Leviathan (Julien Green)
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Leviathan (frz.: Léviathan) ist der Titel eines 1929[1] publizierten Romans von Julien Green. Erzählt wird die Liebes-Obsession des Privatlehrers Paul Guéret zu der Wäscherin Angèle, die zu einer Tragödie führt, als er erfährt, dass sie eine Prostituierte ist. An den auf den Titel bezogenen dämonischen Handlungen beteiligt sind vor allem zwei Frauen mit psychopathischen Persönlichkeitsbildern, in deren Machtbereiche die beiden Hauptfiguren geraten. Die erste deutsche Übersetzung von Gina und Hermann Kesten erschien 1930 (s. Übersetzungen ins Deutsche).
Inhalt
Überblick
Die Handlung spielt von August bis Dezember im fiktiven französischen Doppelstädtchen Lorges/Chanteilles. Der unglücklich verheiratete Privatlehrer Paul Guéret verliebt sich nach seinem Umzug von Paris in das Provinzstädtchen in die 18-jährige Wäschereiangestellte Angèle und steigert sich in eine obsessive Vorstellung hinein, sie müsse seine Liebe erwidern. Als er erfährt, dass sie sich hinter der Fassade eines kleinbürgerlichen Lebens mit den Gästen der Wirtin Londe prostituiert, entwickelt sich aus seiner zwanghaften Liebe Hass. Er überfällt sie und verletzt sie schwer im Gesicht. Angèle, die in ihrem Leben nie echte Liebe erfahren hat, leugnet in ihren Aussagen vor der Polizei, ihn als Täter erkannt zu haben. Trotzdem deuten alle Indizien auf ihn und er wird gesucht. Auf der Flucht tötet er, aus Angst vor der Verhaftung, einen alten Mann und taucht in Paris taucht unter.
Nach drei Monaten kehrt Guéret zurück, um mit Angèle Kontakt aufzunehmen und sie zur gemeinsamen Flucht zu überreden, und vereinbart mit ihr einen Treffpunkt. Sein Vorhaben misslingt jedoch, denn er wird in die Rachepläne der mit dem Leben unzufriedenen Mme. Eva Grosgeorge, deren Sohn er unterrichtet hat, verwickelt. Sie sieht in ihm einen Seelenverwandten und Rächer ihrer durch die Affäre ihres Mannes mit Angèle erlittenen Demütigung. Als sie erkennt, dass Guéret die Tat nicht aus Hass, sondern aus Liebe begangen hat, schließt sie ihn in einem Zimmer ein und fordert Angèle in einem Brief auf, ihn anzuzeigen. Sie hofft ihm durch das Auftauchen der Polizei sein falsches Bild von der Geliebten zu beweisen. Als er jedoch von Angèle gewarnt wird, versucht Eva sich durch einen Pistolenschuss zu töten. Nachdem die Wirtin den Brief gelesen hat, meldet sie der Polizei seinen Aufenthalt in der Villa. Angéle verlässt fiebrig ihr Krankenlager, läuft zum vereinbarten Treffpunkt, bricht zusammen und wird von einem Milchmann geistig verwirrt zurückgebracht.
