Michael Dummett

Sir Michael Anthony Eardley Dummett (* 27. Juni 1925 in London, England; † 27. Dezember 2011[1] in Oxford) war ein britischer Philosoph und Logiker.
Michael Dummett hat maßgebliche Beiträge zur Philosophie der Mathematik, zur Logik, zur Sprachphilosophie, zur Metaphysik und zur Geschichte der analytischen Philosophie geliefert. 1944 trat er zum römisch-katholischen Glauben über, den er lebenslang praktizierte. Politikwissenschaftlich hat er ein Wahlverfahren entwickelt und sich zum Ausländerrecht engagiert. Zur Kartenspielfamilie Tarock publizierte grundlegende historische Arbeiten, sein weiteres Interesse galt auch dem Stil der englischen Sprache.
Leben
Michael Dummett besuchte zunächst die Sandroyd School in Wiltshire und dann das weiterführende Winchester College in Winchester. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs arbeitete Dummett für den britischen Geheimdienst Secret Intelligence Service in Indien und Malaya. Danach studierte er ab 1947 in Oxford am Christ Church College Philosophie, Politische Wissenschaft und Wirtschaftswissenschaft und wurde dort 1950 Fellow des All Souls College.
Von 1962 bis 1974 war er Dozent für Philosophie und Mathematik. Von 1979 bis 1992 war er in Oxford – als Nachfolger von Alfred Ayer – Wykeham-Professor für Logik und gleichzeitig Fellow am New College.
Katholik
Seit 1944 war Dummett ein praktizierender Katholik. Er veröffentlichte Artikel zu verschiedenen religiösen Themen, hauptsächlich in der englischen dominikanischen Zeitschrift New Blackfriars. Dummett veröffentlichte einen Essay von konservativer Einstellung im Bulletin der Adoremus-Society zum Thema Liturgie[2] und einen Essay, der die Lehre der katholischen Kirche über die Eucharistie verteidigt[3].
Im Oktober 1987 löste einer seiner Beiträge eine Kontroverse aus, indem er Strömungen in der katholischen Theologie angriff, die ihm vom rechtgläubigen Katholizismus abzuweichen schienen. Dummett argumentierte, dass „die Divergenz, die jetzt zwischen dem, was die katholische Kirche vorgibt zu glauben, und dem, was große oder wichtige Teile davon in der Tat glauben, meiner Ansicht nach nicht mehr toleriert werden sollte: nicht, wenn es eine Begründung für die Zugehörigkeit zu dieser Kirche geben soll; nicht, wenn es keine Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit der halben Christenheit geben soll ...“.[4] Die Debatte über diese Bemerkungen dauerte monatelang an, wobei der Theologe Nicholas Lash und der Historiker Eamon Duffy mitwirkten.
Antirassismus und Wahlsystem
Dummett schrieb ein Buch über Einwanderung und Flüchtlinge (2001) zur Frage, was die Gerechtigkeit in Hinsicht auf die Migration zwischen Staaten vorschreibe. Nach Dummett beruhe die überwiegende Opposition gegen Einwanderung auf Rassismus, insbesondere in Großbritannien. In dem Buch plädierte er für offene Grenzen und Massenmigration, außer wenn eine „besondere Bedrohung“ vorliege.
Um Minderheiten zu schützen, erarbeitete er ein eigenes Wahlsystem, das Quota-Borda-System, indem er die Borda-Wahl fortschrieb und, um eine strategische Wahl zu vermeiden, dabei das Gibbard-Satterthwaite-Theorem beachtete.[5] Auch entwickelte er ein Vorgehen für die Proportionalität solider Koalitionen. (Voting Procedures, 1984).
Leistungen
Arbeiten zu Frege
Dummetts erstes bedeutendes Werk war „Frege: Philosophy of language“, in welchem er die philosophische Position von Gottlob Frege auf seine eigene Art deutet. Die Schrift, die mittlerweile den Rang eines Klassikers beanspruchen kann, wird bis heute kontrovers diskutiert. Dummett hat noch weitere Werke zu Frege verfasst und kann wohl als dessen bedeutendster Interpret gelten. Als er 1954 die handschriftlichen Notizen des Nachlasses durcharbeitete, war er über Freges Antisemitismus erschrocken.[6]
Sprachphilosophie
Dummett hat gegen die wahrheitskonditionale Bedeutungstheorie von Donald Davidson eingewandt, dass Wahrheit nur dann für den Sprecher relevant ist, wenn dieser sie auch erkennen kann. Mit Davidson und Noam Chomsky führte er zudem eine Diskussion über die Frage, ob der Idiolekt oder die geteilte Sprache einer Sprachgemeinschaft bei der philosophischen Analyse den Vorrang haben sollte.
