Kalendjin

Pokot-Frauen

Die Kalendjin oder Kalendschin (so auch gesprochen; englisch Kalenjin) sind eine Gruppe verwandter Völker, die vor allem im Westen Kenias im und am Rift Valley leben. Aktuell (Kenia Census 2019) gibt es 6,36 Mio. Kalendjin. Sie sprechen südnilotische Sprachen, dazu heutzutage oft auch Swahili und Englisch. die offizielle Landessprachen in Kenia sind und daher an Schulen unterrichtet werden. Kalendjin teilen sich in 11 kulturell und linguistisch verwandte Ethnien auf[1]: Keiyo (auch bekannt als Elgeyo), Kipsigis, Lembus, Marakwet, Nandi, Okiek, Pokot, Sabaot, Sengwer, Terik, Tugen. In Uganda werden die dortigen Sabiny den Kalendjin zugeordnet.

Demografie

Mindestens 95 Prozent der Kalendjin leben in Kenia. Die Kipsigis machten bei der Volkszählung von 1969 32 % aller kenianischen Kalendjin aus, gefolgt von den Nandi (27 %), Pokot (13 %), Tugen (8,6 %), Keiyo (8,5 %), Marakwet (6 %), Sabaot (42 %) und Okiek (weniger als 1 % nach den offiziellen Zahlen der Volkszählung). Bei der Volkszählung von 1979 gab es in Kenia 1.652.243 Kalendjin. Sie waren mit 10,8 % der Bevölkerung die fünftgrößte ethnische Gruppe. Die überwiegende Mehrheit der Kalendjin lebt auf dem Lande, und die Bevölkerungsdichte ist aufgrund der sehr unterschiedlichen ökologischen Bedingungen in den einzelnen Kalendjin-Ländern sehr unterschiedlich.[2] Im Jahr 2019 gab es 6,36 Mio. Kalendjin.[3]

Religionen, denen Kalendjin angehören sind das Christentum und der Islam, wobei die Zahl der Muslime unter den Kalendjin gering ist. Bei den Christen gehören viele der Africa Inland Church (AIC), der Church of the Province of Kenya (CPK) oder der römisch-katholischen Kirche an.[4]

Geschichte

Die Kalendjin sind Niloten und vor mehr als 2000 Jahren aus dem Südsudan nach Zentralkenia eingewandert, wo sie sich mit den einheimischen Kuschiten vermischten.

Gegenden, in denen Nilotische Sprachen gesprochen werden
Kalenjin-Initianten in der Abgeschiedenheit des Dschungels in Nakuru, Kenia.

Viehdiebstähle waren im sozialen Leben der Kalenjin, die als Hirtenvölker lebten, äußerst wichtig. Die Altersgruppe der Krieger, die jüngste initiierte Altersgruppe, war für die Verteidigung des Viehs zuständig und erwarb ihr eigenes Vermögen durch erbeutete Rinder.[5]

Viehdiebstahl war schon immer ein Teil der Kalenjin-Kultur, und das ist auch heute noch der Fall. Der Unterschied besteht darin, dass die Viehdiebe jetzt statt Speeren und Pfeil und Bogen halbautomatische Waffen wie AK 47-Sturmgewehre benutzen.[6]

Initiation

Um in der Kalendjin-Gesellschaft als erwachsen zu gelten, müssen sowohl männliche als auch weibliche Jugendliche eine Initiationszeremonie durchlaufen. Nach der Beschneidung männlicher Jugendlicher wurden sie für längere Zeit von der Außenwelt abgeschirmt, wo sie von den Ältesten in den für das Erwachsensein erforderlichen Fähigkeiten unterrichtet wurden. Danach begann für sie eine Phase des Kriegerdaseins, in der sie die militärische Kraft des Stammes darstellten. Heute hat die Initiation ihre militärische Funktion verloren, fungiert aber immer noch als ein verbindendes Element zwischen den Männern der gleichen Gruppe. Weibliche Initiation hat viel von ihrer Bedeutung verloren.[7] Die Dezemberferien fallen sowohl mit Weihnachten als auch mit den traditionellen Initiationszeremonien, genannt tumdo, zusammen, welche weiterhin durchgeführt werden. Im April und August sind dagegen deswegen einmonatige Ferienzeiten, damit die Kinder und Jugendlichen in der elterlichen Landwirtschaft unterstützen können.[8]

Identitätsstiftende Prozesse für ein Kalendjin-Gemeinschaftsgefühl

Kalendjin haben erst im 20. Jahrhundert aufgrund sprachlicher Gemeinsamkeiten und politischen Drucks gegen die großen anderen Ethnien ein Gemeinschaftsgefühl herausgebildet und diesen Namen angenommen.

