Kernbereichslehre
Der Begriff Kernbereichslehre bezeichnet im deutschen Recht eine in verschiedenen Rechtsgebieten in ähnlicher Form angewandte Rechtstheorie. Im Gesellschaftsrecht bezeichnet sie den Umstand, dass bestimmte mitgliedschaftliche Rechte der Gesellschafter der Disposition der (übrigen) Gesellschafter entzogen sind. Im Familienrecht bezeichnet der Begriff die Theorie, dass die gesetzlichen Regelungen zu den Folgen einer Ehescheidung im Bürgerlichen Gesetzbuch einen Kernbereich enthalten, der nicht durch Ehevertrag abbedungen werden kann. Im Verfassungsrecht wird der Begriff synonym zum Begriff der Wesensgehaltsgarantie verwendet, die in Art. 19 Grundgesetz verankert ist. Demnach wohnt jedem Grundrecht ein unantastbarer Kern inne, der Eingriffen durch staatliches Handeln entzogen ist.
Gesellschaftsrecht
Die Gründung einer Gesellschaft dient nach deutschem Recht dem rechtsverbindlichen Zusammenschluss mehrerer Personen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks.[1] Durch die Gründung erwirbt jeder Gesellschafter mitgliedschaftliche Rechte, deren Inhalt sich aus den gesetzlichen Regelungen zu den einzelnen Gesellschaftsformen und dem Gesellschaftsvertrag ergibt.[2] Da es den Gesellschaftern grundsätzlich frei steht, ihr Verhältnis untereinander (Innenverhältnis) weitestgehend frei zu gestalten (§ 708 BGB, § 108 HGB, § 45 GmbHG, § 23 AktG), können die Gesellschafter auch die ihnen jeweils zustehenden Rechte im Gesellschaftsvertrag einschränken oder solche Einschränkungen durch Mehrheitsbeschluss nachträglich herbeiführen (in den Personengesellschaften, GbR, OHG, KG, jedenfalls dann, wenn die Geltung des Mehrheitsprinzips anstelle des gesetzlich vorgesehenen Einstimmigkeitsprinzips im Gesellschaftsvertrag vereinbart wurde).
Sowohl im Hinblick auf etwaige Änderungen des Gesellschaftsvertrags als auch auf die Fassung von bindenden Mehrheitsbeschlüssen ist hierbei der Kernbereich der mitgliedschaftlichen Rechte zu beachten, der sich teilweise unmittelbar aus gesetzlichen Bestimmungen ergibt und teilweise durch gerichtliche Entscheidungen herausgearbeitet wurde.[3] Eingriffe in diesen Kernbereich sind nicht ohne Zustimmung des betroffenen Gesellschafters, teilweise selbst mit dessen Zustimmung nicht möglich.
Welche Rechte zum unantastbaren Kernbereich der Mitgliedschaft gehören und welche davon gar unverzichtbar sind, ist juristisch umstritten.[4] Weitestgehend Einigkeit besteht dahingehend, dass folgende Rechte grundsätzlich Teil des Kernbereichs sind:
- Stimmrecht[5][6]
- Recht auf Festlegung der von allen Gesellschaftern zu leistenden Beiträge (für Personengesellschaften § 710 BGB)[7][8]
- Recht auf Beteiligung am Gewinn der Gesellschaft[9]
- Recht auf Teilnahme an Gesellschafterversammlungen[10]
- Recht auf Kenntnis über die Person jedes anderen Gesellschafters[11]
- Recht auf Abfindung bei Ausscheiden aus der Gesellschaft[5]
Darüber hinaus sollen nach überwiegender Auffassung diverse Rechte Teil des Kernbereichs und darüber hinaus auch unverzichtbar sein. Werden diese durch einen Beschluss der Gesellschafter beschränkt, ist der Beschluss nichtig, ungeachtet einer etwaigen Zustimmung des betroffenen Gesellschafters:[7][5]
- Stimmrecht, sofern es für Beschlüsse ausgeschlossen wird, die sich ihrerseits auf den Inhalt des Kernbereichs beziehen[9][12][13]
- Informationsrechte, insbesondere das Recht auf Einsicht der Geschäftsunterlagen (für die GmbH § 51a Abs. 3 GmbHG)[13][7][5]
- Recht zur Kontrolle der Geschäftsführung[13][7]
- Recht auf Teilnahme an Gesellschafterversammlungen, wenn es dauerhaft und vollständig ausgeschlossen wird[7][5][10]
- Recht, Beschlüsse der Gesellschafter gerichtlich überprüfen zu lassen[13][5]
- Recht zum Austritt/Kündigung aus der Gesellschaft aus wichtigem Grund[13][5]