Vorgeschichte
In der kleinen Provinzstadt Lorges betreibt Madame Georges Londe ein Restaurant mit einem Table d’Hôte. Von einem erhöhten Sitz aus überwacht die 55-jährige alleinstehende Frau, wie eine Lehrerin die Klasse, ihre Stammgäste, belauscht ihre Gespräche und sorgt für den zeremonienhaften Ablauf des genau terminierten Mittag- und Abendessens. Sie ist von einer notorischen Neugier besessen, alles über die Menschen ihrer Umgebung zu erfahren und diese zu beherrschen. Dazu benutzt sie die schöne Angèle, ein Mädchen, das sie als 14-Jährige in ihren Haushalt aufgenommen und in ihrem Sinn erzogen hat und das, nachdem sie in einer Wäscherei arbeitet, weiterhin bei ihr kostenlos wohnen und essen darf. Seit Angèle 16 Jahre alt ist, übt sie auf sie Druck aus, sich abwechselnd mit den sie umwerbenden Gästen sonntags zu treffen, was dieser anfangs schmeichelt. Über die damit verbundenen bezahlten Dienstleistungen will die Wirtin nichts wissen und sie lehnt dafür alle Verantwortung ab, aber sie kennt aus ihren eigenen Erfahrungen die Ergänzung eines kleinen Einkommens durch Prostitution (Teil I, Kap. 8). Sie überlässt Angèle größtenteils den Verdienst und fordert als Gegenleistung das Aushorchen ihrer Kunden. Mit dem, was sie erfährt, ist sie jedoch oft unzufrieden und vermutet hinter den Alltäglichkeiten tiefere Geheimnisse, aber sie selbst begreift nicht, dass das „Ziel ihrer Leidenschaft nicht darin [besteht], Unbekanntes in Bekanntes zu verwandeln, sondern das Unbekannte um seiner selbst willen zu suchen und in seiner Nähe zu leben“.[2]
Während die Wirtin im ersten Romanteil als wichtige Drahtzieherin fungiert, ist es im zweiten Teil Mme. Eva Grosgeorge, die mit ihrem Mann eine großbürgerliche Villa bewohnt. Sie verbirgt hinter der gesellschaftlichen Fassade eine tiefe Einsamkeit, Traurigkeit und meist versteckte Wut über ihr Schicksal: die unglückliche Ehe mit einem ungeliebten Mann, die sie als Gefängnis und Vergewaltigung empfindet. Diese Gefühlslage äußert sich ihrem Mann und dem Dienstpersonal gegenüber in Kälte und Arroganz, während sie ihren schüchternen Sohn bei schlechten Schulleistungen sadistisch bestraft. Obwohl sie eine Abscheu ihrem Mann gegenüber empfindet, ist die 45-Jährige eifersüchtig auf die jungen Frauen, die von ihm für Sex-Dienste bezahlt werden, und träumt von Rache.
Der Romanhandlung unmittelbar voraus geht der Zuzug Paul Guérets und seiner Frau Marie in das der Provinzstadt Lorges benachbarte Chanteilles, wo er von der großbürgerlichen Familie Grosgeorge angestellt wird, um deren wenig begabten Sohn André auf das Gymnasium vorzubereiten. Er arbeitete bereits zuvor in Paris als Privatlehrer und sie als Näherin, aber trotz Einschränkungen konnten sie das teure Leben in der Metropole nicht mehr finanzieren. Guéret ist mit seinem Leben unzufrieden und in seiner Ehe mit seiner einfachen, wenig gebildeten Frau unglücklich. Aber ein Blick des Sternenhimmels lässt sein Herz höher schlagen und er schwingt sich „in einer dunklen Regung […] zu dieser schweigenden Unendlichkeit empor, die ihn zu rufen [scheint]“.[3] und erhofft sich offenbar in der Bekanntschaft mit der 18-jährigen Angèle einen Aufbruch.
