Kapital (Roman)

Kapital. Roman ist ein Werk John Lanchesters, der die Sozialgeschichte einer imaginären Londoner Straße und ihrer Bewohner kurz vor und am Anfang der Finanzkrise von 2008 erzählt.[1] Hauptthemen sind neben der Finanzkrise islamischer Extremismus, Migration, prekäre Arbeitsverhältnisse, Konsumzwänge und die Preisentwicklung von Stadthäusern in einer Metropole.

Inhalt

Der Roman Kapital, zuerst in England bei Orlando Books 2012 erschienen, schildert die Gedanken- und Lebenswelt der imaginären Bewohner der Pepys Road am Telegraph Hill zwischen Peckham und Deptford in London kurz vor und am Anfang der Bankenkrise nach dem Lehman-Bankrott im September 2008. Das zeitgenössische Sittengemälde umfasst die ganze Bandbreite der Gesellschaft von der reichen Familie eines London City Bankers über die pakistanischen Ladenbesitzer an der Ecke, einen jungen afrikanischen Profi-Fußballer, einen erfolgreichen Konzeptkünstler, einen polnischen Allround-Bauhandwerker, ein ungarisches Kindermädchen und eine vor dem Mugabe-Regime geflüchtete junge Frau aus Zimbabwe, die sich als Politesse durchschlägt. Zusammengehalten wird das Panorama durch die Pepys Road, mit der alle Figuren auf verschiedene Weise verbunden sind.

Titel

Der Titel Kapital wird nach den Klappentexten und Andeutungen meist mit dem die Krise auslösenden Investmentkapital verbunden, aber die englische Schreibweise Capital bedeutet hier zugleich die Hauptstadt London mit ihrer großen Distanz zwischen den Klassen und Schichten. Eine dritte Bedeutung des Begriffs für die Figuren nennt der Österreichische Rundfunk in seiner Kritik, indem er darauf hinweist, dass die Figuren alle „das andere Kapital in ihrem Leben“ unterschätzt hätten, „das emotionale, familiäre Kapital.“[2]

Erzählweise

Die achthundert Seiten und 107 Episoden oder Kapitel des Romans sind in einen kurzen Prolog zur Geschichte der Pepys Road und hauptsächlich in drei nahezu gleichlange Abschnitte vom Dezember 2007 über den April 2008 und vom August 2008 bis zum Ende des Jahres gegliedert; ein kurzer letzter Abschnitt ab dem November 2008 fasst die letzten Wochen und fünfzehn Kapitel zusammen. Die etwa eineinhalb Dutzend Figuren von der migrantischen Unterschicht bis zur unteren Oberschicht haben meist nur in ihren Familien Kontakt und nehmen trotz ihres gemeinsamen Wohnorts kaum Notiz von den anderen Mitbewohnern. Es gibt daher nahezu keine verbindende Handlung der Figuren. Ihr Alltag wird mit kleinen Zeitsprüngen parallel abwechselnd erzählt, sodass der Roman innerhalb seiner großen Abschnitte eine rein episodische Struktur aufweist: Lanchester setze „erzählerisch auf das Episodische“, kommentiert Peter Henning.[3] Lanchester schreibe „eher in einer journalistischen als literarisch verfeinerten Sprache [...] mit viel Hingabe für individuelle Lebensdetails“, spiegelt die Rezension im ORF das Gewicht der Details gegenüber dem fehlenden größeren Handlungszusammenhang; auch „eventuelle Längen“ könne der Leser infolge Lanchesters scharfer Beobachtungsgabe und großartiger Charakterzeichnungen schnell vergessen.[4] Die Episoden oder Szenen werden jeweils aus Sicht der handelnden Figuren erzählt, sodass die personale Erzählstimme nie selbst das Verhalten anderer Figuren kommentiert. Daher die mehrfach in den Rezensionen erwähnte Neutralität der Darstellung: Lanchester erzähle, „ohne über seine Figuren moralisch zu urteilen. [...] Es macht die Größe von Lanchesters Roman aus, dass er nicht in Gut und Böse unterteilt.“[5]

