Klandestine Literatur

Klandestine Literatur bezeichnet Veröffentlichungen, deren Herkunftsmerkmale aus verschiedenen Gründen geheim gehalten oder verschleiert werden, meist mit dem Ziel, Zensurmaßnahmen zu umgehen und/oder die an den Werken Beteiligten vor Verfolgung oder anderen Nachteilen zu schützen. Der Bibliograf Emil Weller verwendet hier auch den Begriff der maskierten Literatur.

Die Verfahren sind entsprechend der bibliografischen Merkmale:

  • Autor: Anonyme oder pseudonyme Veröffentlichung. Pseudepigraphien werden gewöhnlich nicht zur klandestinen Literatur gezählt.
  • Titel: Ein unter einem bestimmten Titel von den Zensurbehörden verbotenes Werk wird unter anderem Titel neu aufgelegt.
  • Verlagsangaben: Fehlende oder falsche Verlagsangaben. Hierher gehören fiktive oder fingierte Erscheinungsorte, wenn zum Beispiel ein Werk laut Titelblatt in Konstantinopel erschienen sein soll, tatsächlich aber in Paris gedruckt wurde. Eine bekannte fingierte Verlagsangabe ist Pierre Marteau, Cologne, beziehungsweise auf Deutsch Peter Hammer, Cölln. In analoger Weise kann auch der Name des Druckers fingiert werden.
  • Erscheinungsjahr: Häufig wurde das Erscheinungsjahr rückdatiert mit dem Ziel, eine tatsächliche Neuerscheinung als ein bereits vor Jahren oder Jahrzehnten veröffentlichtes Werk erscheinen zu lassen.
  • Publikationsform: Die Zensur berücksichtigt häufig nur öffentlich vertriebene Werke. Daher kann durch Publikation eines Werks als Privatdruck, eventuell mit Verteilung innerhalb einer geschlossenen Gruppe, die Zensur umgangen werden. Ein bekanntes Beispiel ist die Übersetzung von Tausendundeine Nacht durch Richard Francis Burton, die als Privatdruck für seinen Freundeskreis publiziert wurde. Erfolgt die Vervielfältigung nicht durch Druck, sondern durch Abschreiben, Durchschlag, Hektografie oder Fotokopie, so entstehen Publikationsformen wie bei der Samisdat-Literatur in der Sowjetunion oder bei Teilen der Underground-Literatur. Eine moderne Variante dieser Publikationsformen ist das Hochladen von E-Books in Schattenbibliotheken. Solche Schriften zählen somit zur grauen Literatur. Bedingt gehören hierher auch Werke, die zwar regulär in Buchverlagen produziert, aber nur an bestimmte Personengruppen (zum Beispiel Ärzte, Juristen und andere Fachwissenschaftler) abgegeben wurden.

Klandestine Literatur im engeren Sinn sind Druckschriften, bei denen Verlag, Drucker und Erscheinungsort fehlen oder fingiert sind.[1]

Die Bedingungen für die Verbreitung klandestiner Literatur veränderten sich stark im Lauf der Zeit und von Land zu Land und bildete sich ab in der Geschichte der Zensur in den einzelnen Nationalstaaten und Gebieten. Was im Ancien Régime verboten war, konnte im revolutionären Frankreich offen publiziert und vertrieben werden und wurde im Frankreich Napoleon Bonapartes nach 1803 wieder verfolgt. Wofür im viktorianischen England nach 1890 ein Verleger mit Gefängnis rechnen musste, konnte in Paris relativ offen produziert werden. Es lag daher für die Verleger nahe, in ein anderes Land mit laxerer Zensur auszuweichen. An wirtschaftlicher Bedeutung gewann ein solches Verfahren allerdings erst, als der Postversand relativ preisgünstig wurde und die schiere Menge der Sendungen eine vollständige Kontrolle unmöglich machte, also etwa ab Ende des 19. Jahrhunderts. Eine besondere Rolle spielte hier die Situation in Großbritannien und Frankreich, die dazu führte, dass eine ganze Reihe von Verlegern, deren prominentester Charles Carrington war, sich in Paris niederließen und von dort aus Bücher per Post nach England und bald auch nach Amerika verschickten. Dieses Verfahren wurde im 20. Jahrhundert fortgesetzt und gewann sogar an literarischer Bedeutung, indem Werke wie der Ulysses von James Joyce oder der Wendekreis des Krebses von Henry Miller, die im angelsächsischen Raum von Zensur betroffen waren, in Paris gedruckt und von dort aus an amerikanische Touristen verkauft oder diskret versandt wurden.[2]