Guérets Obsession
Die Haupthandlung des Romans beginnt im September, vier Wochen nach dem Zuzug Guérets nach Chanteilles. Der Protagonist verliebt sich in die 18-jährige anmutige Angèle. Er beobachtet sie von einem Café aus, das der Wäscherei gegenüberliegt, wenn sie das Geschäft mit anderen Angestellten verlässt. Er verfolgt sie zwanghaft auf ihren Wegen in der Stadt, wenn er ihr bei ihren Wäschetransporten begegnet, spricht sie schließlich an und bittet um ein Gespräch. Sie willigt ein, sie treffen sich mehrmals und sie achtet jeweils darauf, dass sie nicht beobachtet werden. Die kurzen Begegnungen verlaufen jeweils für beide enttäuschend (I, 6, 8). Angèle erwartet eine von ihren Kunden gewohnte Einladung zu einem bezahlten Treffen, doch Paul spricht unsicher und unentschlossen von seiner Liebe und schenkt er ihr einmal einen Ring. Er hat Minderwertigkeitsgefühle, da er sich, alt, hässlich und als Versager fühlt. Er ist hin- und hergerissen zwischen Leidenschaft, Angst vor Zurückweisung seiner Werbung und Angst vor seinem eigenen Mut. Sie wiederum ist verwirrt, als sie merkt, dass er kein Kunde ist, sondern eine tiefere Zuneigung zu ihr empfindet. Obwohl er nicht ihren Mädchenträumen von einem schönen jungen Mann entspricht und sie eher Mitleid mit seiner Unbeholfenheit hat, geht sie mehrmals auf seine Bitten nach einem neuen Treffen ein, behandelt ihn dann aber, wenn er schüchtern herumredet, unfreundlich und ablehnend (I, 9). Darauf reagiert er eifersüchtig, vermutet andere Verehrer und macht entsprechende Bemerkungen, die bei ihr zum Missverständnis führt, er habe Gerüchte über ihr Gewerbe gehört, und sie verlässt ihn. Sein Verhalten und ihre Abwendung von ihm lösen eine labyrinthische Entwicklung aus: Er unterstellt seine eigenen Bedenken der Geliebten, sie reagiert auf seine Widersprüche ratlos, ihre Fragen nach seinen Wünschen verwundern ihn, denn er erwartet, dass sie seine Gefühle kennt. In der Folge wechseln in seiner Gemütslage Schüchternheit und Aggression, Liebe und Hass, Sinnlichkeit und Verzweiflung, Lust und Schmerz.
Wendepunkt
Angèle ist unzufrieden mit ihrem Leben, das nicht ihren Träumen entspricht und das junge Männer abhält, sich um sie zu bemühen. Sie wiederum ist zu gehemmt und schüchtern, Männer, die ihr gefallen, zu ermuntern. So fürchtet sie, ihre Glückschancen zu verspielen. Auslöser dieser Nachdenklichkeit sind die Begegnungen mit Guéret und seine unbeholfenen Liebesbekenntnisse. Als sie aus dem Gespräch der Wirtin erfährt, dass Guéret verheiratet ist, erblasst sie kurz (I, 8). Nach dem letzten Treffen mit dem Lehrer kündigt sie der Chefin, die mit der 13-jährigen Fernande bereits ihre Nachfolgerin heranzieht, ihre Dienste auf, und beschuldigt sie der Ausnutzung. Sie will sich eine besser bezahlte Anstellung suchen und die Prostitution mit dem Gästen beenden.
Guérets Arbeitgeber M. Grosgeorge hat die Melancholie des Lehrers bemerkt, rät ihm in einem freundlich vertraulichen Gespräch zu einer Affäre mit einem einfachen jungen Mädchen aus dem Volk und führt als eigenes Beispiel die von ihm mit Geschenken belohnten Besuche einer Wäscherin in seinem Haus an. Als der Lehrer entdeckt, dass Angèle die Besucherin ist, bricht für ihn seine Traumwelt zusammen (I, 7). Er findet heraus, dass Angèle im Haus Mme. Londes wohnt, geht zum Mittagessen ins Restaurant und erfährt, dass man seine Angebetete als Sonntags-Termin bei der Wirtin gegen eine Vorauszahlung buchen kann und dass sie sich mit allen Männern der Table d’Hôte im Wechsel trifft. Sein Tischnachbar empfiehlt sie ihm wegen ihrer Mischung aus engelhafter Mädchenhaftigkeit und Gewitztheit, das sie von einer gewöhnlichen Prostituierten unterscheide (I, 10).
Durch diese Nachricht steigert sich Guérets Besessenheit. Ihn verfolgt der Gedanke, dass Angèle nur ihn allein abweist und er will sie zur Rede stellen. Nachts klettert er in verzweifelten mühsamen Versuchen an der Fassade des Restaurants hoch, dringt in Angèles Zimmer ein und findet ihr Bett leer vor (I, 11). Inzwischen ist Wirtin von den Einbruchgeräuschen aufgewacht und schreit um Hilfe. Er flieht aus dem Haus und setzt am nächsten Tag seine Suche nach Angèle fort. Als er ihr begegnet, zerrt er sie ans Flussufer, und zwingt sie zu sagen, dass er ihr widerwärtig sei. Sie versucht ihn zu beruhigen und mit ihm über seinen Kummer zu sprechen. Er wird daraufhin noch wütender und hält sie fest. Sie schreit. Darauf schlägt er in einem Zornausbruch mit einem Ast wild auf sie ein, bis sie schweigt und wie tot am Boden liegt. Dann flieht er und versteckt sich (I, 12).
