Martha Desrumaux
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Martha Desrumaux[A 1] (geboren am 18. Oktober 1897 in Comines; gestorben am 30. November 1982 in Évenos) war eine französische Gewerkschafterin, Résistante und Feministin. Sie trug den Spitznamen la pasionaria du Nord (die Pasionaria des Nordens).[1]
Leben
Junge Jahre
Martha Desmuraux war das sechste von sieben Kindern einer armen Familie: Ihr Vater Florimond Desrumaux, ein radikaler Republikaner und Laizist, war Angestellter bei den Gaswerken, wurde entlassen und starb als sie neun Jahre als war. Ihre Mutter, eine sehr fromme Frau, hatte ein amputiertes Bein.[2] Martha verließ daraufhin die Schule und arbeitete in der Landwirtschaft, bevor sie als Kindermädchen in einer bürgerlichen Familie in Faches, einem Vorort südlich von Lille, unterkam.[3][4] Dies verstieß allerdings gegen das Gesetz vom 19. Mai 1874, das die Arbeit von Kindern unter zwölf Jahren verbot.[3][5] Einige Monate später kehrte sie in ihre Heimatstadt zurück und wurde Textilarbeiterin in der Fabrik Cousin in Comines.[4] Dank ihres älteren Bruders Émile, einem Freidenker und Anarchosyndikalisten, begann sie sich für Politik zu interessieren. Da sie sich ihrer schwierigen Arbeitsbedingungen bewusst war, trat Martha Desrumaux im Alter von 13 Jahren der Gewerkschaft CGT bei.[6]
Im Alter von 15 Jahren schloss sie sich dem Mouvement des Jeunes Socialistes (Bewegung der jungen Sozialisten) an, da sie sich von den Reden Jean Jaurès’ angesprochen fühlte. Während des Ersten Weltkriegs wurden Zivilisten und Fabriken in Gebiete fernab der Front evakuiert. Sie ging nach Lyon und fand eine Anstellung in den Textilfabriken Hassebroucq. 1917 übernahm sie die Führung der streikenden Arbeiterinnen, um die Streichung einer Wohnungskaution aus ihren Arbeitsverträgen zu erreichen, die ihren Lohn schmälerte. Dies war ein erster Sieg für die junge Gewerkschafterin, die sich der Bedeutung der Gemeinschaft bei der Beilegung von Konflikten voll bewusst wurde.[6][7]
Zwischenkriegszeit
Martha Desrumaux wurde 1921, unmittelbar nach deren Gründung (im Anschluss an den Kongress von Tours), Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs; 1922 trat sie bei der Spaltung der Gewerkschaftsbewegung der kommunistischen Gewerkschaft CGTU bei. Sie engagierte sich in den Kämpfen der Kommunisten jener Zeit, dem Antimilitarismus (insbesondere gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets), dem Antikolonialismus und dem Antifaschismus.[8] Bei einem Treffen in Lille verfasste sie auf Wunsch von Maurice Thorez ein Telegramm an den Präsidenten der Republik Gaston Doumergue, in dem sie den Kolonialkrieg in Marokko anprangerte.[6]
1927 oder 1929 – die Quellen widersprechen sich hier – wurde sie als erste Frau in den Zentralausschuss der Kommunistischen Partei gewählt.[9] Sie wurde zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution nach Moskau eingeladen, wo sie unter anderem Clara Zetkin traf, die Initiatorin des Internationalen Frauentags.[6]

Nach ihrer Rückkehr engagierte sie sich weiterhin gewerkschaftlich, um Textilarbeiterinnen dabei zu helfen, bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu erreichen. Sie gründete die Zeitung L’Ouvrière, die Informationen für eine bessere Verteidigung der Rechte von Frauen am Arbeitsplatz bereitstellte. Fast fünfzehn Jahre lang führte sie im gesamten französischen Norden Streiks an.[8] 1928 wurde sie wegen Verschwörung gegen die innere und äußere Sicherheit des Staates verhaftet und wegen „Gewalt und Körperverletzung” angeklagt, nachdem sie Sammelaktionen für den „Streik der zehn Sous” organisiert hatte, den die CGTU ins Leben gerufen hatte, um eine Lohnerhöhung von 50 Centimes pro Stunde zu fordern. 1931 ging sie für anderthalb Jahre nach Moskau, um an der Internationalen Lenin-Schule zu studieren; sowjetische Berichte vermerken ihre „Intelligenz”, ihre „Begeisterung” und ihre „grenzenlose Hingabe an die Partei”. In diesem Umfeld lernte sie ihren zukünftigen Ehemann Louis Manguine[10] kennen, der acht Jahre jünger war als sie. Sie hatten einen Sohn, Louis, der 1937 geboren wurde, und heirateten 1938 offiziell. Nach ihrer Rückkehr nach Frankreich trat sie dem Politbüro der Kommunistischen Partei Frankreichs bei.[6]
