Kinderhymne
Die Kinderhymne (Anmut sparet nicht noch Mühe) ist ein Gedicht Bertolt Brechts aus dem Jahr 1950,[1] das erstmals im Heft 6/1950 der Zeitschrift Sinn und Form erschien. Es wurde im Herbst desselben Jahres von Hanns Eisler vertont.[2]
Entstehung
Die Kinderhymne war eines von sechs Liedern aus einem Kinderliedzyklus, der Brecht und Eisler nach längerer Pause wieder zusammenfinden ließ. Sie wurde später auch von Leo Spies, Fidelio F. Finke[3] und von Kurt Schwaen[4] vertont.
Der Anlass zur Brechtschen Dichtung, die zunächst den Titel Hymne/Festlied trug, war der Vorstoß Konrad Adenauers, der am 15. April 1950 auf einer öffentlichen Versammlung in West-Berlin die dritte Strophe des Deutschlandlieds singen ließ. Brecht schrieb seine Hymne bewusst als Gegenstück zum Deutschlandlied, das seiner Meinung nach durch den Ersten Weltkrieg und den Nationalsozialismus korrumpiert war.
Die Kinderhymne ist jedoch auch ein Gegenstück zu Johannes R. Bechers Text der Nationalhymne der DDR (Auferstanden aus Ruinen), der im Auftrag der SED im Oktober 1949 entstanden war. Brechts Text stellt – trotz einiger inhaltlicher Bezugnahmen – den pathetischen Formulierungen Bechers eine einfache, wenn auch präzise gewählte Diktion gegenüber.
Inhalt
Der Anfangsvers der ersten Strophe Anmut sparet nicht noch Mühe richtet sich an die junge Nachkriegsgeneration. Hier wird ein bewusster Kontrapunkt zu Bechers poetisch unglücklichem Eingangsvers Auferstanden aus Ruinen gesetzt.
In der dritten Strophe spielt Brecht auf den Eingangsvers aus der ersten Strophe des Deutschlandliedes an, wobei er dessen Aussage negativ konnotiert: „Und nicht über / und nicht unter / andern Völkern wolln wir sein“ (im Deutschlandlied: „Deutschland, Deutschland über alles / über alles in der Welt“). Der Historiker Klaus-Rüdiger Mai weist auf den Umstand hin, dass Brecht hierbei die Formulierung „Über alles“ bewusst missversteht.[5] Es handle sich bei der suggestiven Formulierung um ein typisches Stilmittel von Brecht.
Der Reim „Von der See bis zu den Alpen / Von der Oder bis zum Rhein“ (im Deutschlandlied: „Von der Maas bis an die Memel / Von der Etsch bis an den Belt“) nimmt die neuen politischen Realitäten nach dem Zweiten Weltkrieg in den Blick.[6] Wenn man je zwei der vier Strophen der Kinderhymne zu einer zusammenfasst, entspricht ihr Versmaß exakt dem des Deutschlandliedes und nahezu dem der Nationalhymne der DDR. Alle drei Texte können daher (mit einer kleinen Abweichung am Strophenende der DDR-Hymne) auch auf die Melodien der jeweils anderen gesungen werden.
Der Politikwissenschaftler Iring Fetscher charakterisierte die Kinderhymne wie folgt: „… es gibt wohl keine Hymne, die die Liebe zum eigenen Land so schön, so rational, so kritisch begründet, und keine, die mit so versöhnlichen Zeilen endet.“[7]
Bezüge in der Kunst
Die Zeile Daß ein gutes Deutschland blühe diente 1960 als Titel eines propagandistischen DEFA-Dokumentarfilms.[8]
Der Anfangsvers des Liedes, Anmut sparet nicht noch Mühe, war Titel des 1979 erschienenen Teils der Langzeitdokumentation Die Kinder von Golzow.[9]
Diskussion zur Verwendung als Hymne
In der Zeit der Wiedervereinigung 1990 setzten sich einige Bürgerinitiativen und verschiedene Medien für die Kinderhymne als neue deutsche Nationalhymne ein.[10] Stefan Heym zitierte sie zur feierlichen Eröffnung des 13. Deutschen Bundestages im November 1994.[11] Auch Peter Sodann sprach sich, kurz nachdem er von der Linkspartei zur Wahl 2009 für das Amt des Bundespräsidenten nominiert wurde, für die Kinderhymne als deutsche Nationalhymne aus.
Der Schweizer Philosoph Elmar Holenstein hat im Jahr 2015 die Kinderhymne als eine mögliche Nationalhymne für die Schweiz abgeändert. Dabei hat er die zweite Strophe weggelassen und einige Anpassungen, einschließlich des Austauschs mehrerer Begriffe, vorgenommen.[4] Literarisch rezipiert wurde diese Version in dem Roman Vom Ende einer Rütlifahrt von Rolf Käppeli aus dem Jahr 2021, der im Jahr 1944 in der Schweiz spielt; hier wird sie von einer couragierten Kindergärtnerin auf dem Rütli, dem legendären Gründungsort der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vorgetragen.[12][13]
Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow schlug 2025 in einem Interview den Text der Kinderhymne als Alternative zum Deutschlandlied für eine Abstimmung vor, da seiner Ansicht nach viele Menschen in Ostdeutschland die Hymne nicht mitsängen.[14] Unklar blieb dabei, wie er eine solche Kompetenzverlagerung begründet, da die Nationalhymne gemäß Grundgesetz nicht per Volksabstimmung festgelegt wird. Während das Grundgesetz ein Wappen und eine Flagge vorschreibt, schweigt sich die Verfassung zur Nationalhymne aus. Die Hymne wurde nicht durch den üblichen Gesetzgebungsprozess beschlossen und bestätigt, sondern durch einen Austausch offener Briefe zwischen Kanzler und Präsident (Konrad Adenauer und Theodor Heuss in den Anfangsjahren Westdeutschlands und Helmut Kohl in seinem Brief an Richard von Weizsäcker nach der Wiedervereinigung). Es ist daher unklar, welcher Akt – wenn überhaupt – die Kinderhymne zur deutschen Nationalhymne machen könnte.