Am nächsten Morgen fühlt er sich ruhig und von einem Druck befreit. Die Tat kommt ihm, in einer Art Schizophrenie, wie ein Traum vor oder wie ein Erlebnis aus einem anderen Leben, das mit ihm nichts zu tun hat, und er empfindet keine Schuld und kein Mitgefühl für das Opfer (I, 13). Er weiß jedoch, dass die Tat der Wendepunkt in seinem Leben ist und dass er gesucht wird. Er läuft durch einsame Straßen, um die Stadt zu verlassen. und begegnet vor einem Hospiz dem alten Kriegsinvaliden Sarcenas. Er hat Angst, dass ihn dieser erkennt und der Polizei meldet, und erschlägt ihn. Dann verschwindet er aus der Stadt und taucht in Paris unter. Obwohl Angèle aussagt, ihn nicht erkannt zu haben, gerät er sofort unter Verdacht, da er im Gespräch mit dem Opfer gesehen worden ist und am nächsten Tag nicht zum Unterricht erscheint. Die Fandung verläuft jedoch erfolglos und die Bevölkerung hat noch monatelang Angst, nachts allein durch die Stadt zu gehen.
Verlust der Schönheit
Angèles Wunden verheilen langsam, aber es bleiben große Narben in ihrem Gesicht zurück, und sie verliert ihre frühere Anmut und Schönheit. Sie verlässt deshalb drei Monate lang nicht ihr Zimmer, macht für die Wirtin Nähereien und verbirgt ihr Gesicht hinter einem Tuch (II, 3). Den Namen des Täters verrät sie nicht, weil er der einzige Mann ihres Lebens ist, der sie liebt (II, 1, 3). Sie macht das Schicksal und Gott für ihr das tragische Geschehen mitverantwortlich und glaubt, „dass die Begierde mehr oder weniger allgemeinen Gesetzen folgt und dass eine Entartung der Sinne vorliegen musste, wenn jemand sich in ein Gesicht verliebte, in das ein wutentbrannter Mörder so sichtbare, grausame Male eingezeichnet hatte“. Der Überfall läuft immer wieder wie ein Film in ihren Gedanken ab. Ihre Stimmungen wechseln zwischen „seltsame[r] Freunde“ an der „grenzenlos [tiefen] Erniedrigung“ durch die „grauenvollen Laune“ des Schicksals, „Verlangen nach Liebe“ und der „Illusion, schön zu sein“.[4] Aber sie findet sich nach einiger Zeit der Hoffnung auf eine Heilung ihres schönen Gesichts mit der bleibenden Vernarbung ab: „Ihre Sorglosigkeit, ihre Jugend waren einer Resignation gewichen, die voller Bitterkeit war, ihr aber half, die Last der Tage zu tragen.“[5]
Für Mme. Londe ist der Verlust von Angèles Schönheit eine wirtschaftliche und persönliche Katastrophe. Sie fürchtet den Abschied ihrer Kunden und das Ende ihres Restaurants (II, 4). Vor allem bekommt sie keine Informationen mehr und kann sie nicht mehr in ihrem Betrieb und vor den Freundinnen ausspielen. Zwar bereitet sie die 13-jährige Fernande darauf vor, Angèles Nachfolgerin zu werden (II, 3), aber sie fürchtet, dass ihre Restaurant-Gäste eine junge Frau als Zeitvertreib wünschen und kein Kind und dass die Männer Angst vor einem Skandal haben. So leidet Mme. Londe unter Melancholie und Langeweile und dem drohenden Verlust ihres Lebensinhaltes (II, 4). Einen unverhofften kurzen Machtgewinn erhält sie durch die Nachricht vom Versteck Guérets in der Villa Grosgeorges, wodurch ihr Restaurant noch einmal zum Zentrum wird.