Ab den 1940er Jahren benutzten Angehörige dieser Gruppen, die in den Zweiten Weltkrieg (1939–45) zogen, zunächst den Begriff kale oder kole, um sich selbst zu bezeichnen. Dieser Begriff bezeichnet ursprünglich das Verfahren, bei dem ein Krieger, der einen Feind im Kampf getötet hatte, sich selbst die Brust oder den Arms vernarbte. In Radiosendungen während des Krieges verwendete ein Sprecher, John Chemallan, den Ausdruck kalenjok („Ich sage euch!“, Plural). Das nilotische kalenjok oder Kalendjin („Ich sage dir!“) bezeichnete dann eine Radiosendung, die sich speziell an diese kleinen versprengten Ethnien wandte. Wer also Kalendjin hörte, war ein Kalendjin. Später gründeten Angehörige dieser Gruppen, die die englischsprachige Missionsschule Alliance High School im Ort Kikuyu besuchten, einen „Kalenjin“-Club. Mit vierzehn Mitgliedern bildeten sie eine deutliche Minderheit an dieser angesehenen Schule in einem Gebiet, das von einer anderen Ethnie, den Kikuyu, dominiert wurde. Die Kalendjin wollten nach außen hin ihre Identität und Solidarität zum Ausdruck bringen, um sich von den Kikuyu zu unterscheiden. Diese jungen Gymnasiasten bildeten die künftige Kalendjin-Elite. Auch die britische Kolonialregierung unterstützte die Kalenjin-Bewegung aus dem Wunsch heraus, die Stimmung gegen die Kikuyu während des Mau-Mau-Aufstands zu fördern. So sponserte sie beispielsweise die Monatszeitschrift Kalenjin.[9]

Die Gemeinde (korot) als traditionelle Grundeinheit der politischen Organisation

Traditionell war die Grundeinheit der politischen Organisation unter den Kalendjin die koret (Gemeinde). Dabei handelte es sich um eine Ansammlung von zwanzig bis einhundert verstreuten Gehöften. Sie wurde von einem Rat erwachsener Männer verwaltet. Dieser Rat war unter dem Namen kokwet bekannt und wurde von einem Sprecher namens poiyot ap kokwet geleitet. Dieser Sprecher war ein angesehener Mann, der sich aufgrund seiner Redegewandtheit, seiner Kenntnis der Stammesgesetze, seiner einflussreichen Persönlichkeit, seines Reichtums und seiner sozialen Stellung auszeichnete. Obwohl der poiyot ap kokwet bei öffentlichen Verhandlungen als Erster das Wort ergriff, erhielten alle Ältesten die Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern. Diese Meinungen wurden von ihm bei seiner Entscheidung berücksichtigt.[10]

Heutige politische Organisation

Heute ist dieses System durch ein System ersetzt worden, das von der britischen Kolonialregierung eingeführt wurde. Mehrere Dörfer bilden einen Unterort (sublocation), der wiederum Teil eines Ortes (location) ist. Mehrere Orte bilden eine Abteilung (division), Abteilungen bilden Bezirke (districts) und Bezirke sind in Provinzen (provinces) enthalten. Jedes Dorf hat einen Dorfältesten (village elder), der kleinere Streitigkeiten schlichtet und Routineangelegenheiten regelt. Assistenzhäuptlinge (Assistant chiefs), Häuptlinge (chiefs), Distriktbeamte (district officers), Distriktkommissare und Provinzkommissare ( provincial commissioners) sind jeweils übergeordnet. Provinzkommissare sind direkt dem Präsidenten unterstellt.[11]

„Running tribe“

Der Tugen Eliud Kipchoge 2023 beim Berlin-Marathon
Eliud Kipchoge beim Berlin-Marathon 2015