Um für einen besseren Schutz für Arbeitslose und die Einführung einer Arbeitslosenversicherung zu werben, begleitete Martha Desrumaux während der Weltwirtschaftskrise den Hungerzug vom Dezember 1933, der aus Arbeitslosen bestand und auf seiner gesamten Strecke von Lille nach Saint-Denis von der Bevölkerung unterstützt wurde.[6][11] 1935 vertrat Desrumaux bei den Verhandlungen zur Wiedervereinigung der Gewerkschaften die CGTU.[6][9]
1936 unterstützte sie die Idee der Volksfrontregierung. In dem Film Das Leben gehört uns von Jean Renoir, der sich mit dem Wahlkampf befasst, spielte sie sich selbst.[8][12] Bei den Matignon-Abkommen war sie das einzige weibliche Mitglied der Arbeiterdelegation. Benoît Frachon[13], ein führender Kommunist und Gewerkschafter dieser Zeit, stützte sich auf sie, um mit den Arbeitgebern, die bis dahin jede Zugeständnisse abgelehnt hatten, erhebliche Lohnerhöhungen auszuhandeln.[8] Im selben Jahr 1936 stand sie Danielle Casanova bei der Gründung der Union des jeunes filles de France (Union der jungen Mädchen Frankreichs) zur Seite, deren Leitung Martha Desrumaux für den Norden übernahm. Es handelte sich um das weibliche Pendant zur Kommunistischen Jugend.[A 2] Im folgenden Jahr engagierte sie sich auch für die spanischen Republikaner und die Entsendung von Freiwilligen der Internationalen Brigaden.[6] Zum Deutsch-Sowjetischen Pakt (1939) erklärte sie im Nachhinein: “Es musste getan werden” und kritisierte Josef Stalin nicht.[6]
Zweiter Weltkrieg, Résistance und Deportation
Da sie im September 1939 von antikommunistischen Repressionen bedroht wurde, flüchtete sie nach Belgien zu Eugen Fried, einem Funktionär der Kommunistischen Internationale. Ab Mai 1940 wurde Nordfrankreich von der Wehrmacht besetzt. Martha Desrumaux kehrte nach Lille zurück und reorganisierte die Kommunistische Partei im Untergrund. Ihr Mann wurde zum Militärdienst einberufen und geriet in Kriegsgefangenschaft. Seit einer Hausdurchsuchung im Jahr 1939 hatte sie keinen festen Wohnsitz mehr.[14] Ende Mai 1940 versammelte sie in Dechy einige Bergleute, die einen Forderungskatalog erstellten, der von einer kleinen Druckerei gedruckt und in einer Auflage von fünftausend Exemplaren verteilt wurde.[14] Laut Auguste Lecoeur[15], einem der Organisatoren des Minenstreiks von 1941[A 3], gab Martha Desrumaux legalistische, fast pro-deutsche Anweisungen und schickte Delegationen von Streikenden direkt zur Kommandantur, um die Forderungen der Bergleute zu verteidigen[16], was sie später jedoch ebenso dementierte wie die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Kommunistischen Partei Frankreichs zwischen den Führungen des Nord und des Pas-de-Calais.[14]
Im Juni 1940 verteilte die Gruppe, der sie angehörte, in der Region Lille Flugblätter in deutscher Sprache, und im Juli 1940 erwähnte sie das Vorhaben eines Bergarbeiterstreiks.[8] Ab Herbst 1940 entwickelten Auguste Lecœur und Julien Hapiot[17] die Aktion im Pas-de-Calais weiter. Von September 1940 bis Mai 1941 mobilisierten mehrere Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen von Frauen die Familien der Bergleute im Revier. Vom 27. Mai bis zum 9. Juni 1941 streikten hunderttausend Bergleute, und die Produktion kam vollständig zum Erliegen.[9]