Rückkehr
Nach ca. drei Monaten kehrt Guéret nach Lorges zurück, um Kontakte zu Angèle knüpfen. Er bedauert seine Tat, gesteht ihr seine Liebe und schlägt ihr vor, mit ihm gemeinsam wegzugehen. Sie hat Angst, ihm zu widersprechen, und stimmt zu, obwohl sie zuerst nicht die Absicht hat, ihm zu folgen. Beide geraten jedoch in den Machtbereich Eva Grosgeorges, als sie sie um finanzielle Unterstützung bitten:
Nachdem Mme. Londe versucht, sie trotz Narben wieder mit ihren Kunden zusammenzubringen, beschließt Angèle, sich von M. Grosgeorge Geld zu erbitten, die Stadt zu verlassen und sich eine neue Arbeit zu suchen. Sie trifft aber auf seine Frau, die sie kalt und verbittert behandelt, vor ihrer Hilfszusage ihre Narben sehen will und sie dann damit vertröstet, ihr eine Nachricht zu schicken (II, 6). Am selben Tag begegnet Mme. Grosgeorge dem zurückgekehrten Guéret, zu dem sie eine Affinität entwickelt hat, und deutet ihm durch eine Geste an, ihn nicht der Polizei zu verraten und ihm zu helfen. Sie schlägt ihm ein Treffen am nächsten Tag an der Eisenbahnbrücke vor (II, 2), zu dem er jedoch nicht erscheint. Als er, nach seiner Vereinbarung mit Angèle, am nächsten Tag zu ihr in die Villa kommt und sie um Geld für seine Flucht bittet, baut sie ihn, und dann auch Angèle, in ihren persönlichen Racheplan und in ihre Träume ein.
Rachepläne
Mme. Grosgeorge ist nicht verwundert über Guérets Tat, denn sie hat ihn bereits während seines Unterrichts als schwermütigen Seelenverwandten erkannt, nur schüchtern und unbeholfen, im Unterschied zu ihrem herrschsüchtigen Auftreten (II, 2). Auch sie verbirgt hinter ihrem reichen Leben eine große Traurigkeit über ihr Schicksal, die sich in Aggressionen gegen ihren Sohn äußert, den sie als Grund für ihre Gefangenschaft in einer großbürgerlichen Villa ansieht. Während sie sich formal empört über die brutale Tat äußert, bewundert sie heimlich Guérets Wutausbruch gegenüber der schönen jungen Frau und fühlt in sich eine entsprechende Neigung:
„Alles was in ihr ehrbar und konventionell war, lehnte sich gegen die Vorstellung einer möglichen Komplizenschaft mit dem Mörder auf. Ein paar Minuten lang spielte sie sich selbst die Komödie der Tugend vor. Was für ein Glück, sich angesichts eines so wüsten Verbrechens unschuldig fühlen zu können! […] Sie kannte sich selbst schon zu viele Jahre, um sich dieser künstlichen Freude mit Genuss zu überlassen. Das Verbrechen flößte ihr kein Grauen ein. Es erstaunte und interessierte sie. […] Sie selbst empfand für diese vor Entsetzen zitternde Gesellschaft nichts als Verachtung und Hass. Ein anderer hatte noch etwas mehr gehasst und mehr Kühnheit aufgebracht. […] Zudem war es ihr nicht unangenehm, sich zum Verbrechen befähigt zu fühlen, wenn einen das Schicksal lebenslänglich an […] einen Mann gekettet hatte, in dem die ganze verlogene Prüderie der bürgerlichen Gesellschaft in voller Blüte stand.“[6]