Die Kalendjin werden mitunter als „running tribe“ bezeichnet. Seit den 1980er Jahren gewannen Angehörige der Kalendjin bei Olympischen Spielen und Leichtathletik-Weltmeisterschaften rund 40 % aller Medaillen im Mittel- und Langstreckenlauf. Die meisten Langstreckenläufer aus Kenia sind Kalendjin.[12][13] Allein der 40.000-Einwohner-Ort Iten im Elgeyo-Marakwet County, 320 Kilometer nordwestlich von der Hauptstadt Nairobi auf 2400 Meter Höhe gelegen, insbesondere die dortige St. Patricks Oberschule, brachte viele erfolgreiche kenianische Langstreckenläufer hervor, darunter Olympiasieger, Weltmeister und Gewinner großer Marathon-Laufveranstaltungen. Dort liegt auch das Trainingszentrum "High Altitude Training Centre" (HATC).[14] Der Priester Colm O’ Connell, der im Jahr 1976 als Lehrer an die St. Patrick's High School in Iten gekommen war, hatte die außergewöhnlichen leichtathletischen Fähigkeiten vieler Schüler erkannt und gefördert.[15]

Bekannte Kalendjin

Paul Tergat

Bekannte Kalendjin sind beispielsweise der kenianische Ex-Präsident Daniel arap Moi, der aktuelle kenianische Präsident William Ruto, und Koitalel arap Samoei (1890 – 1905), der historische Anführer (Orkoiyot) der Nandi, der von Richard Meinertzhagen bei einer Waffenstillstandverhandlung am 19. Oktober 1905 erschossen wurde. Von den zahlreichen bekannten Leichtathleten seien exemplarisch der 5-fache Crosslauf-Weltmeister Paul Tergat und der Marathonläufer Eliud Kipchoge genannt. Tergat und arap Moi gehören den Tugen an, William Ruto stammt von Kipsigis ab, Eliud Kipchoge ist Nandi.[16]

Trivia

Handelsmarke „Kalenji“

Die sportlichen Leistungen von Kalendjin vor allem im Mittel- und Langstreckenlauf sind der Grund für den Namen der Handelsmarke „Kalenji“, die von Decathlon verwendet wird. Die Marke Kalenji wurde im März 2004 in Frankreich gegründet. Kalenji bietet eine große Auswahl an Laufbekleidung wie z. B. für Straßen- und Trailrunning.[17]

Literatur

  • Kibny'aanko Seroney: Samburtaab Ng'aleekaab Kaleenchin. Kalenjin Dictionary, Mvule Africa Publishers, Kenia, 608 S., ISBN 978-9966-769-73-2 (kalenjin-englisch).

Einzelnachweise

  1. Countries and their Cultures: Kalenjin. Abgerufen am 15. Februar 2021.
  2. Anonymus: Nandi and Other Kalenjin Peoples – Economy. (englisch).
  3. Kenya National Bureau of Statistics: 2019 Kenya Population and Housing Census Volume IV: Distribution of Population by Socio-Economic Characteristics. Abgerufen am 15. Februar 2021.
  4. Countries and their Cultures: Kalenjin. Abgerufen am 29. August 2025.
  5. Nandi and Other Kalenjin Peoples. (englisch).
  6. Countries and their Cultures: Kalenjin. Abgerufen am 29. August 2025.
  7. Countries and their Cultures: Kalenjin. Abgerufen am 29. August 2025.
  8. Countries and their Cultures: Kalenjin. Abgerufen am 29. August 2025.
  9. Countries and their Cultures: Kalenjin. Abgerufen am 29. August 2025.
  10. Countries and their Cultures: Kalenjin. Abgerufen am 29. August 2025.
  11. Countries and their Cultures: Kalenjin. Abgerufen am 29. August 2025.
  12. Seppo Luhtala (Hrsg.): Top Distance Runners of the Century: Motivation, Pain, Success : World-class Athletes Tell. Meyer & Meyer Verlag, Aachen 2002, ISBN 1-84126-069-X, S. 296 ff. (englisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  13. Countries and their Cultures: Brand Kalenji. Abgerufen am 30. August 2025.
  14. Mit einem Eimer Wasser nach Boston. In: Der Tagesspiegel. 4. Dezember 2013 (tagesspiegel.de).
  15. Mit einem Eimer Wasser nach Boston. In: Der Tagesspiegel. 4. Dezember 2013 (tagesspiegel.de).
  16. Seppo Luhtala (Hrsg.): Top Distance Runners of the Century: Motivation, Pain, Success : World-class Athletes Tell. Meyer & Meyer Verlag, Aachen 2002, ISBN 1-84126-069-X, S. 296 ff. (englisch, eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  17. Countries and their Cultures: Brand Kalenji. Abgerufen am 30. August 2025.