Kinetoscope Fakes

Die Kinetoscope Fakes sind eine kurz nach den Aufnahmen vernichtete Filmkomödie des US-amerikanischen Blackface Lew Dockstader aus dem Jahr 1904. Die Kamera führte Edwin S. Porter. Die Aufnahmen fanden vor dem Kapitol in Washington, D.C. statt und führten zu einem politischen Skandal um den US-Präsidenten Theodore Roosevelt und den afroamerikanischen Sozialreformer und politischen Berater Booker T. Washington.

Roosevelt, 1901
Booker T. Washington, 1895

Hintergrund

Politische Situation

In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts gehörten die Fragen der Rassengleichheit und der Bürgerrechte für Afroamerikaner zu den bestimmenden Themen der US-amerikanischen Innenpolitik. Die Rassenpolitik Roosevelts war widersprüchlich und brachte ihn wiederholt in Konflikt mit Vertretern und Unterstützern der Schwarzen und der Weißen. Politische Beobachter warfen Roosevelt vor, dass er die Rassenfrage überhaupt auf die Tagesordnung gebracht hat, anstatt sich einer Beteiligung zu enthalten.[1]

Tatsächlich hatte Roosevelts die Auffassung, dass die Englisch sprechenden Völker den übrigen überlegen seien. Es sei die Aufgabe der stärkeren Völker, den schwächeren beizustehen und sie zur Zivilisation anzuleiten. In seinem Weltbild gehörten die Afroamerikaner zu den schwachen Rassen. In einem Brief an Henry Hamilton Johnston bezeichnete er 1908 die Afrikaner als äußerst unterentwickelte Rasse (most utterly underdeveloped race), er unterstellte ihnen in anderen Briefen Faulheit und Unzuverlässigkeit (laziness and shiftlessness), und er trat für die Rassentrennung ein (race purity must be maintained).[1]

Cover des Minstrel Gwine to Change dat White House Black, 1903. Eine lange Reihe festlich gekleideter Afroamerikaner mit Eimern schwarzer Farbe auf dem Weg zum Weißen Haus.

Booker T. Washington im Weißen Haus

Im Oktober 1901 lud Roosevelt den afroamerikanischen Sozialreformer und Bürgerrechtler Booker T. Washington zu einem Arbeitstreffen ein. Als dieser am 16. Oktober in Washington eintraf fand er eine Einladung Roosevelts zum Essen im Weißen Haus vor. Nach dem Abendessen mit der Familie Roosevelt und einem weiteren Gast verbrachten Roosevelt und Washington den Abend mit einem langen Gespräch über politische Themen. Am späten Abend verließ Washington das Weiße Haus und fuhr mit dem Zug nach New York.[2]

Reporter der Hauptstadt hatten den Namen Washingtons auf der Gästeliste des Weißen Hauses entdeckt und knapp berichtet, dass Booker T. Washington aus Tuskegee, Alabama, am vergangenen Abend mit dem Präsidenten gegessen hat.[2] Die Südstaatenpresse hingegen kritisierte das Verhalten Roosevelts heftig. Dabei wurde Washingtons Einfluss auf Roosevelt maßlos überzeichnet. Der in New Orleans erscheinende Times Democrat warf Roosevelt vor, sein Abendessen mit einem Afroamerikaner würde diesen mit dem weißen Mann sozial gleichstellen. Die Daily States, ebenfalls in New Orleans, bezeichneten den Akt als gezielte Beleidigung des Südens. Weitere Kommentare erklärten - in Anspielung auf die rassistische Ideologie White Supremacy - Rooseveltism means nigger supremacy, schimpften Roosevelt den schlimmsten Feind der weißen Rasse oder erklärten, kein Präsident dieses oder eines anderen Staates könne die von Gott errichtete Schranke zwischen den Rassen überwinden.[3] Das Abendessen wurde sogar als Auslöser von Rassenunruhen in Louisiana Ende Oktober 1901 betrachtet, bei denen elf Menschen getöter wurden.[4]

Roosevelts Reaktion

Roosevelt reagierte erschüttert und empört auf die Kritik. Er werde einen Mann niemals nach seiner Hautfarbe beurteilen und Washington so oft zum Abendessen einladen wie es ihm gefiele. Tatsächlich hat er nie wieder einen Afroamerikaner zum Essen in das Weiße Haus eingeladen und Jahre später die Einladung als Fehler bezeichnet. Washington blieb jedoch informeller Berater Roosevelts.[5]

