Landwehrschenke

Die Landwehrschenke (auch Landwehrschänke) war ein historischer Gasthof im Tal des Leinegrabens am heutigen südlichen Stadtrand von Göttingen (Reinhäuser Landstraße 200). Das Areal gehört zur Feldmark von Geismar, seit 1964 ein Göttinger Ortsteil der Stadt.
Geschichte
Vorgeschichte: Dreckwarte und Ausspann
Zwischen 1380 und 1420 wurde um die Stadt Göttingen herum die Göttinger Landwehr als Verteidigungsanlage errichtet, die man später im Süden um zwei weiter entfernte Landwehren ergänzte.[1] An der nach Süden verlaufenden alten Handelsstraße nach Witzenhausen und Heiligenstadt befand sich eine kontrollierte Durchfahrt mit Schlagbaum und einem rund 12 m[2] hohen Wartturm, die sogenannte „Dreckwarte“.[3][4] In der frühen Neuzeit, als die Landwehr an Bedeutung verlor, entwickelte sich an dieser Stelle der Landwehrkrug „Dreckwarte“ als Gasthof und Ausspann.[5] Im Herbst 1641 allerdings diente die Dreckwarte noch einmal kurz bei Kriegshandlungen und wurde dabei sogar auf einem Gemälde der Belagerung und Beschießung Göttingens durch Truppen der Liga abgebildet.[6]
Die in städtischem Besitz befindliche Schenke wurde 1871 an Louis Aschoff verkauft und etwas später die reste der alten Landwehr im Zuge der Verkoppelung eingeebnet.[5] Der ehemalige Standort der Dreckwarte (etwa 500 m westlich der der heutigen Landwehrschenke) auf freiem Weld an einem Weg und am Landwehrgraben ist seit 2013 durch einen Steinkranz von etwa 5,60 m Durchmesser vom städtischen Bauhof markiert und wird mit einer Informationstafel erläutert.[2][3][4]
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2013 rekonstruierter Steinkranz am Standort der ehemaligen Dreckwarte (2025) -
Informationstafel von 2013 zur Geschichte von Dreckwarte und Göttinger Landwehr -
Lageplan von Dreckwarte und „Warth-Krug“ an der ehemaligen Landstraße (Umzeichnung einer Lagerbuch-Karte der 1740er Jahre auf der örtlichen Informationstafel von 2013)
Standortverlagerung und Ausflugsgaststätte
Ursprünglich verlief die Landstraße etwa 500 Meter weiter westlich in der Nähe sumpfiger Leinewiesen und wurde in einem historisch bisher nicht häher erforschten Zusammenhang nach Osten verlegt, wo sie als Landesstraße 564 von Göttingen schnurgerade nach Süden Richtung Friedland noch heute verläuft.[7][8] Offenbar ist auch das Gasthaus der Landwehrschenke bei dieser ungewöhnlich aufwändigen Maßnahme mit verlagert und neu erbaut worden. Der Zeitpunkt ist ungeklärt: In der entsprechenden Karte der Kurhannoverschen Landesaufnahme von 1784 wird die geplante neue Trasse noch rot gestrichelt als „Allignement der Chaussée auf Heiligenstadt“ dargestellt. Die erste Erwähnung einer neuen Landwehrschenke am jetzige Ort soll 1787 in einer Inventaraufnahme erfolgt sein.[9] Hauptkonkurrenz für den Betrieb war die um 1800 durch die Herren von Hardenberg 1,7 Kilometer südlich an derselben Straße angelegte Garteschenke.[5][10]
Seit dem 18. Jahrhundert diente die neue Landwehrschenke mit Kegelbahn vor allem als Ausflugsziel für die Göttinger, das nach einer guten halben Stunde Spaziergangs zu erreichen war. Obgleich Ludwig Wallis in seinem Stadtführer Der Göttinger Student (1813) wegen „wenig Abwechslung und Unterhaltung“[11] vom studentischen Besuch der Landwehrschenke abriet, ist das Lokal doch im 19. und 20. Jahrhundert vor allem als Studentenlokal bekannt geworden – sogar literarisch: 1820/21 verkehrte der Corpsstudent und später berühmte Dichter und Schriftsteller Heinrich Heine während seiner kurzen Göttinger Studienzeit mit Corpsbrüdern in der Landwehrschenke. In seinen Briefen erwähnte Heine das „Landwehr-Lottchen“ (Charlotte Ludwig)[12], das sich standhaft gegen studentische Frivolitäten zu erwehren wusste, so dass er noch in späteren Lebensjahren diesen für ihn peinlichen Moment erinnerte.