Justin Godart

Justin Godart

Justin Godart (* 26. November 1871 in Lyon; † 13. Dezember 1956 in Paris) war ein französischer Anwalt und ein Politiker der Dritten Republik. Er gehörte mehreren Regierungen an und stimmte am 10. Juli 1940 als einer der „quatre-vingts“ (achtzig) gegen die diktatorischen Vollmachten für Philippe Pétain. Godart war Gründer der Ligue nationale contre le cancer (Nationale Liga gegen Krebs).

Leben

Dritte Republik

Justin Godart wurde im Lyoner Stadtteil Brotteaux geboren und stammte aus einfachen Verhältnissen. Er besuchte das Lycée Ampère in Lyon. 1899 promovierte er mit einer Dissertation über L’ouvrier en soie (Der Seidenarbeiter) zum Doktor der Rechtswissenschaften und wurde anschließend Rechtsanwalt.

Als Mitglied der Radikalsozialistischen Partei[A 1] begann er seine politische Karriere 1904 zur gleichen Zeit wie Édouard Herriot, als er zum stellvertretenden Bürgermeister von Lyon in der von Jean-Victor Augagneur geführten Stadtverwaltung gewählt wurde.[1]

Als Abgeordneter von Lyon (1906–1926) und später als Senator des Départements Rhône (1926–1940) widmete er sich sozialen Fragen: Gesundheit, Hygiene und „körperlich Beeinträchtigten“. Er wurde insbesondere Vorsitzender der internationalen Untersuchungskommission auf dem Balkan (Serbien, Bulgarien, Griechenland, Türkei, Albanien), die 1913 vom Carnegie Endowment for International Peace (Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden) organisiert wurde.[1]

Besuch eines Fronthospitals

1914 bekleidete er das Amt des Vizepräsidenten der Abgeordnetenkammer. Während des Ersten Weltkriegs war er von 1915 bis 1918 als Sous-secrétaire d’État für den Kriegsdienst zuständig, reorganisierte diesen und verfolgte zum ersten Mal in Frankreich eine neuartige Politik im Bereich der öffentlichen Gesundheit.[2] Im Dezember 1916 beauftragte er Gustave Roussy[3] mit der Einrichtung eines neurologischen Zentrums (was im Fort de Salins geschah), um Kriegstraumatisierte so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu bringen und an die Front zurückzuschicken.[4][5] Nach Kriegsende gründete er am 14. März 1918 die Ligue franco-anglo-américaine contre le cancer (Englisch-französisch-amerikanische Krebsliga), aus der die Ligue nationale contre le cancer[6] hervorging. Als Mitglied des Vorstands der Ligue des droits de l’homme (Liga für Menschenrechte) gründete er 1934 auch die Union internationale contre le cancer. Im Jahr 1929 war er an der Gründung des Foch-Krankenhauses in Suresnes beteiligt.[7]

Er initiierte 1923 die Gründung der französischen archäologischen Mission in Albanien. Diese von dem Archäologen Léon Rey[8] geleite Ausgrabungskampagne führte zu wesentlichen Erkenntnissen über die altgriechische Stadt Apollonia.[9]

Am 4. August 1924 gründete er das Office national d’hygiène sociale[10], eine öffentliche Einrichtung, die ursprünglich von der Rockefeller-Stiftung finanziert wurde, um die Tuberkulose zu bekämpfen.[11] Er beteiligte sich an den Debatten über die Definition einer internationalen Gesetzgebung im Gesundheitsbereich und engagierte sich in dieser Funktion in der Internationalen Arbeitsorganisation. 1924/25 fungierte er als Arbeits- und Hygieneminister und 1932 als Gesundheitsminister.

Academie des gastronomes 1929

1926 gründete er die Vereinigung France-Palestine, die nach der Gründung des Staates Israel zur Vereinigung France-Israël[12] wurde.[13] 1928 war er eines der 25 Gründungsmitglieder der Académie des gastronomes[14].