Erst die geheimnisvollen Postkarten mit den Worten WIR WOLLEN WAS IHR HABT und später ein aggressiver Blog schaffen ab der Mitte des Romans ein für die Figuren gemeinsames Thema der Bedrohung. Dieses erst gegen Ende gelüftete Geheimnis ist über weite Strecken die einzige Andeutung einer möglichen sozialen Krise und ein lockeres Band der vielen Episoden, während der Name Lehman Brothers, der am 15. September 2008 die erste Insolvenz beantragende Investmentbank der Finanzkrise 2008, das erste Mal auf Seite 656 von 797 fällt. Keine der Figuren hat über dreiviertel der Romanseiten auch nur einen Gedanken an eine mögliche Finanzkrise und nur diese narrative Strategie der eine Enteignung ankündigenden Postkarten hält trotz der „Erzählschleifen“ die „Short-Cuts“ der Lebensbilder dramaturgisch zusammen.[6] Die Angst vor dem Untergang, „die bald wie mit Händen“[7] zu greifen sein soll, trifft einzig und allein von allen Figuren die Familie des Bankers Roger Yount, der als selbstgefälliger Abteilungsleiter das betrügerische Zocken seines Assistenten übersehen hat.

Dagegen will Christian Buß für Der Spiegel einen „fulminanten Gesellschaftsroman zur Finanzkrise [...] über die psychologische Dynamik hinter dem Crash“ mit den „Vorbeben zum Katastrophen-September 2008“ gelesen haben[8] wie auch für Peter Henning Lanchester „mit Kapital den Roman zur Krise vorgelegt“ hat,[9] obwohl der Roman auf über 650 seiner 800 Seiten die Geschichten einer Straße erzählt, deren privat-normale Szenen sich fast ausschließlich auch drei oder fünf oder zehn Jahre vor der Finanzkrise ereignet haben könnten.

Ausgabe

John Lanchester: Kapital. Roman. Aus dem Englischen von Dorothee Merkel, München: Heyne Verlag 2014, ISBN 978-3-453-41099-2

Rezeption

Im Spiegel Online kommentiert Christian Buß: „Ein fulminanter Gesellschaftsroman zur Finanzkrise - der sogar Erbarmen mit den Gierigen kennt. [...] VWL mit Empathie, so könnte man sein Werk feiern.“[10]

Für Peter Henning in Die Zeit hat Lanchester einen knapp 800-seitigen, „grandiosen Roman zur Finanzkrise vorgelegt“, an dessen Ende „die Erhaltung ihres einst errungenen Wohlstands steht oder aber dessen Verlust und der individuelle Niedergang.“[11]

Im Tagesspiegel kommentiert Gerrit Bartels den Roman als „Gesellschaftspanorama und Finanzkrisenstudie, [...] ein unterhaltsamer und lehrreicher Roman.“[12]

Adaption

Aus der literarischen Vorlage des 797-Seiten-Romans machte die BBC eine dreiteilige Mini-Serie, die 2015 von BBC 1 urgesendet wurde. Die deutsche Erstsendung erfolgte auf Arte am 20. April 2017.

Einzelnachweise

  1. John Lanchester: Kapital. Roman. Aus dem Englischen von Dorothee Merkel, München: Heyne Verlag 2014, ISBN 978-3-453-41099-2
  2. ORF am 8. April 2017. [1]
  3. Peter Henning in Die Zeit [2]
  4. ORF am 8. April 2017 [3]
  5. Gerrit Bartels, in Der Tagesspiegel [4]
  6. ORF am 8. April 2017 [5]
  7. Peter Henning in Die Zeit [6]
  8. Christian Buß am 25. Oktober 2012 in Der Spiegel [7]
  9. Peter Henning in Die Zeit [8]
  10. Christian Buß am 25. Oktober 2012 in Der Spiegel [9]
  11. Peter Henning in Die Zeit [10]
  12. Gerrit Bartels, in Der Tagesspiegel [11]