Desrumaux wurde vom Präfekten des Départements Nord, Fernand Carles[18], denunziert und am 26. August 1941 in Lille von der Gestapo verhaftet. Sie wurde im Gefängnis von Loos in Isolationshaft genommen, in deutsche Gefängnisse verlegt und im März 1942 in das KZ Ravensbrück deportiert.[8] Dort organisierte sie gemeinsam mit Geneviève de Gaulle-Anthonioz und Marie-Claude Vaillant-Couturier die Unterstützung der Schwächsten. Trotz der extremen Lebensbedingungen, der Misshandlungen, Entbehrungen und Krankheiten fanden die Frauen Wege, sich gegen ihre Wärter zu wehren, indem sie deren Arbeitsgeräte sabotierten und den Neuankömmlingen ein wenig Menschlichkeit entgegenbrachten. Martha Desrumaux erkrankte an Typhus. Im April 1945 wurde sie aus Ravensbrück befreit und vom Roten Kreuz repatriiert.[6] Sie gehörte zu den ersten 300 Französinnen, die aus Ravensbrück im Austausch gegen 464 deutsche Zivilinternierte aus dem Lager La Chauvinerie bei Poitiers befreit wurden. Der Lastwagenkonvoi verließ Ravensbrück am 5. April 1945 und erreichte am 9. April Kreuzlingen in der Schweiz. Am 10. April durchquerten die überlebenden Deportierten die Schweiz mit dem Zug und kamen in Annemasse an. Am 14. April erreichten sie den Bahnhof Gare de Lyon in Paris, wo sie von General de Gaulle und Vertretern der Kommunistischen Partei Frankreichs empfangen wurden. In der vom Roten Kreuz erstellten Liste der Repatriierten erscheint sie unter dem Ehenamen „Manguine“.
Nachkriegszeit
Desrumaux wurde 1944 Stadträtin von Lille (Frankreich hatte erst jetzt das Frauenwahlrecht eingeführt) und war wieder in der CGT tätig. Sie war Mitglied der Assemblée consultative provisoire; musste dieses Amt wie danach auch die anderen Ämter aber aus Gesundheitsgründen bald aufgeben.[6][9] In der Folge war sie weiter aktiv; in der Fédération nationale des déportés et internés résistants et patriotes[19] (Nationale Föderation der deportierten und internierten Widerstandskämpfer und Patrioten) und als Feministin in der Union des femmes françaises.
Martha Desrumaux starb am selben Tag wie ihr Ehemann Louis Manguine – sie in Évenos, er in Toulon.[6]
Auszeichnungen und Ehrungen

- Médaille de la Résistance[20]
- Als eine der berühmten Insassinnen des Konzentrationslagers Ravensbrück wurde Martha Desrumaux bei den Befreiungsfeierlichkeiten in der Nationalen Gedenkstätte Ravensbrück der Deutschen Demokratischen Republik öffentlich gewürdigt.[21]
- In Paris ist der Jardin Martha-Desrumaux nach ihr benannt;[22] in verschiedenen französischen Städten tragen Straßen ihren Namen.
- Ihr Lebenslauf wurde 2023 in der Ausstellung Déportées à Ravensbrück, 1942–1945 in den Archives nationales vorgestellt.[23]
- Die Stadt Comines stellte 2022 den Antrag, Martha Dusrumaux in das Panthéon zu überführen.[1]
Literatur
- Béatrice Gurrey: Martha Desrumaux, figure du Front populaire, syndicaliste, résistante et féministe. Le Monde, 26. August 2021 (lemonde.fr).
- Pierre Outteryck: Martha Desrumaux une femme du Nord, ouvrière, syndicaliste, déportée, féministe. Comité Régional CGT Nord- Pas-de-Calais, 2009.
- Pierre Outteryck: Martha Desrumaux, militante ouvrière féministe. In: L’Humanité Magazine. 27. Februar 2025 (humanite.fr).
- Jean-Pierre Besse, Claude Pennetier: Juin 40, la négociation secrète. Atelier, 2006, ISBN 978-2-7082-3866-4 (google.de).
- Michèle Cointet: Histoire des 16; les premières femmes parlementaires en France. Fayard, 2017, ISBN 978-2-213-70515-6.
- Catherine Lacour-Astol: Le genre de la Résistance; la Résistance féminine dans le Nord de la France. Fondation nationale des sciences politiques, 2015, ISBN 978-2-7246-1700-9.
- Marc Leleux: Histoire des sans-travail et des précaires du Nord. Presses Universitaires du Septentrion, 2018, ISBN 978-2-7574-2287-8 (google.de).
- Pierre Outteryck: Martha Desrumaux, une nécessité : transmettre l’histoire. In: Cahiers d’histoire. Revue d’histoire critique. 2021, doi:10.4000/chrhc.17030.
