la Tassaout. Der Sammler weist in seiner Einleitung darauf hin, dass die Texte rhythmisch waren. Mririda sang sie, indem sie die Endsilben der Verse verlängerte.

In der Nachkriegszeit hatte René Euloge bereits mehrere Werke mit Kurzgeschichten und Erzählungen verfasst. Erneut brachte er seine Notizen in Form und übersetzte sie für eine erneute Veröffentlichung 1963 in Marrakesch beim Tighermt-Verlag. Ein Achtungserfolg zeichnete sich ab. Die dritte Ausgabe von 1986, die um 30 unveröffentlichte Gedichte ergänzt wurde, enthält ein Vorwort von Léopold Sédar Senghor.[3] Mehrere ihrer Gedichte wurden ins Englische übersetzt und in Poems for the Millennium, Volume Four, The University of California Book of North African Literature veröffentlicht.[8]

Die handschriftlichen Notizen von René Euloge, die eine Ausgabe in Taschelhit hätten ermöglichen können, wurden versehentlich vernichtet.

Rezeption

Mit ihren Gedichten und Gesängen auf öffentlichen Märkten fiel Mririda auf und erweckte die Aufmerksamkeit vieler Männer. Einerseits wurde sie von ihrer Herkunftsfamilie und ihrer Dorfgemeinschaft verstoßen und – bis heute – verleugnet.[9] Andererseits blieben ihre Verse in Erinnerung, wurden mündlich verbreitet und spätestens mit der erneuten Veröffentlichung des Buches Les Chants de la Tassaout im Jahre 1986 von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen, welches in mehrerer Sprachen übersetzt wurde.

Ihre Lebensgeschichte wurde sowohl im Spielfilm Femme écrite (2012) des marokkanischen Filmemachers Lahcen Zinoun[1] als auch im Dokumentarfilm Tasanū, Tayrinū (2017) des marokkanichen Regisseurs Kamal Hachkar[10] verarbeitet. In der wissenschaftlichen Literatur ist sie Gegenstand feministischer Forschung. In Marokko ist sie eine der Symbolfiguren für die Auflehnung von Frauen gegen patriarchale Strukturen.[1]

Publikationen

Literatur

  • Lhoussain Simour: Colonial Encounters in Gendered Settings – Reflections on Mrīrīda nʾait ʿAtiq, a Moroccan Amazīgh Courtesan and Singing Poet (=Biblioteca di Rassegna iberistica. 21). Hassan II Universität von Casablanca, Edizioni Ca’Foscari, Venedig 2021, doi:10.30687/978-88-6969-460-8/001, ISBN 978-88-6969-460-8.

Einzelnachweise

  1. a b c Fatéma Chahid: Mririda N’aït Attik: la poétesse rebelle amazighe. 10. April 2020, abgerufen am 16. Juli 2025 (französisch).
  2. a b c “Mririda N’Ait Atiq:” a Moroccan Berber Artist. vom 30. März 2014 moroccoworldnews.com, abgerufen am 15. September 2025
  3. a b c Rene Euloge / Mririda n’Aït Attik: LES CHANTS DE LA TASSAOUT. Casablanca Oktober 1986, S. 4 (archive.org [abgerufen am 8. August 2025]).
  4. juliana: Get back home, you ūt-‘Atiq. In: Mririda N’Ait Atiq. 20. Mai 2024, abgerufen am 9. August 2025 (englisch).
  5. Mririda N’Ait Atik, la «Sapho» berbère. Archiviert vom Original am 29. Juni 2021;.
  6. Fatima Sadiqi: Women and Linguistic Space in Morocco. In: Women & Language. Band 26, Nr. 1, 2003, S. 35–43 (oclc.org [abgerufen am 26. Juli 2025]).
  7. Mririda n’Aït Attik, René Euloge: Les chants de la Tassaout. Casablanca Oktober 1986, S. 144 (französisch, archive.org [abgerufen am 8. August 2025]).
  8. Jerome Rothenberg, Pierre Joris, Jeffrey Cane Robinson, Habib Tengour: Poems for the Millennium, Volume Four: The University of California Book of North African Literature. University of California Press, 1995, ISBN 978-0-520-27385-6 (google.de [abgerufen am 26. Juli 2025]).
  9. Lhoussain Simour, Itzea Goikolea-Amiano: Get back home, you ūt-‘Atiq. In: Multilingual Locals and Significant Geographies: For a New Approach to World Literature. University of London, 23. März 2021, abgerufen am 8. August 2025 (englisch).
  10. Lhoussain Simour: Colonial Encounters in Gendered Settings Reflections on Mrīrīda nʾait ʿAtiq, a Moroccan Amazīgh Courtesan and Singing Poet. In: Hassan II University of Casablanca, Morocco (Hrsg.): Biblioteca di Rassegna iberistica 21. Narratives of Violence. Casablanca 2021, ISBN 978-88-6969-460-8, S. 16, doi:10.30687/978-88-6969-460-8/001 (englisch).