Meer und Gift
Meer und Gift (japanisch 海と毒薬, Umi to dokuyaku) ist ein Roman von Shūsaku Endō aus dem Jahr 1957. Er basiert auf realen Vorkommnissen, den Vivisektionen an amerikanischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg.[1][2] Endō behandelt darin das Thema der Schuld und Verantwortung für Kriegsverbrechen. Der Roman wurde mit dem 5. Shinchōsha-Literaturpreis[3] sowie dem 12. Mainichi-Kulturpreis[4] ausgezeichnet und 1986 von Kei Kumai unter dem gleichen Titel mit Eiji Okuda, Ken Watanabe und Takahiro Tamura in den Hauptrollen verfilmt.[5] Der Film gewann auf der Berlinale 1987 den Silbernen Bären.
Handlung
Der Roman spielt in der Endphase des Pazifikkriegs und ist in mehrere Teile gegliedert, die unterschiedliche Erzählperspektiven einnehmen.
In einem Prolog wird die Geschichte aus der Sicht eines lungenkranken Mannes eingeleitet, der nach einem Umzug in einem abgelegenen Vorort von Tōkyō einen Arzt sucht. Er stößt auf die Praxis des wortkargen und abweisenden Dr. Suguro, dessen Verhalten ihn beunruhigt. Durch Zufall erfährt der Erzähler, dass Suguro während des Krieges in medizinische Experimente an amerikanischen Kriegsgefangenen verwickelt war.
Der Hauptteil des Romans schildert Suguros Vergangenheit als Assistenzarzt in einem Universitätskrankenhaus der fiktiven Stadt F.[6] Dort gerät er in ein Klima der Konkurrenz und Intrigen. Die Professoren Hashimoto und Gondō kämpfen um die Dekanatsnachfolge, wobei das Ansehen von Hashimotos Klinikabteilung durch misslungene Operationen beschädigt ist. In diesem Machtkampf wird eine sterbende alte Frau, eine Wohlfahrtspatientin ohne Aussicht auf Heilung, zum „Versuchsmaterial“ für eine neue Operationsmethode ausgewählt. Suguro empfindet Abscheu und Mitleid, ist aber zu schwach, sich dem Druck der Vorgesetzten entgegenzustellen. Die Frau stirbt an ihrer Krankheit, bevor die Operation stattfinden kann.
Die Eskalation folgt, als amerikanische B-29-Kriegsgefangene von der japanischen Armee in das Krankenhaus gebracht werden. Mit dem Ziel, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu erlangen, beschließen Militärärzte und Professor Hashimoto, Vivisektionen an den Gefangenen vorzunehmen. Suguro, sein ehrgeiziger Kollege Toda und die Krankenschwester Ueda werden in diese Experimente hineingezogen. Toda erscheint als skrupelloser Karrierist, dessen Verhalten allein äußerlich durch Ansehen und mögliche Bestrafung geleitet wird, während Suguro innerlich zerrissen ist und zwischen moralischer Ablehnung und äußerer Unterordnung schwankt. Ueda lebt nach privaten Schicksalsschlägen in einer inneren Leere. Halt findet sie nur in der Routine des Krankenhauses. Diese Kombination aus persönlicher Verwundung und institutionellem Gehorsam treibt sie in die Teilnahme am Verbrechen.
Durch die Wahl mehrerer Ich-Stimmen zeigt Endō die subjektiven Rechtfertigungen, Ängste und Zwänge der Figuren. Der Roman stellt die Banalität des Tötens im Operationssaal dar, legt aber den Schwerpunkt auf die psychologische Dimension.
Entstehung und Themen
Endō selbst schilderte, dass ihm der Titel eingefallen sei, als er auf dem Dach des Krankenhauses in Fukuoka das Meer betrachtete.[7] Der Literaturkritiker Yamamoto Kenkichi deutete das „Meer“ als Symbol des Schicksals, das den Menschen wie ein schwarzer Strom fortträgt, und das „Gift“ als Lähmung des Willens und des Gewissens.[7]
Zentrales Thema ist die Frage, warum sich Menschen im Spannungsfeld von Autorität, Anpassungsdruck, Lebensangst, existentieller Erschöpfung und individuellem Gewissen an Kriegsverbrechen beteiligen. Suguro, Toda und Ueda erscheinen als „normale“ Menschen, die in einer bestimmten Konstellation des Krieges zu Mittätern solcher Taten werden.