Obwohl sie eine Abscheu ihrem Mann gegenüber empfindet, ist sie eifersüchtig auf die schöne junge Frau, die von ihrem Mann für Sex-Dienste bezahlt wird, und fühlt eine Genugtuung, als sie deren vernarbtes Gesicht sieht. Sie glaubt, Guéret habe nicht nur sich, sondern auch sie für den Verrat gerächt (II, 11). Als sie Guéret nach seiner Rückkehr in die Stadt begegnet und er sie tags darauf um Geld bittet, ist sie sofort bereit dazu und träumt davon, mit ihm zu fliehen. Nachdem er ihr jedoch als Grund für seine Tat nicht Hass, sondern enttäuschte Liebe und Eifersucht nennt und ihr erzählt, er sei wegen Angéle zurückgekehrt, wird ihr Bild von ihm als ihr Rächer und Held zerstört, zumal sie sich eingestanden hat, ihn zu lieben. Um sich zu rächen, erzählt sie ihm, Angèle hasse ihn und fürchte sich vor ihm (II, 11). Sie schließt ihn in einem Zimmer ein und fordert Angèle, die zu diesem Zeitpunkt in ihrem Zimmer im Gasthaus fiebrig im Bett liegt, in einem von Fernande überbrachten Brief auf, ihn anzuzeigen. Sie rechnet fest damit, dass die Bestrafung des Täters für Angèle eine Genugtuung wäre. Guéret gegenüber stellt sie dies als Test dar: Wenn die Polizei zu seiner Verhaftung anrücke, beweise dies sein falsches Bild von der Geliebten. Zur Katastrophe kommt es durch die Neugier der Wirtin. Sie fängt den Brief ab und informiert die Polizei über Guérets Aufenthaltsort. Als Angèle dies erfährt, lässt sie ihn durch ihre Freundin Fernande warnen. Darauf versucht Eva Grosgeorge sich durch einen Pistolenschuss zu töten, überlebt aber den Suizid und fordert Guéret auf, ihr Leben zu beenden. Gleichzeitig mit der Verhaftung verlässt Angéle geschwächt und fiebrig ihr Krankenlager und läuft zum vereinbarten Treffpunkt:
„Nach Monaten der Angst war sie endlich glücklich, denn nun ging sie ja fort; sie würde Madame Londe und ihre schrecklichen Kunden, die ihr so viel Leid bereitet hatten, nicht mehr sehen. Da draußen wartete jemand auf sie, jemand der versprochen hatte, dass er warten würde.“[7]
Am vereinbarten Treffpunkt bricht sie zusammen und wird von einem Milchmann geistig verwirrt ins Restaurant zurückgebracht:
„Die Welt entschwand wie ein böser Traum. […] In der äußersten Wirrnis, in der sich für diese Frau alle Dinge der Erde befanden, drang kaum noch der Klang menschlicher Worte zu ihr, keinesfalls jedoch deren Sinn. Ihre Augen waren schon ganz der Vision zugewandt, die die Toten in Ewigkeit erschauen.“[8]
Form
- Die Geschichte wird kapitelweise, teilweise in zeitlicher Parallelführung, abwechselnd in personaler Er-Form aus der Perspektive der Hauptfiguren erzählt.
- Der „fast naturalistischen, Details häufenden Darstellung einer kerkerhaften Umwelt entspricht die genaue Analyse psychologischer Reaktionen“. Beides füge sich „demselben unpathetischen, spröden Sprachduktus; den sehr klaren Satzbau bestimmen konzise, kühl untertreibende Wendungen.“[9] Ähnlich beurteilt Baumgart Greens Sprachverwendung: der Autor erzählt den Leidensprozess „in einer unauflöslichen Einheit von Sympathie und Abscheu, kalter Neugier und unsentimentaler Barmherzigkeit“. Er hält sich „von allen zeitgemäßen Schreibkunstgriffen […] frei, und zwar gerade, weil hier auf einfachem Grundriss und mit altmeisterlicher, ja alttestamentlicher Wucht eine Geschichte in Szene gesetzt [werde]“. Mit „Übersicht und souveräne Regie demonstrier[e] er auch in der Lichtführung, den Bildausschnitten, dem ruhigen Kamerablick auch und gerade auf ekstatische Szenen, die den Leser heute erinnern an die expressive, durch Stummheit und Schwarzweiß gesteigerte Zeichensprache des Films der zwanziger Jahre“: „Greens Menschen mögen keuchen und stöhnen und ratlos in ihr brodelndes Innenleben starren, doch Greens Prosa wird ihnen, anders als die gleichzeitige etwa von Döblin oder Celine, keinen Schritt in irgendeine Unmittelbarkeit des Ausdrucks folgen. Möge die Welt zugrunde gehen, hier geschieht, wie bei Racine oder Stendhal oder Flaubert: Kunst.“[10]
