Litera (Plattenlabel)
Litera (auch LITERA geschrieben) war ein DDR-Schallplattenlabel und gehörte zum VEB Deutsche Schallplatten. Das Label entstand aus einer Bestellnummerreihe des Labels Eterna, die für Arbeiterlieder, politische Lieder und Märsche, aber auch Sprechplatten vorgesehen war.
Geschichte
Im Juli 1962 informierte der VEB Deutsche Schallplatten das Ministerium für Kultur der DDR „in Zukunft Aufnahmen des 'Künstlerischen Wortes' unter der Marke 'LINGUA' zu veröffentlichen.“[1] Die neue Schallplattenmarke solle die Aufnahmen des gesprochenen Wortes gegenüber der Eterna- und Amiga-Produktion abgrenzen und zudem preislich günstiger sein. Im Hinblick auf die Namenswahl habe man die englische Firma Linguaphone[2] bereits informiert, „so daß wir annehmen, keine Schwierigkeiten mehr bei der Einführung des von uns ausgewählten Begriffs zu haben“.[3]
Noch im selben Jahr gründete der VEB Deutsche Schallplatten eine neue Marke für das Künstlerische Wort, allerdings unter dem Namen Litera.[4] 1963 erschienen erstmalig Veröffentlichungen mit dem Etikett in den Läden.[5] Als „literarische Schallplatte“ sollte die neue Marke „bedeutende literarische Werke, die Kunst anerkannter Interpreten oder die Stimmen geliebter Dichter“ dem Publikum vermitteln.[6]
Zudem war angedacht, dass die Litera-Tonträger für Kinder und Jugendliche „bei der kulturell-ästhetischen Erziehung in den privaten Haushalten, durch die Verwendung in Schulen, Kindergärten, Diskotheken und Bibliotheken eine wichtige Rolle spielen“.[7]
Um das Medium Schallplatte generell bekannter zu machen, eröffnete am 14. November 1964 das erste Schallplattentheater Ost-Berlins im Haus des Lehrers. Die Litera-Aufnahme Die Räuber (1964), eine Inszenierung der Städtischen Theater Leipzig nach Friedrich Schiller, wurde in einer Premiere dem Publikum vorgespielt.[8]
Seit 1971 war Jürgen Schmidt Chefredakteur bei Litera. Der ehemalige Intendant am Landestheater Anklam[9] (heute: Vorpommersche Landesbühne) prägte das Label (auch als Bearbeiter bzw. Dramaturg und Regisseur) bis zu seinem freiwilligen beruflichen Ausscheiden am 2. Oktober 1990.
Anfang der 1970er-Jahre stieg die Litera-Produktion, auch angesichts verbesserter technischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen[10], sprunghaft an (1972: etwa 300.000 LP, 1974: etwa 700.000 LP, 1975: bis zu 900.000 LP).[11] Dabei konnte das Label weiterhin namhafte Theater- sowie Filmschauspielerinnen und -spieler verpflichten, wie beispielsweise Carmen-Maja Antoni, Ursula Karusseit, Käthe Reichel, Rolf Ludwig, Kurt Böwe oder Klaus Piontek.
Im Wendeherbst 1989 erschien mit Thomas Müntzer: So ich das sage, muß ich aufrührerisch sein … – anlässlich seines 500. Geburtstages – eine aufwändig produzierte 4er-LP[12], die in ihrem mehrdeutigen Titel auch indirekt auf die politische Situation in der DDR hinwies.[13]
Ab dem Frühjahr 1990 firmierte der ehemals volkseigene Betrieb als Deutsche Schallplatten GmbH Berlin (DSB). Dabei achteten die Verantwortlichen darauf, „namentlich möglichst wenig mit dem Erbe der DDR in Verbindung gebracht zu werden“.[14] So wurden beispielsweise die Label umbenannt.