Rezeption
Nach Erscheinen rief der Roman sehr unterschiedliche Reaktionen hervor. Einige an den Taten beteiligte Personen[8] sahen sich angeklagt und protestierten schriftlich, was Endō stark belastete und ihn von einer geplanten Fortsetzung abhielt. Später griff er die Figur des Arztes Suguro jedoch in seinem Roman Kanashimi no uta (悲しみの歌, „Lied der Trauer“) wieder auf.[9]
Ausgaben
- Endō Shūsaku: Umi to dokuyaku. Shinchōsha, Tōkyō 1957.
- Shūsaku Endō: The Sea and Poison. Translated by Michael Gallagher. New Directions, New York 1992, ISBN 0-8112-1198-3.
- Shūsaku Endō: Meer und Gift. Aus dem Japanischen von Jürgen Berndt. Fischer Taschenbuch, Frankfurt a. M. 1984, ISBN 978-3-596-25811-6 (1. Aufl., Verlag Volk und Welt, Berlin 1976).
Literatur
- Flanagan, Damian: „'The Sea and Poison': Shusaku Endo dissects the human capacity for evil“. The Japan Times, 8. Juli 2017 (abgerufen am 30. August 2025).
- Japan Times: „Documents of 1945 vivisection of U.S. POWs on exhibit at Fukuoka museum“. The Japan Times, 11. Juni 2025 (abgerufen am 30. August 2025).
- Ogawa, Yusuke: „Awareness spreads about live experiments on U.S. POWs“. In: The Asahi Shimbun, 16. Mai 2024. Online verfügbar bei The Asahi Shimbun (abgerufen am 30. August 2025).
- Takayama, Kiyoshi (高山 潔): Endō Shūsaku 『Umi to dokuyaku』 saikō (遠藤周作『海と毒薬』再考, „Endō Shūsaku: Eine Neubetrachtung von ‹Meer und Gift›“). In: Musashidai Bungaku Ronshū (武蔵大文学論集, Musashidai-Literaturzeitschrift), Nr. 23, 2002, S. 1–17.
Weblinks
- Rezension bei japanische-literatur.blogspot.com, 18. September 2011.
- Rezension bei radiergummi.wordpress.com, 6. September 2011.
Siehe auch
Fußnoten
- ↑ Justin McCurry: Japan revisits its darkest moments where American POWs became human experiments (Japan erinnert sich seiner dunkelsten Vergangenheit – als amerikanische Kriegsgefangene zu Menschenexperimenten wurden). The Guardian, 13. August 2015, online bei The Guardian (abgerufen am 30. August 2025). Näher zu den geheimen Humanexperimenten an der Kaiserlichen Universität Kyūshū und den Kriegsverbrecherprozessen in Yokohama, Dokumentarfilm von Pacific Atrocities Education, 15.05.2025
- ↑ Ogawa, Yusuke: „Awareness spreads about live experiments on U.S. POWs“, The Asahi Shimbun, 16. Mai 2024, online bei The Asahi Shimbun (abgerufen am 30. August 2025).
- ↑ https://prizesworld.com/prizes/novel/scbg.htm#list005
- ↑ https://prizesworld.com/prizes/various/mshp.htm#list012
- ↑ https://www.imdb.com/title/tt0092128/
- ↑ Es handelt sich um Fukuoka.
- ↑ a b Takayama, Kiyoshi (高山 潔): Endō Shūsaku 『Umi to dokuyaku』 saikō (遠藤周作『海と毒薬』再考, „Endō Shūsaku: Eine Neubetrachtung von ‹Meer und Gift›“), in: Musashidai Bungaku Ronshū (武蔵大文学論集, Musashidai-Literaturzeitschrift), Nr. 23, 2002, S. 1–17.
- ↑ Nach dem Krieg wurden 30 japanische Militärangehörige und Universitätsprofessoren wegen der Humanexperimente angeklagt, und 23 wurden wegen Kriegsverbrechen für schuldig befunden. Ogawa, Yusuke: „Awareness spreads about live experiments on U.S. POWs“. In: The Asahi Shimbun, 16. Mai 2024. Online verfügbar bei The Asahi Shimbun (abgerufen am 30. August 2025).
- ↑ 孔雀ききょう (Kujaku Kikyo):『Umi to dokuyaku』『Kanashimi no uta』Endō Shūsaku ga egaku ‘tsukareta’ hito (『海と毒薬』『悲しみの歌』遠藤周作が描く「疲れた」人, „‚Meer und Gift‘ und ‚Lied der Trauer‘ – Die von Shūsaku Endō gezeichneten ,müden‘ Menschen“), note, 20. September 2023, online (abgerufen am 30. August 2025).