Antirealismus
In seinem Werk „Truth and other enigmas“ entwickelt Dummett in Auseinandersetzung mit klassischen realistischen Positionen eine antirealistische Haltung. Diese trägt seiner Meinung nach wesentlich zur Lösung des Leib-Seele-Problems bei. Die Entscheidung für den Antirealismus fällt in Auseinandersetzung mit der Betrachtung von Wahrheit als zweiwertig und unabhängig vom menschlichen Erkennen. In seinem letzten Werk, „Truth and the Past“ (dt. Wahrheit und Vergangenheit) widmet sich Dummett dem Problem, wie sich Antirealismus mit wahren Sätzen über die Vergangenheit vereinbaren lässt.
Geschichte der analytischen Philosophie
Dummetts drittes großes Werk „Origins of analytic Philosophy“ (dt. Ursprünge der analytischen Philosophie) ist dem Versuch gewidmet, aufzuzeigen, dass neben Frege vor allem Franz Brentano und Edmund Husserl als Vorreiter der analytischen Philosophie betrachtet werden sollten. Dies brach in der Betrachtung der jüngeren Philosophiegeschichte mit der Zweiteilung in britisch und kontinentaleuropäisch.
Wirkung
Unter Dummetts Schülern ragen vor allem Crispin Wright, Timothy Williamson, Gareth Evans, Hans Sluga und Christopher Peacocke hervor. Jedoch kann nur Wright im engeren Sinne als orthodoxer Schüler gelten. Außerhalb des Kreises seiner Schüler hat Dummett insbesondere auf den Neopragmatismus eingewirkt.
Auszeichnungen
- 1968: Mitglied der British Academy (1984 ausgetreten; 1995 erneut gewählt)[7]
- 1985: Mitglied der American Academy of Arts and Sciences
- 1990: Mitglied der Academia Europaea[8]
- 1994: Lakatos Award für Frege: Philosophy of Mathematics[9]
- 1995: Rolf-Schock-Preis im Bereich Philosophie
- 1999: Ritterschlag zum Knight Bachelor („Sir“)
- 2010: Lauener Preis für ein herausragendes Werk der analytischen Philosophie
Tarocchi, Tarot und Tarock
Dummett war ein Gelehrter auf dem Gebiet der Kartenspielgeschichte mit zahlreichen Büchern und Artikeln, insbesondere im Bereich von Tarocchi (italienisch), Tarot (französisch) und Tarock (deutsch). Er war Gründungsmitglied der International Playing-Card Society, in deren Zeitschrift The Playing-Card er regelmäßig Meinungen, Recherchen und Besprechungen aktueller Literatur zum Thema veröffentlichte. Seine historische Arbeit über die Verwendung des Tarotspiels in Kartenspielen, „The Game of Tarot: From Ferrara to Salt Lake City.“, versuchte nachzuweisen, dass die Erfindung des Tarot im Italien des 15. Jahrhunderts angesiedelt war. Er legte den Grundstein für die meisten nachfolgenden Forschungen zum Tarotspiel, einschließlich erschöpfender Berichte über die Regeln aller bisher bekannten Spielformen.
Dummetts Analyse der historischen Beweise legte nahe, dass Wahrsagerei und okkulte Interpretationen im Tarot vor dem 18. Jahrhundert unbekannt waren. Während des größten Teils ihrer aufgezeichneten Geschichte, schrieb er, wurden Tarotkarten verwendet, um ein beliebtes Stichspiel zu spielen, das immer noch in weiten Teilen Europas genossen wird. Dummett zeigte, dass das Tarotspiel Mitte des 18. Jahrhunderts eine große Entwicklung erlebte, einschließlich eines modernisierten Decks mit französischen Farbzeichen und ohne die mittelalterlichen Allegorien, die Okkultisten interessieren. Dies fiel mit einer wachsenden Popularität des Tarot zusammen. „Die hundert Jahre zwischen etwa 1730 und 1830 waren die Blütezeit des Tarotspiels; es wurde nicht nur in Norditalien, Ostfrankreich, der Schweiz, Deutschland und Österreich-Ungarn gespielt, sondern auch in Belgien, den Niederlanden, Dänemark, Schweden und sogar in Russland. Es war in diesen Gebieten nicht nur ein berühmtes Spiel mit vielen Anhängern: Es war während dieser Zeit auch mehr wirklich ein internationales Spiel als je zuvor ...“[10]
Werke
Philosophie
- Frege: Philosophy of Language (London 1973/1981)
- Wahrheit. Fünf philosophische Aufsätze, übers. und hg. v. Joachim Schulte (Stuttgart [Reclam] 1982) [im Buchhandel leider vergriffen. Enthält den gegen die Wittgensteinsche Spätphilosophie gerichteten programmatischen Aufsatz: Kann und sollte die analytische Philosophie systematisch sein? (S. 185 ff.)]