1933 gründete er den Verein „Agriculture et Artisanat“ (Landwirtschaft und Handwerk), um jungen jüdischen Flüchtlingen auf dem Weg nach Palästina einen Beruf zu geben. Das sogenannte Godart-Gesetz vom 19. Juli 1933 integrierte das Bedienungsgeld in die Rechnung im Restaurant.[15]

Zweiter Weltkrieg, Résistance und späte Jahre

Angesichts des Aufstiegs des Nationalsozialismus verteidigte er die jüdische Gemeinschaft, kümmerte sich um das Œuvre de secours aux enfants (Kinderhilfswerk), die Aufnahme von Einwanderern und setzte sich für die Verteidigung ihrer Rechte ein. 1940 gehörte er zu den 80 Parlamentariern, die gegen die Übergabe der Vollmachten an Marschall Pétain stimmten. Als Widerstandskämpfer leitete er das Front national clandestin (Komitee der Nationalen Untergrundfront) für die Befreiung der Südzone, in der Juden anfänglich Zuflucht fanden, und versteckte im Garten seines Hauses in Pommiers (Rhône) Geld, das für Rettungsaktionen für Juden verwendet wurde.[16] Er verbreitet auch eine Untergrundzeitung, Le Patriote Beaujolais.[1]

Von 1944 bis 1945 war er Bürgermeister von Lyon (er übte dieses Amt quasi stellvertretend für Édouard Herriot bis zu dessen Rückkehr aus). Daneben war er in der Folge Präsident der nationalen Hilfsorganisation Entraide française (Französische Selbsthilfe, 1945–1947), Mitglied der Commission chargée d'enquêter sur les évènements survenus en France de 1933 à 1945 (Kommission zur Untersuchung der Ereignisse in Frankreich von 1933 bis 1945)[17] sowie 1948 Präsident der Internationalen Arbeitsorganisation.

Justin Godart setzte sich schließlich für die Sache der Albaner, Bulgaren, Armenier, Indochinesen und später der Vietnamesen ein: Für sie gründete er 1946 die Vereinigung France-Vietnam, um Hồ Chí Minh bei seinem Kampf für die Unabhängigkeit zu unterstützen.[18]

Godart und Lyon

Justin Godart war auch als Lyoner Lokalpatriot bekannt. Seine Liebe zu Lyon drückt sich in seiner Vorliebe für historische und ethnografische „Lyonnaiserien“ aus. Als Lyoner Historiker hinterließ er eine umfangreiche Bibliografie. Am 21. November 1920 gründete er unter dem Pseudonym Catherin Bugnard die Académie des Pierres Plantées[19], um die Lyoner Traditionen und die lyonesische Sprache zu erhalten. Unter diesem Namen veröffentlichte er auch La Plaisante Sagesse lyonnaise, eine berühmte Sammlung moralischer Maximen und Reflexionen aus Lyon. Als großer Sammler von Marionetten war er auch Gründungspräsident des Vereins Les amis de Guignol, der später in Amis de Lyon et Guignol umbenannt wurde. Er war 1936 Vorsitzender der Société des Sciences, Arts et Belles-Lettres du Beaujolais und trug zu deren Wiederbelebung nach dem Krieg unter dem Namen Académie de Villefranche et du Beaujolais[20] bei.

Auszeichnungen

Place Justin-Godart, Paris
Altstadt von Vlora: Rruga Justin Godart

Justin Godart wurde weltweit vielfach ausgezeichnet.[A 2] Er wurde ausgezeichnet

Zu seinen Ehren benannten die albanischen Stadtverwaltungen von Tirana, Durrës, Shkodra und Vlora Straßen nach ihm. In Frankreich gibt es in vielen Städten Justin-Godart-Straßen; in Paris einen Platz.[22]

Werke

Eine Auflistung seiner Werke findet sich in der französischen Sprachversion sowie über den Weblink der französischen Nationalbibliothek. Einige Werke sind auch im Internet Archive zu finden.[26] Deutschsprachige Ausgaben sind nicht bekannt.

Literatur

  • François Bilange: Justin Godart ou La Plaisante Sagesse Lyonnaise. Editions Lyonnaises d’Art et d’Histoire, 2006, ISBN 2-84147-179-9.
  • Louis David, Dominique Saint-Pierre: Godart Justin (1871–1956). In: Dictionnaire historique des Académiciens de Lyon : 1700–2016. ASBLA de Lyon, 2017, ISBN 978-2-9559433-0-4, S. 604–607 (bnf.fr).
  • Simon Epstein: Les Dreyfusards sous l’Occupation (= Bibliothèque Albin Michel de l'histoire). Albin michel, 2001, ISBN 2-226-12225-7.
  • Pierre Miquel: Les quatre-vingts. Fayard, 1995, ISBN 2-213-59416-3.
  • Jean Odin: Les Quatre-vingts. FeniXX réédition numérique, 1996, ISBN 2-402-07154-0 (google.de).
  • Monique Ray: Catalogue de l’exposition du cinquantième anniversaire de la fondation du Musée Histoirque de Lyon 1921–1971 ; hommage à Justin Godart, 1871–1956. Société des Amis du Musée de Gadagne, 1971.
  • Annette Wieviorka: Justin Godart : un homme dans son siècle (1871–1956). CNRS, 2005, ISBN 2-271-06235-7 (persee.fr).
Commons: Justin Godart – Sammlung von Bildern

Anmerkungen

  1. Diese Partei gehörte trotz ihres Namens eher der linken Mitte an.
  2. Die meisten der folgenden Angaben sind der französischen Sprachversion entnommen.