Titel
Baumgart[11] erklärt den aus der jüdischen Mythologie entlehnten Titel Leviathan als „Weltmaschine“ mit dem „Getriebe einer vollkommen blinden und ungerechten und auch unerforschlichen Verteilung von Glück und Unglück, die der Roman immer wieder als »Los« oder »Schicksal« anruf[e]. Nur leidend [stoße] man auf den Grund der Welt - auf den Leviathan.“ In KLL wird das „feurige Funken schießende“ Ungeheuer (Buch Hiob, Kap. 40, 41) als Chiffre auf die kleinstädtische Dumpfheit verstanden, die eine zerstörerische Dämonie erzeuge.[12]
Rezeption und Interpretation
Julien Green war um 1930 ein vielgelesener Autor. In den fünfziger und sechziger sowie den 1980er Jahren wurden viele seiner Romane, u. a. Leviathan, wieder entdeckt und neu übersetzt aufgelegt. Der Autor gilt als „Zeremonienmeister des Unglücks“, als „Fachmann für lichtlose Leidenswelten und Qualen in extremis“.[13] Peter Hamm nannte ihn den zur Zeit „abgründigste[n], dämonische[n]“ Romancier, „ein[en] christliche[n] Kafka gewissermaßen“.[14] In vielen Rezensionen wird die Frage nach der psychologischen oder der existentiellen Deutung des Werks angesprochen.
Die Interpretation in KLL geht von Walter Benjamins Ansatz aus,[15] der den „Passionsgedanken“, die „Verschränkung von Leiden und Leidenschaft“ im Werk Green akzentuiert: Die von den Hauptfiguren zu erleidenden Schmerzen seien „in einer nur aus theologischer Sicht zu begreifenden Ausschließlichkeit bestimmend.“ Green bewege vor allem die Dialektik der Sünde im Zustand der Gnadenlosigkeit, der die Erkenntnis verwehrt, mehr zu sein als „das Opfer einer leidenschaftlichen Macht“: „Die Leidenschaften verkrümmen sich unter dem Zwang einer konventionellen Ordnung, sie schwelen unter der Asche des trostlosen Alltags, bis sie in die Perversion oder ins Verbrechen umschlagen. Kleinstädtische Dumpfheit erzeugt eine zerstörerische Dämonie, für die Green die Chiffre des ›feurige funken schießenden‹ Ungeheuers Leviathan aus dem Buch Hiob fand“.[16]
Baumgart betont in seinem Artikel dagegen den psychologischen Aspekt, der sich allerdings nicht in „filigrane Detailmalerei“ verliere, sondern „immer allegorisch aufs Ganze [gehe], getreu dem Wahlspruch des Autors: »Eine Leidenschaft pro Person genügt.«“ „Diese Leidenschaftlichen“ seien keine eigentlichen Akteure, vielmehr würden sie „in jene Weltmaschine, ins Getriebe einer vollkommen blinden und ungerechten und auch unerforschlichen Verteilung von Glück und Unglück, die der Roman immer wieder als »Los« oder »Schicksal« anruf[e]“, hineingetrieben. Green Antwort auf die Frage nach dem Grund dafür sei: „Nur leidend stößt man auf den Grund der Welt - auf den Leviathan“. Green liefere „wie alle Kunst, die diesen Namen verdien[e], keinerlei weltanschauliche Gebrauchsanweisung, auch keine religiöse oder gar christkatholische“. Georg Büchners Hinweis auf den »Fels des Atheismus« bei der Frage »Warum leide ich?« sei „den Romanen Greens angemessener als die Illusion, sie wären als Schreckenskammer nur eingerichtet, damit wir vor ihnen und in ihnen schlicht und genüsslich in die Knie gehen“.[17]
Film
- Leviathan, Frankreich 1961. Regie: Léonard Keigel. Besetzung: Louis Jourdan (Paul Guéret), Marie Laforêt (Angèle), Nathalie Nérval (Marie Guéret), Lilli Palmer (Mme. Grosgeorges), Madeleine Robinson (Mme. Londe), Georges Wilson (M. Grosgeorges), Patrick Monneron (André).