Äußerst umstritten und bisher nicht vom Bundesgerichtshof entschieden ist die Frage, ob das Recht auf Durchführung einer actio pro socio zum Kernbereich der mitgliedschaftlichen Rechte gehört. Für die Personengesellschaften ist dieses Recht seit dem 1. Januar 2024 gesetzlich in § 715b BGB verankert, nach dessen Absatz 2 jede Beschränkung dieses Rechts im Gesellschaftsvertrag unwirksam ist. Entsprechend dürfte sich der juristische Streit seit diesem Zeitpunkt lediglich noch auf den Bereich des Kapitalgesellschaftsrechts erstrecken. Die Literatur spricht sich traditionell überwiegend für die Einordnung der actio pro socio in den Kernbereich aus,[13][7][5][14] während das Kammergericht Berlin sich 1990 dagegen aussprach.[15]
Familienrecht
Aufgrund der verfassungsrechtlichen Verankerung der Ehe in Art. 6 Grundgesetz bemisst der Bundesgerichtshof den Vorschriften des Familienrechts, die den Schutz der Ehe und der Eheleute auch im Rahmen einer "nachehelichen Solidarität"[16] verwirklichen, seit jeher eine besondere Bedeutung zu. Entsprechend wird in Rechtsprechung und Literatur davon ausgegangen, dass zwar Modifikationen der gesetzlichen Regelungen für gegenseitige Ansprüche der Eheleute nach einer Scheidung in Eheverträgen und ähnlichen Vereinbarungen möglich sind (wie es das Gesetz beispielsweise auch in § 1585c BGB für Unterhaltsansprüche vorsieht), unterwirft diese Vereinbarungen jedoch einer Inhaltskontrolle.[17]
So sind Vereinbarungen wegen Verstoßes gegen die guten Sitten gemäß § 138 BGB unwirksam, die den Kernbereich des verfassungsrechtlich geschützten (nach)ehelichen Rechts der Parteien berühren.[18] Zur Ermittlung eines solchen Verstoßes nimmt der Bundesgerichtshof eine Gesamtabwägung vor und bezieht darin insbesondere die wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien und die beabsichtigte Lebensführung in der Ehe ein. Vereinbarungen werden vom Bundesgerichtshof im Ergebnis dann als unzulässiger und unwirksamer Eingriff in den Kernbereich angesehen, wenn sie in Anbetracht der vorgenannten Kriterien zu einer ungerechtfertigten Lastenverteilung einer Partei führen.[19] Dabei betont der Bundesgerichtshof, dass in besonderen Fällen auch ein gänzlicher Ausschluss der gesetzlich vorgesehenen Folgen einer Scheidung denkbar ist, da das deutsche Recht keinen absolut unverzichtbaren Mindestgehalt an Scheidungsfolgen zugunsten eines Ehegatten kenne.[19] Ist eine Vereinbarung nach diesen Maßstäben wirksam, kann es dennoch gegen Treu und Glauben gemäß § 242 BGB verstoßen, wenn sich eine Partei nach der Scheidung auf die Vereinbarung beruft, typischerweise weil sich die der Entscheidung bei Abschluss des Ehevertrags zugrundeliegenden Umstände maßgeblich zulasten der anderen Partei verändert haben.[20]
Der Bundesgerichtshof vertritt im Rahmen der Prüfung der ungerechtfertigten Lastenverteilung einen abgestuften Ansatz und beurteilt vertragliche Abweichungen von verschiedenen Regelungen des BGB insoweit unterschiedlich, als die abbedungenen Vorschriften für die Eheleute von höherer oder geringerer Bedeutung sind:[21][22][23]
- Auf der ersten Stufe steht der (Kindes-)Betreuungsunterhalt nach § 1570 BGB, nach welchem geschiedene Ehegatten sich gegenseitig Unterhalt zu leisten haben, soweit der jeweils andere Teil ein gemeinschaftliches Kind aufzieht. Ein Ausschluss oder die Beschränkung dieses Anspruchs im Voraus ist nur in engen Grenzen möglich, weil der Anspruch indirekt auch die Interessen des Kindes nach der Scheidung schützt. Eine Beschränkung oder ein Ausschluss soll möglich sein, wenn die Eheleute von vorneherein keine Kinder wünschen oder zwar langfristig Kinder in Betracht ziehen, zunächst jedoch eine sogenannte Doppelverdiener-Ehe führen wollen. Entscheiden sich die Parteien später doch für ein Kind und scheiden sich anschließend, kann sich der andere Teil jedoch nicht auf den Ausschluss berufen.[24]