Literatur

Bibliographien

Zu den im Bereich der klandestinen Literatur einschlägigen Bibliografien gehören aufgrund ihres Inhalts auch solche, die Remota-Bestände wie zum Beispiel das Enfer der Bibliothèque nationale de France und der Private Case der British Library oder erotisches beziehungsweise pornografisches Schrifttum allgemein erfassen, wie zum Beispiel die Bibliotheca Germanorum erotica & curiosa, eine umfassende Bibliografie der erotischen Literatur des deutschsprachigen Raumes.

  • Guillaume Apollinaire, Fernand Fleuret, Louis Perceau: L’Enfer de la Bibliothèque nationale. Bibliographie méthodique et critique de tous les ouvrages composant cette célèbre collection. Bibliothèque des Curieux, 1919.
  • Henry Spencer Ashbee [als Pisanus Fraxi]: Index Librorum Prohibitorum : Being Notes Bio- Icono- graphical and Critical, on Curious and Uncommon Books. [Privatdruck] 1877. Nachdruck: Mit einer Einführung von Gershon Legman. Jack Brussel, New York 1962.
  • Henry Spencer Ashbee [als Pisanus Fraxi]: Centuria Librorum Absconditorum : Being Notes Bio- Icono- graphical and Critical, on Curious and Uncommon Books. [Privatdruck] 1879.
  • Henry Spencer Ashbee [als Pisanus Fraxi]: Catena Librorum Tacendorum : Being Notes Bio- Icono- graphical and Critical, on Curious and Uncommon Books. [Privatdruck] 1885.
  • Franz Bayer, Karl Ludwig Leonhardt: Selten und gesucht: Bibliographien und ausgewählte Nachschlagewerke zur erotischen Literatur. Hiersemann, 1993, ISBN 3-7772-9301-6.
  • Jean-Pierre Dutel: Bibliographie des ouvrages érotiques publiées clandestinement en français entre 1880 et 1920. [Selbstverlag], Paris 2002, ISBN 2-9517742-0-6.
  • Jean-Pierre Dutel: Bibliographie des ouvrages érotiques publiés clandestinement en français entre 1920 et 1970. [Selbstverlag], Paris 2005, ISBN 2-9517742-1-4.
  • Jean-Pierre Dutel: Bibliographie des ouvrages érotiques publiés clandestinement en français entre 1650 et 1880. [Selbstverlag], Paris 2009, ISBN 978-2-9517742-2-3.
  • Jules Gay, Jules Lemonnyer: Bibliographie des ouvrages relatifs à l'amour, aux femmes, au mariage, contenant les titres détaillés de ces ouvrages, les noms des auteurs, un aperçu de leur sujet, leur valeur et leur prix dans les ventes, l'indication de ceux qui ont été poursuivis ou qui ont subi des condamnations, etc. 4. Auflage in 4 Bänden. Lemonnyer, Paris 1894-1900.
  • Hugo Hayn: Bibliotheca erotica et curiosa Monacensis. Verzeichniss französischer, italienischer, spanischer, englischer, holländischer und neulateinischer Erotica und Curiosa, von welchen keine deutschen Uebersetzungen bekannt sind. Harrwitz, Berlin 1889.
  • Hugo Hayn, Alfred N. Gotendorf: Bibliotheca Germanorum erotica & curiosa. Verzeichnis der gesamten deutschen erotischen Literatur mit Einschluss der Übersetzung, nebst Beifügung der Originale. 3. Auflage. 8 Bände. Georg Müller, München 1912–1914.
  • Patrick J. Kearney: A Checklist of Additions to the Enfer of the Bibliothèque Nationale De France. Scissors and Paste, 2024 (PDF).
  • Patrick J. Kearney: The Private Case. An Annotated Bibliography of the Private Case Erotica Collection in the British (Museum) Library. Landesman, 1981, ISBN 0-905150-24-4.