Es folgten Auseinandersetzungen Roosevelts mit einer Gruppierung in seiner Partei, der rassistischen Lily-White-Bewegung, die sich bis zur Präsidentschaftswahl im November 1904 hinzogen. Dabei ging es immer wieder um die Besetzung von Ämtern in Staat und Partei mit Afroamerikanern oder um den Ausschluss demokratischer Bewerber. Letztlich bestimmte Roosevelts umstrittene Rassenpolitik sein Bild in der Öffentlichkeit der Südstaaten.[6]

Lew Dockstader als Blackface, 1902

Lew Dockstader

Lew Dockstader war Direktor einer Minstrel Show, in der er selbst als Blackface auftrat. Auch die parodistische Imitation von Politikern in Form langer Monologe gehörte zu seinem Standard-Repertoire, und er konnte in der Vergangenheit als Benjamin Harrison und Grover Cleveland sein Publikum begeistern. Auch Theodore Roosevelt wurde bereits früh von Dockstader parodiert. Seine Statur ähnelte der des Präsidenten und er konnte dessen Mimik und Gestik gut imitieren.[7] Seine ersten Monologe thematisierten Roosevelts Dienst als Rough Rider im Spanisch-Amerikanischen Krieg. Dockstader zeigte Roosevelt so, wie ein großer Teil der Bevölkerung ihn wahrnahm.[8]

Der Niedergang der Minstrel Shows und die zunehmende Bedeutung des Kinos ließen Dockstader um seine Zukunft fürchten. Kurze Filmsequenzen wurden bereits im Vaudeville zwischen den Nummern gezeigt. Im Herbst 1903 war Edwin S. Porter mit seinem Western Der große Eisenbahnraub an den Kinokassen erfolgreich. Mitte Mai 1904 fuhr Dockstader mit seiner Truppe nach Washington, um dort einen Kurzfilm zu drehen. Als Kameramann und Aufnahmeleiter wurde Edwin S. Porter verpflichtet. Die Dreharbeiten verzögerten sich wegen des regnerischen Wetters um mehrere Tage.[8]

Kapitol der Vereinigten Staaten, Ort der Aufnahme, 1906

Aufnahmen

Gegen 8:00 Uhr am Morgen des 19. Mai 1904, einem Donnerstag, fanden die Filmaufnahmen vor dem Kapitol der Vereinigten Staaten statt. Lew Dockstader, das Gesicht schwarz geschminkt, stellte in einem Sketch Booker T. Washington dar. Harry Ellis, ein Mitglied seiner Truppe, verkörperte Roosevelt in Gehrock und Zylinder:[9]

„Washington“ torkelte wie betrunken über den Gehweg, drehte sich mehrmals um sich selbst und stürzte dann zu Boden. In diesem Augenblick fuhr eine Victoria vor, der Kutscher und ein Begleiter wie Bedienstete des Weißen Hauses gekleidet und mit blauen, roten und weißen Kokarden geschmückt. „Roosevelt“ entstieg der Kutsche, zeigte der Kamera sein bekanntes breites Lachen, und kümmerte sich um den Hilflosen. Er half „Washington“ auf die Füße, führte ihn zur Kutsche, half ihm beim Einsteigen, gab ihm eine Zigarre und Feuer, verbeugte sich dabei mehrmals tief und setzte sich schließlich neben ihn. Bei der Abfahrt umarmten beide einander herzlich.[9]

Die Aufnahme wurde zweimal wiederholt.[7] Am späten Vormittag verließ die Truppe Washington mit dem Ziel New York.[9]

Reaktionen

Zahlreiche Regierungsmitarbeiter und mindestens ein Polizeibeamter wurden Zeugen der Aufnahmen. Einige der Augenzeugen hatten nicht wahrgenommen, dass es sich um eine gestellte Szene mit Schauspielern gehandelt hat. Die Neuigkeit machte rasch die Runde und selbst die Klarstellung seines Sprechers, der zufolge Roosevelt am Vormittag nicht außerhalb des Weißen Hauses unterwegs war, konnte nicht überzeugen. Bereits am Nachmittag berichteten mehrere Zeitungen der Stadt über das Ereignis. Eine der absurdesten Darstellungen war, dass die Demokratische Partei Dockstader 4 Millionen US-Dollar gezahlt habe, um den Film während des bevorstehenden Präsidentschafts-Wahlkampfs als „Beweis“ für Roosevelts Streben nach Rassengleichheit zu verwenden.[10]