- Auf der zweiten Stufe stehen nebeneinander der Altersunterhalt nach § 1571 BGB, der Krankheitsunterhalt nach § 1572 BGB und der Versorgungsausgleich nach dem Verorgungsausgleichsgesetz.[23]
- Auf der dritten Stufe stehen nebeneinander der Ausbildungsunterhalt nach § 1575 BGB, der Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit und der Aufstockungsunterhalt nach § 1573 BGB sowie der Zugewinnausgleich nach § 1363 BGB,[19] wobei der Zugewinnausgleich nach dem Wortlaut einer einzelnen Entscheidung des Bundesgerichtshofs gar auf einer eigenen, vierten Stufe steht und in aller Regel ohne weiteres abbedungen werden kann.[23]
Stellt ein angerufenes Gericht die Unwirksamkeit einer solchen Vereinbarung fest oder hält es das Berufen auf die Vereinbarung wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben für unzulässig, kann es der benachteiligten Partei zum Ausgleich der durch die Unwirksamkeit der Vereinbarung entstandenen Nachteile einen anderweitigen Anspruch zusprechen.[25] Die Vereinbarung wird nicht für unwirksam erklärt, sondern die rechtliche Folge angeordnet, die den berechtigten Interessen beider Parteien in der jetzt eingetretenen Situation ausgewogen Rechnung trägt.[26]
Verfassungsrecht
Nach der Kernbereichslehre im Verfassungsrecht (häufig auch Wesensgehaltsgarantie) beinhalten die als Abwehrrechte gegen den Staat fungierenden Grundrechte im Grundgesetz einen Kerngehalt, der durch Eingriffe des Staates nicht angetastet werden darf. Die Theorie interpretiert den Regelungsgehalt des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz dergestalt, dass die nach Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz unantastbare Menschenwürde im Kern jedes anderen Grundrechts als subjektives Recht enthalten sei.[27][28] Nach diesem Verständnis sind Eingriffe in Grundrechte jedenfalls dann unzulässig, wenn sie das Grundrecht gänzlich ausschalten, wie beispielsweise die lebenslange Freiheitsstrafe hinsichtlich des Rechts auf Freiheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz.[29]
Das Bundesverfassungsgericht begreift die Wesensgehaltsgarantie dagegen dergestalt, dass der Kerngehalt eines Grundrechts „so lange unangetastet [bleibt], wie gewichtige Schutzinteressen Dritter den Eingriff legitimieren und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist“. Entsprechend sah es in § 14 Luftsicherheitsgesetz in der vom 15. Januar 2005 bis 4. März 2017 gültigen Fassung, der den Abschuss eines durch Terroristen entführten Flugzeuges und damit die Tötung auch der Passagiere gestattete, keine Verletzung der Wesensgehaltsgarantie, erklärte die Vorschrift jedoch aus anderen Gründen für verfassungswidrig.[30]
Verfassungsänderungen sind per se nicht an der Kernbereichslehre zu messen.[31][32][33]
Einzelnachweise
- ↑ Servatius: Henssler/Strohn Gesellschaftsrecht. Hrsg.: Dr. Martin Henssler, Dr. Lutz Strohn. 6. Auflage. C.H.BECK, München 2024, BGB § 705 Rn. 1.
- ↑ Leuschner: Münchener Kommentar zum BGB. Hrsg.: Dr. Dr. Dres. h.c. Franz Jürgen Säcker. 10. Auflage. C.H.BECK, München 2025, BGB § 38 Rn. 2, 3.
- ↑ Enzinger: Münchener Kommentar zum HGB. Hrsg.: Dr. Ingo Drescher. 5. Auflage. C.H.BECK, München 2022, HGB § 119 Rn. 64, 65.
- ↑ Enzinger: Münchener Kommentar zum HGB. Hrsg.: Dr. Ingo Drescher. 5. Auflage. C.H.BECK, München 2022, HGB § 119 Rn. 64, 65.
- ↑ a b c d e f g h Blath: Das Mehrheitsprinzip im GmbH-Recht - Grundlegendes und Gestaltungsfragen. In: Rheinische Notarzeitschrift RNotZ. Jahrgang 2017, Heft 5. C.H.BECK, S. 218–230.
- ↑ BGH, Urteil vom 17.10.1988 - II ZR 18/88 = DNotZ 1990, 116
- ↑ a b c d e f Lieder: Oetker, Handelsgesetzbuch. Hrsg.: Dr. Hartmut Oetker. 7. Auflage. C.H.BECK, München 2021, HGB § 119 Rn. 56 - 59.