Im Herbst legte eine japanische Firma der Treuhandanstalt ein Angebot vor, das Unternehmen mit den ehemaligen Labels wie Litera zu kaufen.[15] Im Sommer 1991 erwarb der Kieler Unternehmer Ulrich Urban (1941–2019) und seine Urban-Gruppe (Autohandel, Immobiliengeschäft) die DSB.[16] Frühere Litera-Aufnahmen wurden zwischenzeitlich unter den neuen Labels Billi, Kreisel und Sandmännchen vermarktet.[17]
In den darauffolgenden zwei Jahren kämpfte die DSB ums wirtschaftliche Überleben. Nachdem aufgrund finanzieller Engpässe das Klassik-Archiv (Eterna) im Frühjahr 1993 an die Hamburger edel company music AG verkauft werden musste, rückte das Litera-Archiv in den Fokus. Der damalige, dritte Geschäftsführer Jozua Knol, ein ehemaliger Sony-Marketing-Mitarbeiter, dementierte vorerst etwaige Verkaufsabsichten.[18] Doch als die DSB zum 31. Dezember 1993 ihre Geschäftstätigkeit aufgab, ging das verbleibende Repertoire, darunter Litera, an die Bertelsmann Music Group (BMG).[19]
BMG veröffentlichte ab Ende der 1990er-Jahre in einer Litera-Junior-Reihe frühere Aufnahmen auf CD und MC. Seit den 2000er-Jahren erscheinen diese im Random House Audio Verlag bzw. cbj audio Verlag, die zur Penguin Random House Verlagsgruppe gehören.
Formate
Litera-Tonträger erschienen in der DDR auf Single (7-Zoll) zum Preis von 6,80 Mark und auf Langspielplatte, wobei in den Jahren 1963/64 noch das LP-Format 10-Zoll mit einer kürzeren Spieldauer verwendet wurde. Der Preis betrug 9,40 Mark. Nach 1965 setzte sich das heute gebräuchliche 12-Zoll-Format (12,10 Mark) durch. Ab den 1970er-Jahren wurden Litera-Aufnahmen zum Teil auch als Kompaktkassette zum Preis von 20,10 Mark im Handel angeboten.
Heute erscheint ein Teil der Litera-Aufnahmen als Hörspiel-CD, Download oder in Streamingdiensten.
Repertoire
Das Litera-Angebot teilte sich inhaltlich in drei Bereiche: „Literatur, Theater, Künstlerporträt, Dokumentation“, „Humor, Unterhaltung, Kabarett“ sowie „Kinder- und Jugendliteratur“.[20]
Dabei erreichten die Schallplatten im ersten Segment inklusive Nachauflagen pro LP etwa 1.500 bis 4.000 Stück, manchmal auch 10.000 Stück und mehr. „Humor, Unterhaltung, Kabarett“-Tonträger kamen auf 10.000 bis 40.000 Exemplare.[21]
Titel aus dem Bereich „Kinder- und Jugendliteratur“ schafften eine Auflage zwischen 25.000 und 350.000 Exemplare pro LP[22]; andere Quellen geben bis zu 450.000 an.[23] Jährlich verkaufte der Handel etwa 800.000 Kindertonträger, was aber nicht die Nachfrage deckte.[24] Besonders beliebt waren Schallplatten- bzw. Hörspielbearbeitungen von Märchen, dicht gefolgt von Kinder- und Jugendbuchklassikern (Mark Twain, Harriet Beecher Stowe, Karl May) sowie Abenteuerromanen (Robert Louis Stevenson, Jules Verne, J. F. Cooper) und DDR-Kinderbüchern (Gerhard Holtz-Baumert, Benno Pludra).[25]
Der Anteil des Litera-Repertoires an der Gesamtproduktion des VEB Deutsche Schallplatten betrug dennoch anfangs nur sieben Prozent (Eterna: 52 %, Amiga: 41 %; Stand: 1968)[26], steigerte sich aber in den nachfolgenden Jahren.