Literatur
- Sabine Schutte: Nationalhymnen und ihre Verarbeitung. Zur Funktion musikalischer Zitate und Anklänge. In: Hanns Eisler (= Argument-Sonderbände. AS 5). Berlin 1979, S. 208–217 (docplayer.org).
- Thomas Naumann: Anmut sparet nicht. Deutsche Hymnen. In: Berliner Lese-Zeichen. Literaturzeitung. Ausgabe 10/2000. Edition Luisenstadt, Berlin 2000, ISSN 0945-0106 (mit einem Faksimile des von Brecht handschriftlich korrigierten Typoskripts; berlingeschichte.de).
- Gerhard Müller: Lieder der Deutschen. Brechts „Kinderhymne“ als Gegenentwurf zum „Deutschlandlied“ und zur „Becher-Hymne“. In: Dreigroschenheft. 17. Jg., Heft 1. Wißner-Verlag, 2010, ISSN 0949-8028, S. 18–29 (Online-Version [PDF; 5,9 MB] – der vollständige Text der Hymne ist auf S. 19, rechte Spalte, zitiert; der Beginn der zweiten Strophe lautet korrigiert: „Daß die Völker nicht erbleichen“).
Weblinks
- Felicitas Söhner: Nationalsymbole und Pathos in Deutschland – Bert Brechts Kinderhymne. In: globkult.de. 4. Juli 2010.
- Constantart: Hanns Eisler singt die Kinderhymne von Bertolt Brecht auf YouTube, 27. Juni 2009 (deutsch; mit Textanzeige; Laufzeit: 1:52 min).
- yaraslau: Kinderhymne – Bertolt Brecht auf YouTube, 19. Mai 2008 (englisch; modernere Gesangsversion unter Mitwirkung von Kindern; Laufzeit: 1:37 min).
- Text. In: deutschelyrik.de
Einzelnachweise
- ↑ Bertolt Brecht: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 3. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, OCLC 632588583, S. 507.
- ↑ Hanns Eisler: Lieder und Kantaten. Band 1. VEB Breitkopf & Härtel Musikverlag, Leipzig [1955], DNB 1007297786, S. 8–9.
- ↑ Wer möchte nicht im Leben bleiben. DDR-Friedenslieder. CD-Cover. B. T. Music, Berlin 2003, DNB 358532655, urn:nbn:de:101:1-201404138412.
- ↑ a b Elmar Holenstein: Ein neues patriotisches Lied für die Schweiz – Ausgehend von Bertolt Brechts Kinderhymne. Essay. In: schweizermonat.ch, April 2015, abgerufen am 22. Mai 2025.
- ↑ Klaus-Rüdiger Mai: Darf’s auch eine Stalin-Ode sein, Genosse Ramelow? In: Tichys Einblick. 29. August 2025, abgerufen am 12. September 2025 (deutsch).
- ↑ Thomas Naumann: Anmut sparet nicht. Deutsche Hymnen. In: Berliner Lese-Zeichen. Literaturzeitung. Ausgabe 10/2000. Edition Luisenstadt, Berlin 2000, ISSN 0945-0106 (mit einem Faksimile des von Brecht handschriftlich korrigierten Typoskripts; berlingeschichte.de, abgerufen am 6. September 2025).
- ↑ Iring Fetscher: Bertolt Brecht: Kinderhymne. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Band 2. Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-458-05023-X, S. 159.
- ↑ „Daß ein gutes Deutschland blühe“. Ein DEFA-Farbfilm über 10 Jahre Aufbau in der DDR. In: Neues Deutschland. 6. März 1960, S. 5 (nd-archiv.de – zugangsbeschränkt).
- ↑ Anmut sparet nicht noch Mühe. Filmmuseum Potsdam, 5. Juli 2020, abgerufen am 26. Juli 2025.
- ↑ B. Markmeyer: Das Proletariat hat eine neue Hymne. In: taz. die tageszeitung. 6. Oktober 1990, S. 5 (taz.de).
- ↑ Helmut Herles, Ekkehard Kohrs: Die „Heym-Suchung“ im Reichstag. In: General-Anzeiger. 11. November 1994, S. 3.
- ↑ Rolf Käppeli: Vom Ende einer Rütlifahrt. Roman. Gmeiner-Verlag, Meßkirch 2021, ISBN 978-3-8392-6856-8, Kap. 13 (Leseprobe in der Google-Buchsuche).
- ↑ Rolf Käppeli: Vom Ende einer Rütlifahrt. In: dnb.de, Deutsche Nationalbibliothek, abgerufen am 22. Mai 2025 (Verlagsbeschreibung des Buches).
- ↑ Bodo Ramelow für neue deutsche Nationalhymne – Was er vorschlägt. In: waz.de. 29. August 2025, abgerufen am 29. August 2025.