Kulturliberalismus
Der Kulturliberalismus, auch kultureller Liberalismus genannt,[1] ist eine politische Strömung innerhalb des Liberalismus, die den Schwerpunkt auf individuelle Freiheitsrechte im kulturellen, gesellschaftlichen und privaten Bereich legt. Im Gegensatz zum Wirtschaftsliberalismus, der primär ökonomische Fragen in den Vordergrund stellt, betont der Kulturliberalismus Themen wie Meinungsfreiheit, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, sexuelle Selbstbestimmung, Gleichstellung sowie die Akzeptanz gesellschaftlicher Vielfalt.[2] Dabei gilt die Wahrung persönlicher Autonomie und Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensentwürfen als zentrale Leitidee, unabhängig von traditionellen moralischen oder religiösen Normen.[3]
Grundlagen und einflussreiche Perspektiven
Der britische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill, insbesondere in seinem Werk On Liberty (1859), gilt als zentrale Referenz für den kulturellen Liberalismus. Mill argumentierte, dass individuelle Freiheit nicht nur im politischen und wirtschaftlichen Bereich gelten sollte, sondern auch kulturelle, gesellschaftliche und private Sphären umfassen müsse.[4] Jede Person solle souverän über sich selbst, ihren Körper und ihren Geist bestimmen können, und die Gesellschaft habe kein Recht, abweichende Meinungen zu unterdrücken. Er betont dabei ausdrücklich, dass die Gesellschaft nur dann in die Freiheit des Einzelnen eingreifen dürfe, um Schaden für andere zu verhindern.[5] Vielfalt in Lebensweisen und Denkweisen sei entscheidend für gesellschaftlichen Fortschritt. Mills Gedanken bilden die Grundlage für den kulturliberalen Ansatz, der persönliche Autonomie, Toleranz und Pluralität in Kultur und Gesellschaft betont.[6]
Vertreter der Österreichischen Schule der Ökonomie sehen kulturellen Liberalismus als eng mit individueller Freiheit verbunden. Sie betonen, dass persönliche Autonomie in allen Lebensbereichen – wirtschaftlich, politisch und kulturell – entscheidend ist und staatliche Eingriffe in private Entscheidungen, etwa in Fragen von Familie, Sexualität oder Religion, nur begrenzt gerechtfertigt sind. Friedrich August von Hayek etwa beschreibt die Gesellschaft als „Markt der Meinungen“, in dem Ideen, Lebensweisen und kulturelle Ausdrucksformen freiwillig ausgetauscht werden und so die kulturelle Evolution einer Gesellschaft bestimmen.[7] Aus dieser Perspektive ist die Freiheit des Einzelnen die Grundlage für Vielfalt, Toleranz und eine offene Gesellschaft.[8]
Kultureller Liberalismus und Progressivismus
In einigen Ländern, insbesondere in den Vereinigten Staaten, wird Kulturliberalismus oft mit Progressivismus oder „cultural progressivism“ gleichgesetzt. Laut einer Studie, die Unterschiede zwischen Liberalen und Progressiven in den USA untersucht hat, gibt es jedoch bemerkenswerte Differenzen: Progressiven wird demnach eine stärkere Befürwortung unmittelbarer und staatlich verankerter Maßnahmen zur Förderung von Vielfalt zugeschrieben, z. B. durch Quoten („mandated diversity“), ein ausgeprägtes Bewusstsein für kulturelle Aneignung („cultural appropriation“) sowie die Bereitschaft, diskriminierende Meinungen öffentlich zu sanktionieren („public censure“). Liberale dagegen tendieren eher zu inkrementellen Veränderungen und legen größeren Wert auf freie kulturelle Wahl, auch wenn bestehende Ungleichheiten bestehen. Diese Unterschiede legen nahe, dass Kulturliberalismus und kultureller Progressivismus trotz vieler Gemeinsamkeiten nicht vollends synonym verwendet werden können.[9]
Einzelnachweise
- ↑ Kultureller Liberalismus und unsere Antwort. In: Evangelische Allianz Österreich. 5. Juli 2022, abgerufen am 15. September 2025.
- ↑ Vincent Tournier: Cultural Liberalism, Anti-Social Conducts and Authority. The Dynamics of Values and their Effects. In: European Values. Brill, 2017, ISBN 978-90-04-34106-7, S. 29–50 (brill.com [abgerufen am 15. September 2025]).
- ↑ Shaun P. Hargreaves Heap: Classical liberalism on autonomy and diversity: what it means for individual action and society’s institutions. In: Constitutional Political Economy. 28. August 2025, ISSN 1572-9966, doi:10.1007/s10602-025-09483-2.
- ↑ On Liberty/Chapter 1 - Wikisource, the free online library. Abgerufen am 15. September 2025 (englisch).
- ↑ Ben Saunders: Reformulating Mill’s Harm Principle. In: Mind. Band 125, Nr. 500, Oktober 2016, ISSN 0026-4423, S. 1005–1032, doi:10.1093/mind/fzv171 (oup.com [abgerufen am 15. September 2025]).
- ↑ José García Añón: John Stuart Mill’s liberalism on diversity and cultural conflicts. 2007, ISSN 1132-0877 (handle.net [abgerufen am 15. September 2025]).
- ↑ F. A. Hayek: The Use of Knowledge in Society. In: The American Economic Review. Band 35, Nr. 4, 1945, ISSN 0002-8282, S. 519–530, JSTOR:1809376.
- ↑ Austrian Economics and Classical Liberalism. In: Mises Institute. 4. März 2010, abgerufen am 15. September 2025 (englisch).
- ↑ Eric W. Dolan: New study helps pinpoint the key differences between liberals and progressives in the United States. In: PsyPost - Psychology News. 26. August 2022, abgerufen am 15. September 2025 (amerikanisches Englisch).