- Frege: Philosophy of Mathematics (London 1991)
- Elements of Intuitionism (Oxford 1977, 2000)
- The Logical Basis of Metaphysics (London 1991)
- Origins of Analytical Philosophy (London 1993) (dt. Ursprünge der analytischen Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997)
- The Seas of Language (Oxford 1993)
- Truth and Other Enigmas (London 1978)
- Truth and the Past (Oxford, 2004) (dt. Wahrheit und Vergangenheit, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005)
- Thought and Reality (Oxford, 2006)
Politik
- Voting Procedures (Oxford 1984) ISBN 978-0198761884
- Principles of Electoral Reform (New York 1997)
- On Immigration and Refugees (London 2001)[11]
Tarot und Tarock
- The Game of Tarot: from Ferrara to Salt Lake City (Duckworth, 1980)
- A Wicked Pack of Cards: The Origins of the Occult Tarot (mit Ronald Decker und Thierry Depaulis, St. Martin’s Press, 1996)
- A History of the Occult Tarot, 1870-1970 (mit Ronald Decker, Duckworth, 2002)
- A History of Games Played with the Tarot Pack (mit John McLeod, E. Mellen Press, 2004)
Literatur
Zur Einführung
- Christoph Demmerling/Thomas Blume: Grundprobleme der analytischen Sprachphilosophie, Schöningh/UTB, Paderborn 1998, ISBN 3-8252-2052-4.
- Daniel Isaacson, Ian Rumfitt: Michael Anthony Eardley Dummett, 27 June 1925 – 27 December 2011. In: Biographical Memoirs of Fellows of the British Academy. Band XVII, 2018, S. 191–228 (thebritishacademy.ac.uk [PDF]).
Zur Vertiefung
- McGuinness, Brian [Hrsg.]: The Philosophy of Michael Dummett, 1994. Dordrecht: Kluwer.
- Brandl, Johannes L. und Sullivan, Peter [Hrsg.]: New essays on the philosophy of Michael Dummett, 1998. Amsterdam: Rodopi, ISBN 90-420-0466-5.
- Richard G. Heck (Hrsg.) Language, Thought, and Logic: Essays in Honour of Michael Dummett. Oxford University Press, 1998, ISBN 0-19-823920-3.
- Karen Green. Dummett: Philosophy of Language. Polity, 2001, ISBN 0-7456-2295-X.
- Bernhard Weiss. Michael Dummett. Princeton University Press, 2002, ISBN 0-691-11330-0.
Weblinks
- Literatur von und über Michael Dummett im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Benjamin Murphy: Eintrag in James Fieser, Bradley Dowden (Hrsg.): Internet Encyclopedia of Philosophy.
Einzelnachweise
- ↑ Obituary: Professor Sir Michael Dummett bei telegraph.co.uk, abgerufen am 29. Dezember 2011
- ↑ The Revision of the Roman Liturgy: A Review. In: Adoremus. 31. Dezember 2007, abgerufen am 10. September 2025 (amerikanisches Englisch).
- ↑ M. Dummett: The Intelligibility of Eucharistic Doctrine, In: William J. Abraham, Steven W. Holzer, eds.: The Rationality of Religious Belief: Essays in Honour of Basil Mitchell, Clarendon Press, 1987
- ↑ Michael Dummett: A Remarkable Consensus. In: New Blackfriars. Band 68, Nr. 809, Oktober 1987, ISSN 0028-4289, S. 424–431, doi:10.1111/j.1741-2005.1987.tb01277.x (wiley.com [abgerufen am 10. September 2025]).
- ↑ Markus Schulze: On Dummett's 'Quota Borda System'. In: Voting matters, Issue 15. 15. Juni 2002, S. 10–13, abgerufen am 10. September 2025 (englisch).
- ↑ Michael Dummett: Frege: philosophy of language. Harper & Row, New York 1973, ISBN 978-0-06-011132-8, S. XII.
- ↑ AW Moore: Sir Michael Dummett obituary. In: The Guardian. 28. Dezember 2011, abgerufen am 6. Dezember 2015 (englisch).
- ↑ Eintrag auf der Internetseite der Academia Europaea
- ↑ 1994 Lakatos Award. In: lse.ac.uk. Abgerufen am 23. Oktober 2024.
- ↑ Michael Dummett: A History of Games Played With the Tarot Pack: The Game of Triumphs, Vol. 1. 2004 (englisch).
- ↑ Michael Dummett: On Immigration and Refugees (= Routledge Classics Series). Taylor & Francis Group, Oxford 2024, ISBN 978-1-03-264162-1.