Fahndung nach Dockstader und Zerstörung des Films

Auch Mitarbeiter des Weißen Hauses befürchteten, die Aufnahmen seien Teil eines Komplotts der politischen Gegner, um Roosevelt im Vorwahlkampf zu diskreditieren. Sein Stabschef William Loeb jr. informierte die Polizei der Hauptstadt, die unter der persönlichen Leitung des Polizeichefs Richard H. Sylvester nach Dockstader fahndete. Sylvester befragte zunächst den Polizeibeamten, der Zeuge der Aufnahmen war, und erteilte ihm eine scharfe Rüge wegen seiner Untätigkeit. Nach Rücksprache mit dem Justizministerium gelangte er zu der Auffassung, dass eine Strafverfolgung wegen ungebührlichen Betragens oder Verstoßes gegen das Versammlungsrecht möglich sei. Die Nachricht, dass Dockstader bereits die Stadt verlassen hat, heizte die Spekulationen um die möglichen Hintergründe der Aufnahmen weiter an.[10]

Angesehenen Journalisten zufolge befand sich Roosevelt in großer Aufregung. Noch am Abend des 19. Mai rief er seine wichtigsten Berater zusammen, um die Lage zu erörtern. Anschließend beauftragte er den United States Secret Service mit der Unterstützung der Polizei. Nachdem Dockstaders Aufenthaltsort ermittelt war, wurde der Ermittler T. P. Hartigan nach New York geschickt. Er kam am frühen Morgen des 20. Mai dort an und besprach mit dem New York City Police Commissioner William McAdoo den Ernst der Lage.[10]

Dockstader wurde in seinem Hotelzimmer festgenommen und von McAdoo und Hartigan im Büro des Commissioners verhört. Er bestritt vehement jegliche politische Motivation und jede Zusammenarbeit mit der Demokratischen Partei oder einem anderen Auftraggeber. Mit seinem Auftreten als Blackface habe er keineswegs Booker T. Washington imitieren wollen. Vielmehr seien die Aufnahmen nur als einer unter mehreren Filmen gedacht, mit denen er in der kommenden Herbstsaison seine Bühnenmonologe begleiten wolle. Es habe ihm fern gelegen, gegenüber dem Präsidenten respektlos aufzutreten.[7][10]

Dockstader übergab den Film Hartigan, der damit eilig nach Washington zurückkehrte. Am folgenden Tag riss Richard H. Sylvester den Film in kleine Stücke und verbrannte sie.[10] Einer anderen Darstellung zufolge wurde nur eine unbelichtete Filmrolle übergeben. Das Original wurde von Porter entwickelt und in einem Schrank aufbewahrt, fiel aber etwa zehn Jahre später tatsächlich einem Brand zum Opfer.[11]

Medienecho

Die Angelegenheit wurde in der Presse ausgiebig erörtert und gelangte auf die Titelseiten. Ungeachtet der tatsächlichen oder vorgeblichen Absichten Dockstaders hatte er die Erinnerung an Booker T. Washingtons Abendessen im Weißen Haus erwachen lassen. Der Richmond Times-Dispatch schrieb, dieses Abendessen sei noch ein aktuelles Thema und werde hoffentlich im bevorstehenden Wahlkampf eine Rolle spielen. Der Brooklyn Eagle urteilte, Dockstaders größte Sünde sei gewesen, dass er im ungeeigneten Moment die Erinnerung an Roosevelts „sonderbare und anhaltende Zuneigung zu dem finsteren Ableger des krausköpfigen Senegambiers“ (strange and abiding affection for the dusky offshoot of the wooly headed Senegambian) wachgerufen habe. In mehreren Leitartikeln wurde der Fall Dockstader zum Anlass genommen, Roosevelts Rassenpolitik insgesamt anzugreifen.[12]

The New York Times stellte die polizeilichen Maßnahmen und die Zerstörung der Filmaufnahmen als einen Akt der Zensur in den Vordergrund. Für andere waren die erneute Belebung des Streits um die Bürgerrechte der Afroamerikaner und das autokratische Auftreten Roosevelts aus Anlass einer „Majestätsbeleidigung“ das Hauptthema.[12]

Das Roosevelt nahe stehende New Yorker Wochenmagazin The Independent titelte Kinetoscope Fakes und prägte damit den Begriff, mit dem die Affäre seither bezeichnet wird.[12] Dabei stand Kinetoscope nicht für das Kinetoskop, sondern für die darauf zurückgehende Marke der Edison Manufacturing Company, die zum Gattungsnamen geworden war. Edwin S. Porter war als Regisseur, Drehbuchautor und Kameramann bei den Edison Studios angestellt, war aber nicht im Auftrag seines Arbeitgebers an den Kinetoscope Fakes beteiligt. The Independent warnte auch als eine der ersten Publikationen vor der Täuschung der Bürger durch eine neue Form der Propaganda, wie sie die Filmtechnik möglich mache.[12]