Einzelnachweise

  1. a b c David und St. Pierre 2017
  2. Vincent Viet: La santé en guerre 1914–1918. Une politique pionnière en univers incertain. Presses de Sciences Po, 2015, ISBN 978-2-7246-1727-6 (google.de).
  3. Angaben zu Gustave Roussy in der Datenbank der Bibliothèque nationale de France.
  4. Jean-Yves Le Naour: Les soldats de la honte. Perrin, 2011, ISBN 978-2-262-03390-3, S. 211 (google.de).
  5. Vincent Ricouleau: Justice militaire : Quand un zouave refuse le torpillage ! In: Village justice. Abgerufen am 26. April 2025 (französisch).
  6. Qui sommes-nous ? In: Ligue contre le cancer. Abgerufen am 24. April 2025 (französisch).
  7. Florence Hubin: A Suresnes, la grande aventure de l’hôpital Foch racontée dans un livre. In: Le Parisien. 1. Januar 2018, abgerufen am 24. April 2025 (französisch).
  8. Angaben zu Léon Rey in der Datenbank der Bibliothèque nationale de France.
  9. Annick Fenet: La création de la Mission archéologique française en Albanie (1922–1923), entre Armée d’Orient et modèles institutionnels. Ausonius Éditions, 2019, ISBN 978-2-35613-315-1, doi:10.4000/books.ausonius.5957.
  10. L'Institut national d'hygiène (INH) (Memento vom 26. November 2006 im Internet Archive)
  11. Jean-Bernard Wojciechowski: Hygiène mentale et hygiène sociale. Harmattan, 1998, ISBN 2-7384-5032-6.
  12. France-Israël. In: France-Israël. Abgerufen am 24. April 2025 (französisch).
  13. François Bilange: Justin Godart, une « âme de fond ». In: Revue d’Histoire de la Shoah. 2007, doi:10.3917/rhsho.187.0341.
  14. Angaben zu Académie des gastronomes in der Datenbank der Bibliothèque nationale de France.
  15. Loi ... du pourboire auf Gallica
  16. Grand-père ! Ouf ! Tu es enfin reconnu Juste parmi les nations ! In: Le Monde. 1. April 2004, abgerufen am 24. April 2025 (französisch).
  17. Rapport fait au nom de la Commission chargée d'enquêter sur les événements survenus en France de 1933 à 1945 auf Gallica
  18. Alain Ruscio: Une longue histoire. In: Association d’amitié Franco-Vietnamienne. 26. Januar 2019, abgerufen am 24. April 2025 (französisch).
  19. Angaben zu Académie des Pierres Plantées in der Datenbank der Bibliothèque nationale de France.
  20. L’Académie. In: Académie de Villefranche et du Beaujolais. Abgerufen am 27. April 2025 (französisch).
  21. Justin Godart. In: Military Times. Abgerufen am 26. April 2025 (französisch).
  22. a b Place Justin Godart. In: Yad Vashem France. Abgerufen am 26. April 2025 (französisch).
  23. Godart. In: Base Léonore. Abgerufen am 26. April 2025 (französisch).
  24. a b c Siehe Weblinks Assemblée nationale und Sénat
  25. Prix Montyon. In: Académie française. Abgerufen am 26. April 2025 (französisch).
  26. 6 Results. In: Internet Archive. Abgerufen am 27. April 2025 (englisch).
VorgängerAmtNachfolger


Paul Jourdain
Minister für Arbeit, Gesundheit,
Wohlfahrt und Sozialversicherung

14.06. 1924 – 10.04. 1925


Antoine Durafour

Camille Blaisot
Minister für öffentliche Gesundheit
03.06. 1932 – 14.12. 1932

Charles Daniélou

Pierre Bertrand
Bürgermeister von Lyon
03.09. 1944 – 18.05. 1945

Édouard Herriot