- Manie Philippe: Martha Desrumaux. Femme, ouvrière, syndicaliste communiste du Nord. Université Lille III, 1979.
- Claude Pennetier, Bernard Pudal: Le Souffle d’Octobre 1917; L’engagement des communistes français. Atelier, 2017, ISBN 978-2-7082-5094-9 (google.de).
Film
- Le Souffle de Martha von François Perlier[24]
Weblinks
- Le souffle de Martha auf YouTube, abgerufen am 14. September 2025.
- Guillaume Bourgeois, Yves Le Maner, Claude Pennetier: DESRUMEAUX Martha. In: Le Maitron. (französisch).
- Martha Desrumaux. In: Ravensbrück.
- Stéphanie Trouillard: The unknown story of pioneering French feminist Martha Desrumaux. In: France 24. 4. August 2018 (englisch).
- Angaben zu Martha Desrumaux in der Datenbank der Bibliothèque nationale de France.
Anmerkungen
- ↑ In verschiedenen Texten falsch als Martha Desrumeaux geschrieben.
- ↑ Zu den beiden Organisationen sind in der frankophonen Wikipédia weiterführende Artikel vorhanden: Union des jeunes filles de France und Fédération des jeunesses communistes de France.
- ↑ Siehe dazu weiterführend Grève patriotique des cent mille mineurs du Nord-Pas-de-Calais en mai-juin 1941 in der französischsprachigen Wikipédia.
Einzelnachweise
- ↑ a b Comines: Martha Desrumaux en haut du beffroi. In: La Voix du Nord. Abgerufen am 13. September 2025 (französisch).
- ↑ Siehe Literaturliste Outteryck 2009, S. 40 f.
- ↑ a b Siehe Literaturliste Outteryck 2009, S. 41
- ↑ a b Siehe Weblink Le Maitron
- ↑ Loi du 19 mai 1874. In: Légifrance. Abgerufen am 11. September 2025 (französisch).
- ↑ a b c d e f g h i j k l Siehe Literaturliste Gurrey S. 18 f.
- ↑ Siehe Literaturliste Outteryck 2009, S. 53
- ↑ a b c d e f Siehe Literaturliste Outteryck 2025
- ↑ a b c d MORT DE MARTHA DESRUMAUX ANCIEN DÉPUTÉ COMMUNISTE. In: Le Monde. 2. Dezember 1982, abgerufen am 12. September 2025 (französisch, beschränkter Zugriff).
- ↑ Odette Hardy-Hémery, Yves Le Maner, Claude Pennetier: MANGUINE Louis, Jean. In: Le Maitron. Abgerufen am 12. September 2025 (französisch).
- ↑ Marthe Desrumaux. (PDF) In: Évenos. Abgerufen am 12. September 2025 (französisch).
- ↑ La vie est à nous bei IMDb
- ↑ Roger Bourderon: FRACHON Benoît. In: Le Maitron. Abgerufen am 13. September 2025 (französisch).
- ↑ a b c Marta Desrumaux: La grève de 1941. In: Le Monde. 6. Juli 1981, abgerufen am 13. September 2025 (französisch).
- ↑ Auguste Lecoeur. In: Assemblée nationale. Abgerufen am 13. September 2025 (französisch).
- ↑ Yves Jeanneau und Simon Boucher: Auguste Lecœur et la grève des mineurs de 1941. In: Le Monde. 8. Juni 1981, abgerufen am 13. September 2025 (französisch).
- ↑ Yves Le Maner: HAPIOT Julien. In: Le Maitron. Abgerufen am 13. September 2025 (französisch).
- ↑ Angaben zu Fernand Carles in der Datenbank der Bibliothèque nationale de France.
- ↑ Fédération nationale des déportés et internés résistants et patriotes. Abgerufen am 13. September 2025 (französisch).
- ↑ Martha Desrumaux. In: L’Ordre de la Libération. Abgerufen am 13. September 2025 (französisch).
- ↑ Anne-Kathleen Tillack: Erinnerungspolitik der DDR. Peter Lang, 2012, ISBN 978-3-631-63678-7, S. 64.
- ↑ Jardin Martha-Desrumaux. In: Paris. Abgerufen am 13. September 2025 (französisch).
- ↑ https://www.archives-nationales.culture.gouv.fr/evenements/deportees-ravensbruck-1942–1945. In: Archives nationales. Abgerufen am 13. September 2025 (französisch).
- ↑ Le Souffle de Martha bei IMDb