[13] Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war eines der Nebengebäude Pauklokal des Göttinger Senioren-Convents, wo die Studentenverbindungen ihre Mensuren ausfochten. Der mit einem hölzernen Bogengewölbe ausgestaltete Pauksaal enthielt eine Biertheke und an den Seiten Tische für jedes der sieben Göttinger Corps sowie für die ebenfalls teilnehmende schwarze Verbindung Lunaburgia. Zur ärztlichen Wundversorgung war ein Flickzimmer vorhanden, in dem die Paukärzte die Schmisse nähten. Die Landwehrschenke blieb bis zum Verbot der Studentenverbindungen durch die Nationalsozialisten 1935 das bevorzugte Pauklokal des Göttinger SC. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg fochten die Göttinger Corps nach der Entscheidung des BGH im Göttinger Mensurenprozess (1953) während der 1950er Jahre wieder bevorzugt auf der Landwehr. Später wurde die Landwehrschenke viele Jahre bis 2019 als Nachtclub („Chateau“[14]) genutzt, aktuell befinden sich dort ein Hotel und eine Spielhalle (Stand Juni 2025[15]).
Beschreibung
Das denkmalgeschützte[16][17] Hauptgebäude der Landwehrschenke ist um 1800[16] als breit gelagerter zweigeschossiger Fachwerkbau unter einem Kurzwalmdach errichtet worden; der Eingangsbereich ist jünger umgebaut.[16] Ein Anbau auf der Nordseite stammt aus der Zeit um 1900,[16] ein weiterer Anbau wurde später wieder abgetragen. Ebenfalls abgetragen wurde von den früheren Gastwirten der mittelalterliche Wartturm und das Material für den Bau von Nebengebäuden verwendet.[5] Hinterm Hauptgebäude befand sich einst ein kleiner Garten mit einer Kegelbahn.[18]
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Landwehrschenke mit vorgelagerter Bank und Baum bestandener Chaussee, Ansicht von Nordosten (nach 1815, Stammbuchblatt von Ernst Ludwig Riepenhausen) -
Blick von Ferne (von Nordwesten) durchs Leinetal mit im Hintergrund der Landwehrschenke, im Vordergrund das Leine-Wehr an der Stegemühle (aquarellierte Radierung von Christian Andreas Besemann, um 1795/1800) -
Landwehrschenke nach erweitertem Dachausbau und Verkleidung der nördlichen Giebelfassade sowie mit verändertem Saalanbau (2009) -
Ansicht von Südosten, mit Landesstraße 564 (2025) -
Nebengebäude mit Pauksaal (um 1895) -
Pauksaal (um 1895)
Sonstiges
Die Landwehrschenke war zeitweilig auch ein Haltepunkt bei km 4,0 der Gartetalbahn, einer Kleinbahn, die von 1897 bis 1959 zwischen Göttingen und Rittmarshausen bzw. Duderstadt verkehrte.[19]
Literatur
- Gerhard Eckhardt: Wo man einst gern eingekehrt – Vergangene Göttinger Gaststätten. Göttingen 2007, S. 149–156.
- Christian Huy: Die Landwehr – das alte Mensurlokal des Göttinger SC. In: Einst und Jetzt, Jahrbuch des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung (VfcG), Band 69, Neustadt an der Aisch 2024, ISBN 978-3-87707-318-6, S. 127 ff.
Einzelnachweise
- ↑ Sven Schütte: Die Befestigungsanlagen der Stadt Göttingen im Mittelalter. In: Klaus Grote, Sven Schütte: Führer zu archäologischen Denkmälern in Deutschland. Band 17: Stadt und Landkreis Göttingen, Konrad Theiss, Stuttgart 1988, ISBN 3-8062-0544-2, S. 142f
- ↑ a b Per Schröter: Schautafel für die Dreckwarte. In: hna.de (Hessisch/Niedersächsische Allgemeine). 19. November 2013, abgerufen am 29. Mai 2025.
- ↑ a b Dreckwarte. In: warttuerme.de. Abgerufen am 29. Mai 2025 (Mit Foto des Steinkranzes).