Andere Blätter aus dem Lager Roosevelts konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf Dockstader. Der Washington Evening Star hielt Politiker, sollten sie hinter der Affäre stecken, schlicht für dumm und einfältig. Dockstader als möglicher Verantwortlicher habe hingegen seinen Scherz schlecht bedacht. Sein Geschäftsmodell sei der Sambo (ein seinerzeit gebräuchlicher rassistischer Begriff für Afroamerikaner, hier auf das Blackfacing Dockstaders bezogen), und er käme ihm näher als der Präsident es jemals gewesen sei und jemals würde. Die Umstände der Aufnahmen wiesen auf die Absicht hin, den Präsidenten herabzuwürdigen. Dieses Verhalten sei strafwürdig.[12]

Nachgang

Über die tagesaktuelle Berichterstattung hinaus hatten die Kinetoscope Fakes keine Bedeutung. In den Südstaaten, in denen das Streben nach dem Erhalt der White Supremacy auch ohne die Erinnerung an das Dinner mit Booker T. Washington auf der Agenda war, wirkten sie sich nicht zusätzlich aus. Roosevelt, der als Vizepräsident nach der Ermordung William McKinleys zum Präsidenten aufgestiegen war, konnte seinen ersten eigenen Präsidentschaftswahlkampf im November 1904 deutlich für sich entscheiden.[13]

Die Kinetoscope Fakes waren im politischen Leben eine der vielen schnell vergessenen Episoden, die Roosevelts Gegnern Anlass gaben, ihn als machtbesessenen politischen Heuchler darzustellen. Für Dockstader und seine Minstrel-Show bewirkte die öffentliche Aufmerksamkeit eine Nachfrage, von der er über Jahre zehren konnte. Er parodierte Roosevelt weiterhin in seinen Bühnenmonologen. 1909, kurz vor dem Ende von Roosevelts Präsidentschaft und mit Blick auf die bevorstehende Smithsonian-Roosevelt African Expedition, stellte er Roosevelt bei der Abreise zur Großwildjagd in Afrika dar. Roosevelt besuchte eine der Vorstellungen und lachte herzlich über die Darbietung.[13] Noch im November 1924 überschrieb die New York Times einen Nachruf mit Dockstadter Made America Laugh (Dockstadter brachte Amerika zum Lachen).[14]

Einzelnachweise

  1. a b Seth M. Scheiner: Theodore Roosevelt and the Negro, 1901-1908. In: Association for the Study of African American Life and History (Hrsg.): The Journal of Negro History. Band 47, Nr. 3, Juli 1962, S. 169–182, JSTOR:2716500 (hier S. 169-171).
  2. a b Dewey W. Grantham, Jr.: Dinner at the White House: Theodore Roosevelt, Booker T. Washington, and the South. In: Tennessee Historical Quarterly. Band 17, Nr. 2, Juni 1958, S. 112–130, JSTOR:42621372 (hier S. 114-115).
  3. Dewey W. Grantham, Jr.: Dinner at the White House: Theodore Roosevelt, Booker T. Washington, and the South. (hier S. 115-120).
  4. Dewey W. Grantham, Jr.: Dinner at the White House: Theodore Roosevelt, Booker T. Washington, and the South. (hier S. 120-122).
  5. Dewey W. Grantham, Jr.: Dinner at the White House: Theodore Roosevelt, Booker T. Washington, and the South. (hier S. 125-128).
  6. Seth M. Scheiner: Theodore Roosevelt and the Negro, 1901-1908. (hier S. 172-177).
  7. a b c Washington Police Seize bogus Roosevelt Films. Minstrel Denies intention to Stir Up the Negro Question. In: The New York Times. 21. Mai 1904, S. 9.
  8. a b Willard B. Gatewood: Theodore Roosevelt and the ‘Kinetoscope Fakes’: An Incident in the Campaign of 1904. In: Mid-America. Band 49, 1967, S. 190–199 (hier S. 190-192).
  9. a b c Willard B. Gatewood: Theodore Roosevelt and the ‘Kinetoscope Fakes’. (hier S. 192-193).
  10. a b c d e Willard B. Gatewood: Theodore Roosevelt and the ‘Kinetoscope Fakes’. (hier S. 193-196).
  11. Terry Ramsaye: A Million and One Nights: A History of the Motion Picture. Taylor and Francis, Hoboken, NJ 2012, ISBN 978-1-136-24737-8, S. 434–439 (hier S. 439).
  12. a b c d e Willard B. Gatewood: Theodore Roosevelt and the ‘Kinetoscope Fakes’. (hier S. 196-198).
  13. a b Willard B. Gatewood: Theodore Roosevelt and the ‘Kinetoscope Fakes’. (hier S. 198-199).
  14. Dockstader Made America Laugh; Great Minstrel's Coat and Shoes Were Broad, and So Were His Jokes. In: The New York Times. 2. November 1924, XX, S. 2 (nytimes.com [abgerufen am 5. September 2025]).