  • Gustav Friedrich Klemm: Verzeichniß einer Sammlung gut gehaltener, größtentheils sehr seltener erotischer und sotadischer Schriften, welche unter nachstehenden Bedingungen bis zum 1sten Juni d. J. verkauft werden sollen. Walther, Dresden 1834 (Auktionskatalog der Erotica-Sammlung von Karl Gottlob Günther).
  • Thomas Liebenzell: Smut in the British Library. Register zu Kearneys Private Case. Bell, Hamburg 1986, ISBN 3-923308-53-1.
  • Peter Mendes: Clandestine Erotic Fiction in English, 1800–1930. Routledge, 1993, ISBN 0-85967-919-5.
  • Pascal Pia: Les Livres de l'Enfer. Bibliographie critique des ouvrages érotiques dans leurs différentes éditions du XVIe siècle à nos jours. Coulet & Faure, 1978, ISBN 2-902687-01-X.
  • Alfred Rose: Registrum Librorum Eroticorum vel (sub hac specie) dubiorum. Opus bibliographicum et praecipue bibliothecariis destinatum. Privatdruck, London 1936. 2. Auflage unter dem Titel: Register of Eotic Books. 2 Bände. Jack Brussel, New York 1965 (erfasst Bestände des Private Case der British Library; die erste Auflage erschien unter dem Pseudonym Rolf S. Reade).
  • Emil Weller: Die maskirte Literatur der älteren und neueren Sprachen. I. Index Pseudonymorum. Falcke & Rössler, Leipzig 1856, Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D%7B%7B%7B1%7D%7D%7D~GB%3DAxoCAAAAQAAJ~IA%3D~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D.
  • Emil Weller: Die falschen und fingierten Druckorte. Repertorium der seit Erfindung der Buchdruckerkunst unter falscher Firma erschienenen deutschen Schriften. Zugleich als der „maskirten Literatur“ zweiter Theil. Falcke & Rössler, Leipzig 1858, Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D%7B%7B%7B1%7D%7D%7D~GB%3DywVBAAAAcAAJ~IA%3D~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage: Engelmann, Leipzig 1864, Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D%7B%7B%7B1%7D%7D%7D~GB%3D~IA%3Ddiefalschenundf01wellgoog~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D.
Sonstige Literatur
  • Robert Darnton: The Forbidden Best-Sellers of Pre-Revolutionary France. Norton, 1995, ISBN 0-393-03720-7.
  • Colette Colligan: A Publisher's Paradise : Expatriate Literary Culture in Paris, 1890-1960. University of Massachusetts Press, 2014, ISBN 978-1-62534-038-2.
  • Gordon Grimley: Wicked Victorians. An Anthology of Clandestine Literature of the 19th Century. Odyssey Press, 1970.
  • Kassiber. Verbotenes Schreiben. Zur gleichnamigen Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar, 27. September 2012 bis 27. Januar 2013. Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2012, ISBN 978-3-937384-83-2.
  • Stephan Kellner, Wolfgang Ernst: Der „Giftschrank“: Erotik, Sexualwissenschaft, Politik und Literatur – „Remota“ : Die weggesperrten Bücher der Bayerischen Staatsbibliothek. Eine Ausstellung der Bayerischen Staatsbibliothek München, 2. Oktober – 17. Dezember 2002. Ausstellungskatalog Bayerische Staatsbibliothek, München 2002, ISBN 3-9802700-9-2.
  • Annie Stora-Lamarre: L’Enfer de la IIIe République: censeurs et pornographes, 1881–1914. Imago, Paris 1989.

Einzelnachweise

  1. Peter Mendes: Clandestine Erotic Fiction in English, 1800-1930. Routledge, 1993, S. vii.
  2. Colette Colligan: A Publisher's Paradise : Expatriate Literary Culture in Paris, 1890-1960. 2014. insbesondere Kapitel 1 Und 2.