- ↑ a b Warte Dreckwarte. In: alleburgen.de. 28. November 2020, abgerufen am 29. Mai 2025 (Mit Foto des Steinkranzes).
- ↑ a b c d Vera Lenz: Treuenhagen. Der Stadtteil den es nicht gibt. Verlag Bert Schlender, Göttingen 1984, ISBN 3-88051-078-4, S. 38.
- ↑ Sabine Wehking: A4, Nr. 4. In: DI 66: Lkr. Göttingen. 2006, abgerufen am 29. Mai 2025 (Gemälde im Städtischen Museum Göttingen, Inv. Nr. 1893/35. Die "Dreck Warte" ist mit der Ziffer 28 markiert).
- ↑ Zum Göttinger System der Landwehren und Warten im Verhältnis zum Fernverkehrsnetz vgl. Dietrich Denecke: Göttingen im Netz der mittelalterlichen Verkehrswege. In: Dietrich Denecke, Helga-Maria Kühn (Hrsg.): Göttingen – Geschichte einer Universitätsstadt. Band 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987, ISBN 3-525-36196-3, S. 346–391, hier S. 379 f., dazu Beilage 2 (Karte mit Verlauf der alten und neuen Trasse).
- ↑ Zur Geschichte der Reinhäuser Landstraße vgl. Ewald Dawe: Geismar. Platz der sprudelden Quellen. Band 1. Von den Anfängen bis 1946. Geismar 1987, S. 63.
- ↑ Vera Lenz: Treuenhagen. Der Stadtteil den es nicht gibt. Verlag Bert Schlender, Göttingen 1984, ISBN 3-88051-078-4, S. 38 (ohne Beleg).
- ↑ Gerd Tamke, Rainer Driever: Göttinger Straßennamen. 3. neu überarbeitete, wesentlich erweiterte Auflage, Göttingen 2012 (= Veröffentlichung des Stadtarchivs Göttingen, 2). Digitalisat (PDF) im Internet ohne Seitenzählung, abgerufen am 29. Mai 2025, PDF-Seite 124 (Kapitel „Garteschenke“)
- ↑ Ludwig Wallis: Der Göttinger Student oder Bemerkungen, Rathschläge und Belehrungen über Göttingen und das Studenten-Leben auf der Georgia Augusta. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1813, S. 122. (Digitalisat auf digitale-sammlungen.de, abgerufen am 8. Juni 2025)
- ↑ Göttingen d 4' Merz 1825 (Heine an Eduard Wedekind). In: hhp.uni-trier.de. Abgerufen am 29. Mai 2025.
- ↑ Gerhard Eckhardt: Wo man einst gern eingekehrt – Vergangene Göttinger Gaststätten. Göttingen 2007, S. 150 ff.
- ↑ Eduard Warda: RSV 05 geht beim Sponsoring neue Wege. Göttinger Nachtclub Chateau gehört zu den Investoren. In: goettinger-tageblatt.de. 29. Juli 2009, abgerufen am 30. Mai 2025.
- ↑ „Hotel Geismarburg“ (Link), „Galini Spielhallen“. Vgl. Foto von 2025.
- ↑ a b c d Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Baudenkmale in Niedersachsen, Bd. 5.1 Stadt Göttingen. Bearbeitet von Ilse Rüttgerodt-Riechmann. Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig / Wiesbaden 1982, ISBN 3-528-06203-7, S. 80. (Digitalisat auf digi.ub.uni-heidelberg.de, abgerufen am 29. Mai 2025)
- ↑ Landwehrschänke. In: Denkmalatlas Niedersachsen. Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, abgerufen am 29. Mai 2025.
- ↑ Rolf Wilhelm Brednich: Denkmale der Freundschaft. Göttinger Stammbuchkupfer – Quellen der Kulturgeschichte. Aus den Beständen des Stadtarchivs Göttingen, der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, des Städtischen Museums Göttingen, des Firmenarchivs Wiederholdt Göttingen und des Historischen Museums am Hohen Ufer Hannover. Bremer, Friedland 1997. ISBN 3-98037-831-4, S. 48, Nr. 090.
- ↑ Göttingen - Rittmarshausen. Haltepunkt Landwehrschenke (km 4,0). In: schruft.de. Abgerufen am 29. Mai 2025.
Koordinaten: 51° 30′ 35″ N, 9° 56′ 19″ O