Übernahmen
Litera-Schallplatten wurden auch von westdeutschen Schallplattenfirmen in Lizenz übernommen. Eine der ersten war Helene Weigel liest Brecht (1964), die bei Deutsche Grammophon Gesellschaft (1965) erschien.[27] Mitunter errangen die Tonträger die westdeutsche Auszeichnung Deutscher Schallplattenpreis, wie die Litera-4er-LP Biblia. Deutsch: Martin Luther (1983) als „Beste Wortproduktion des Jahres“ (1983).[28]
Literatur
- Horst Heidtmann: Kindermedien. Metzler-Verlag, Stuttgart 1992, ISBN 978-3-4761-0270-6
- Jürgen Schmidt: Ich möchte ich bleiben. Lebenslauf eines mittleren Kultur-Kaders. Geschrieben nach 40 Jahren DDR (gekürzte Fassung). GNN-Verlag, Leipzig 1996, ISBN 978-3-9299-9472-8
- Ron Schlesinger (Hrsg.): Märchenhörspiel in der DDR. Die 7"-Schallplattenbearbeitungen der Labels ETERNA und LITERA. Ein Überblick. Books on Demand, Norderstedt 2023, ISBN 978-3-7583-0602-0
- Ron Schlesinger (Hrsg.): Märchenhörspiel in der DDR II. Die 10"- und 12"-Schallplattenbearbeitungen des Labels LITERA. Ein Überblick. Books on Demand, Norderstedt 2025, ISBN 978-3-8192-9858-5
Weblinks
- Lexikon: Schallplatten in der DDR. bei MDR
- LITERA (Label) bei Discogs
- Die LITERA-Schallplatten im Überblick bei Lied der Zeit
- LITERA (1964–1973) bei Die Hörspielforscher
Einzelnachweise
- ↑ Vgl. Schreiben des VEB Deutsche Schallplatten an das Ministerium für Kultur vom 2. Juli 1962, Seite 1. In: BArch DR 1/264
- ↑ Linguaphone
- ↑ Vgl. Schreiben des VEB Deutsche Schallplatten an das Ministerium für Kultur vom 2. Juli 1962, Seite 2. In: BArch DR 1/264
- ↑ Vgl. Gudrun Skulski: Tausende von Nachkommen – aber nur ein Vater. Ein Blick in die Werkstatt des VEB Deutsche Schallplatten anläßlich seines zehnjährigen Bestehens. In: Neue Zeit 19 (1963), Nr. 255, 31. Oktober 1963, S. 4.
- ↑ Vgl. "Litera". In: Berliner Zeitung 19 (1963), Nr. 228, 21. August 1963, S. 6.
- ↑ Vgl. Aufgaben und Perspektiven der LITERA-Produktion. Schreiben des VEB Deutsche Schallplatten an das Ministerium für Kultur vom 15. September 1964, Seite 1. In: BArch DR 1/264
- ↑ Vgl. Anja Braatz: Schallplatten für Kinder. In: Berliner Zeitung 36 (1980), Nr. 80, 3. April 1980, S. 7.
- ↑ Vgl. Kurznachrichten: Schallplattentheater. In: Neues Deutschland 19 (1964), Nr. 314, 13. November 1964, S. 8.
- ↑ Vgl. Jürgen Schmidt setzt sich in seiner Autobiographie mit dem Leben in der DDR auseinander: 'Lebenslauf eines mittleren Kultur-Kaders'. In: Berliner Zeitung, vom 8. Januar 1997, abgerufen am 29. August 2025.
- ↑ Vgl. Jürgen Schmidt: Ich möchte ich bleiben. Lebenslauf eines mittleren Kultur-Kaders. Geschrieben nach 40 Jahren DDR (gekürzte Fassung). Leipzig: GNN, 1996, S. 268.
- ↑ Vgl. Anja Braatz: Favorit: Fuchs und Elster. Neue Vorhaben der LITERA-Produktion. In: Berliner Zeitung 31 (1975), Nr. 262, 4. November 1975, S. 6.
- ↑ Vgl. Spannungsvolle Collage. Litera-Schallplatte zu Thomas Müntzer. In: Berliner Zeitung 45 (1989), Nr. 229, 28. September 1989, S. 7.