- ↑ BGH, Urteil vom 21.10.2014 – II ZR 84/13 = NZG 2014, 1296
- ↑ a b BGH, Urteil vom 29.03.1996 - II ZR 263/94 = DNotZ 1997, 577
- ↑ a b Servatius: Henssler/Strohn Gesellschaftsrecht. Hrsg.: Dr. Martin Henssler, Dr. Lutz Strohn. 6. Auflage. C.H.BECK, München 2024, BGB § 714 Rn. 11.
- ↑ BGH, Urteil vom 16.12.2014 – II ZR 277/13 = NZG 2015, 269
- ↑ BGH, Urteil vom 14. 5. 1956 - II ZR 229/54 = NJW 1956, 1198 für die KG
- ↑ a b c d e f Klimke: BeckOK HGB. Hrsg.: Prof. Dr. Martin Häublein. 47. Edition. C.H.BECK, München 1. Juli 2025, HGB § 109 Rn. 86.
- ↑ Enzinger: Münchener Kommentar zum HGB. Hrsg.: Dr. Ingo Drescher. 5. Auflage. C.H.BECK, München 2022, HGB § 119 Rn. 68.
- ↑ KG Berlin, Urteil vom 19. Oktober 1990 – 14 U 7875/89
- ↑ BGH, Urteil vom 22.11.2006 - XII ZR 119/04 = NJW 2007, 907 Rn. 17
- ↑ Beutler: BeckOK BGB. Hrsg.: Prof. Dr. Wolfgang Hau, Prof. Dr. Roman Poseck. 75. Edition. C.H.BECK, München 1. August 2025, BGB § 1585c Rn. 8, 9.
- ↑ BGH, Beschluss vom 27.5.2020 – XII ZB 447/19 = NJW 2020, 3243
- ↑ a b c BGH, Urteil vom 21.11.2012 - XII ZR 48/11 = MittBayNot 2013, 235
- ↑ BGH, Urteil vom 31.10.2012 − XII ZR 129/10 = NJW 2013, 380 Rn. 35
- ↑ Beutler: BeckOK BGB. Hrsg.: Prof. Dr. Wolfgang Hau, Prof. Dr. Roman Poseck. 75. Edition. C.H.BECK, München 1. August 2025, BGB § 1585c Rn. 13.
- ↑ Milzer: Die neue Disparitätsrechtsprechung des BGH: Hat sich die Kernbereichslehre erledigt? In: Neue Zeitschrift für Familienrecht - NZFam. Jahrgang 2014, Heft 17, S. 773–776.
- ↑ a b c BGH, Urteil vom 11. 02.2004 - XII ZR 265/02 = NJW 2004, 930
- ↑ BGH, Urteil vom 31.10.2012 − XII ZR 129/10 = NJW 2013, 380 Rn. 19
- ↑ BGH, Urteil vom 31.10.2012 − XII ZR 129/10 = NJW 2013, 380 Rn. 40
- ↑ Winfried Born: Unterhaltsrecht - Ein Handbuch für die Praxis. Hrsg.: Winfried Born. 66. Auflage. Erster Teil. Materielles Unterhaltsrecht, 15. Kapitel. Unterhaltsvereinbarungen. C.H.BECK, November 2024, Rn. 126, 127.
- ↑ Middendorf: Zur Wesensgehaltsgarantie des Grundgesetzes. In: Juristische Ausbildung - JURA. Jahrgang 2003. De Gruyter, S. 232–236.
- ↑ Remmert: Dürig/Herzog/Scholz Grundgesetz Kommentar. 107. Ergänzungslieferung, März 2025, GG Art. 19 Abs. 2 Rn. 36.
- ↑ Remmert: Dürig/Herzog/Scholz Grundgesetz Kommentar. 107. Ergänzungslieferung, März 2025, GG Art. 19 Abs. 2 Rn. 37.
- ↑ BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 15. Februar 2006, Az. 1 BvR 357/05 – Luftsicherheitsgesetz, Rn. 154, NJW 2006, 751 (761).
- ↑ BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 3. März 2004, Az. 1 BvR 2378/98 und 1 BvR 1084/99 – Großer Lauschangriff, Rn. 112 = NJW 2004, 999 (1001).
- ↑ Nils Schaks: Die Wesensgehaltsgarantie, Art. 19 II GG. In: JuS. 2015, S. 407–410 (407).
- ↑ Daniel Krausnick: Grundfälle zu Art.19 I und II GG. In: JuS. S. 1088–1093 (1091).