Übersetzungen ins Deutsche
- Der Roman wurde ein Jahr nach Erscheinen im Verlag Kiepenheuer in einer Übersetzung von Gina und Hermann Kesten veröffentlicht.
- 1963 publizierte der Jakob-Hegner-Verlag in Köln und Olten (Schweiz) die Neuübersetzung von Eva Rechel-Mertens. 1986 im Hanser-Verlag, 1997 in der Reihe dtv-Literatur 12384.
Weblinks
- Übertragungen in fremde Sprachen
- 2. August 2004: Inhaltsangabe mit Lesermeinungen in Gedächtnisstütze.
- Menorah Kurzeintrag zum September 1931 im „Compact Memory“ der Uni Frankfurt
- Eintrag bei wissen.de
- Leviathan (1962) bei IMDb Regie: Léonard Keigel; mit Marie Laforêt als Angele
- Reinhard Baumgart: Eine Leidenschaft pro Person genügt am 8. Dezember 1986 im „Spiegel“
Anmerkungen
- ↑ in der Librairie Plon in Paris
- ↑ Julien Green: Leviathan. Carl Hanser Verlag München Wien, 1986, S. 84.
- ↑ Julien Green: Leviathan. Carl Hanser Verlag München Wien, 1986, S. 43.
- ↑ Julien Green: Leviathan. Carl Hanser Verlag München Wien, 1986, S. 232.
- ↑ Julien Green: Leviathan. Carl Hanser Verlag München Wien, 1986, S. 231.
- ↑ Julien Green: Leviathan. Carl Hanser Verlag München Wien, 1986, S. 179 ff.
- ↑ Julien Green: Leviathan. Carl Hanser Verlag München Wien, 1986, S. 307.
- ↑ Julien Green: Leviathan. Carl Hanser Verlag München Wien, 1986, S. 308.
- ↑ Kindlers Literaturlexikon im dtv. Deutscher Taschenbuchverlag München, 1974, B. 13, S. 5641
- ↑ Reinhard Baumgart: Eine Leidenschaft pro Person genügt. DER SPIEGEL 50/1986, 7. Dezember 1986 https://www.spiegel.de/kultur/eine-leidenschaft-pro-person-genuegt-a-a5911595-0002-0001-0000-000013521011?context=issue
- ↑ Reinhard Baumgart: Eine Leidenschaft pro Person genügt. DER SPIEGEL 50/1986, 7. Dezember 1986 https://www.spiegel.de/kultur/eine-leidenschaft-pro-person-genuegt-a-a5911595-0002-0001-0000-000013521011?context=issue
- ↑ Kindlers Literaturlexikon im dtv. Deutscher Taschenbuchverlag München, 1974, B. 13, S. 5641
- ↑ Reinhard Baumgart: Eine Leidenschaft pro Person genügt. DER SPIEGEL 50/1986, 7. Dezember 1986 https://www.spiegel.de/kultur/eine-leidenschaft-pro-person-genuegt-a-a5911595-0002-0001-0000-000013521011?context=issue
- ↑ Julien Green: Leviathan. Carl Hanser Verlag München Wien, 1986, Umschlag, Rückseite.
- ↑ Walter Benjamin: Julien Green. In: Angelus Novus. Frankfurt am Main, 1966, S. 216–222
- ↑ Kindlers Literaturlexikon im dtv. Deutscher Taschenbuchverlag München, 1974, Bd. 13, S. 5641
- ↑ Reinhard Baumgart: Eine Leidenschaft pro Person genügt. DER SPIEGEL 50/1986, 7. Dezember 1986 https://www.spiegel.de/kultur/eine-leidenschaft-pro-person-genuegt-a-a5911595-0002-0001-0000-000013521011?context=issue