- ↑ Vgl. Sabine Neubert: Nicht ausgeschmiedet ist die Ketzerlehre. In: Neue Zeit 45 (1989), Nr. 273, 20. November 1989, S. 5.
- ↑ Tom Koltermann: Ausverkauf des Ost-Erbes? Spurensuche zur Privatisierung des VEB Deutsche Schallplatten nach 1989. In: Zeitgeschichte-online, vom 25. Mai 2020, abgerufen am 30. August 2025.
- ↑ Vgl. Birgit Walter: Früher Kultur – und heute Geschäfte. Die Deutsche Schallplatten GmbH vor dem Verkauf nach Japan. In: Berliner Zeitung 46 (1990), Nr. 299, 22./23. Dezember 1990, S. 13.
- ↑ Vgl. Jürgen Balitzki: Musik – ehrgeiziges Hobby des Chefs. Urban-Gruppe erwarb die Deutsche Schallplatten GmbH. In: Berliner Zeitung 47 (1991), Nr. 160, 12. Juli 1991, S. 2.
- ↑ Vgl. Michael Pilz: Die Weichen in Richtung Erfolg sind gestellt. Vom volkseigenen Betrieb zur GmbH – "Deutsche Schallplatten" im Aufbruch. In: Neue Zeit 47 (1991), Nr. 229, 1. Oktober 1991, S. 14.
- ↑ Vgl. Hans Erdmann: Die Marktchance liegt in der Nische. Deutsche Schallplatten GmbH kämpft um das Überleben. Klassik-Archiv wurde verkauft. In: Berliner Zeitung 49 (1993), Nr. 139, 17. Juni 1993, S. 10.
- ↑ Vgl. Ralf Schuler: Das Management machte sich keine Platte. Die Deutsche Schallplatten GmbH Berlin stellt zum Jahresende ihre Geschäftstätigkeit ein. Mißwirtschaft und Fehlentscheidungen trieben die einzige Ost-Firma der Branche in den Ruin. In: Neue Zeit 49 (1993), Nr. 258, 4. November 1993, S. 3.
- ↑ Vgl. Jürgen Schmidt: Ich möchte ich bleiben. Lebenslauf eines mittleren Kultur-Kaders. Geschrieben nach 40 Jahren DDR (gekürzte Fassung). Leipzig: GNN, 1996, S. 268f.
- ↑ Vgl. Jürgen Schmidt: Ich möchte ich bleiben. Lebenslauf eines mittleren Kultur-Kaders. Geschrieben nach 40 Jahren DDR (gekürzte Fassung). Leipzig: GNN, 1996, S. 269.
- ↑ Vgl. Interview mit Jürgen Schmidt, Chefredakteur im VEB Deutsche Schallplatten. In: Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur, Berlin 1980, Heft 57, S. 38–41.
- ↑ Vgl. Jürgen Schmidt: Ich möchte ich bleiben. Lebenslauf eines mittleren Kultur-Kaders. Geschrieben nach 40 Jahren DDR (gekürzte Fassung). Leipzig: GNN, 1996, S. 269.
- ↑ Vgl. Horst Heidtmann: Kindermedien. Stuttgart: Metzler, 1992, S. 151.
- ↑ Vgl. Die LITERA-Schallplatten im Überblick. In: Lied der Zeit, abgerufen am 29. August 2025.
- ↑ Hans Joachim Kynaß: Ziel für 1969: Den Käufern 1,3 Millionen Langspielplatten mehr. Gespräch mit dem Direktor des VEB Deutsche Schallplatten, Harri Költzsch. In: Neues Deutschland 24 (1969), Nr. 74, 15. März 1969, S. 11.
- ↑ Vgl. Gute Resonanz. In: Neue Zeit 21 (1965), Nr. 295, 17. Dezember 1965, S. 5.
- ↑ Vgl. es [sic]: Preise und neue Vorhaben. Pressegespräch beim VEB Deutsche Schallplatten. In: Neue Zeit 39 (1983), Nr. 295, 15. Dezember 1983, S. 4.