Juan Marsé

Juan Marsé (* 8. Januar 1933 in Barcelona, Geburtsname Juan Faneca Roca; † 18. Juli 2020 ebenda)[1] war ein spanischer Schriftsteller, der internationale Bekanntheit erreichte und unter anderem mit dem Cervantespreis[2] ausgezeichnet wurde.
Leben
Seine Mutter Rosa Roca starb bei der Geburt. Der leibliche Vater Domingo Faneca und der spätere Adoptivvater Pep Marsé kannten sich von einer während des Franquismus verbotenen politischen Partei. Zusammen mit seiner Frau Berta Carbó adoptierte Pep Marsé den Sohn des Parteigenossen, der seitdem den Namen seiner neuen Eltern trug.[3] Marsés Jugend spielte sich hauptsächlich zwischen den Stadtvierteln Guinardó, El Carmelo und Gracia von Barcelona ab.[4] Er ging nur bis zum Alter von 13 zur Schule; da sein Adoptivvater aus politischen Gründen ins Gefängnis kam, musste Marsé die Schulausbildung abbrechen und zum Familienunterhalt beitragen. Er begann eine Goldschmiedelehre und arbeitete seitdem in einem Juweliergeschäft.[5]
Seine ersten Erzählungen veröffentlichte er 1958 in den Zeitschriften Ínsula und El Ciervo. Ein Jahr darauf erhielt er bereits seinen ersten literarischen Preis, den Premio Sésamo de cuentos, für seine Erzählung Nada para morir. 1960 erschien sein erster Roman Encerrados con un solo juguete.[4]
Von 1960 bis 1962 lebte er in Paris und arbeitete dort als Spanischlehrer, Übersetzer und Laborgehilfe am Institut Pasteur, wo er den späteren Nobelpreisträger Jacques-Lucien Monod kennenlernte.[3] Anschließend kehrte er nach Barcelona zurück, wo er 1962 Esta cara de la luna publizierte; da er mit dem Buch nach dem Erscheinen nicht mehr zufrieden war, verweigerte er später jeglichem Nachdruck seine Zustimmung.[6]
Während seiner Zeit in Paris war Marsé 1961 der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE) beigetreten. Nach seiner Rückkehr nach Barcelona schloss er sich dem katalanischen Zweig der KP, der PSUC an, verließ die Partei allerdings 1967 schon wieder, weil er mit ihrem Puritanismus in Fragen der Sexualmoral nicht einverstanden war.[6]
1966 heiratete er Joaquina Hoyas, mit der er 1968 einen Sohn und 1970 eine Tochter bekam.[7] Im Jahr seiner Heirat entschied Marsé, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Er arbeitete unter anderem in der Werbebranche und als Verfasser von Filmdrehbüchern. 1970 wurde er Chefredakteur der Zeitschrift Bocaccio und Redakteur bei Art-Cinema, 1974 kam die Mitarbeit beim Magazin Por favor dazu.[8] Mit seinen in den 1960er und 1970er Jahren erschienenen Büchern, angefangen mit Ultimas tardes con Teresa (dt. Letzte Tage mit Teresa), erhielt Marsé nun auch spanienweit breite Anerkennung als Romanschriftsteller. Si te dicen que caí (dt. Wenn man dir sagt, ich sei gefallen), ein Buch über die bleiernen Jahre nach dem spanischen Bürgerkrieg in einem proletarischen Vorstadtviertel Barcelonas, musste allerdings 1973 wegen der franquistischen Zensur zunächst in Mexiko erscheinen; es konnte erst 1976 in Spanien publiziert werden.[8]
Die 1980er und 1990er Jahre sahen in kurzen Abständen mehrere Veröffentlichungen von Romanen und Erzählungen Marsés. In den Jahren 1988/89 erschien von ihm eine Kolumne in der Tageszeitung El País unter dem Titel Aventuras del capitán Blay[9].
Die 1990er und 2000er Jahre brachten weitere namhafte Anerkennungen für seine schriftstellerische Arbeit: 1990 erhielt er den Premio Ateneo de Sevilla für den Roman El amante bilingüe (der später auch verfilmt wurde); 1994 wurden ihm für El embrujo de Shanghai (dt. Der Zauber von Shanghai) der Premio de la Crítica und der Aristeion-Preis zugesprochen. 1997 folgte der Premio Rulfo, der als lateinamerikanisches Pendant zum Premio Cervantes gilt. Für seinen Roman Rabos de lagartija (dt. Stimmen in der Schlucht), der Barcelona zur Zeit Francos aus der Sicht eines Embryos schildert, erhielt er 2000 den Premio Nacional de la Crítica und ein Jahr später den Premio Nacional de Narrativa. Die letzte große Ehrung nach dem Cervantespreis war der Premio Liber 2016 als bedeutendster hispanoamerikanischer Autor des Jahres.[10]
Marsés Werk wurde in viele Sprachen übersetzt; unter anderem ins Polnische, Englische[11], Französische[12], Italienische[13], Katalanische[14], Deutsche, Rumänische und Ungarische. Einige seiner Texte, wie Últimas tardes con Teresa, Si te dicen que caí, La muchacha de las bragas de oro und El amante bilingüe,[15] wurden verfilmt oder für das Theater adaptiert[5]. Mit dem Cervantespreis erhielt er 2008 einen der angesehensten Literaturpreise der spanischsprachigen Welt; auch für den Literaturnobelpreis war er wiederholt im Gespräch[5].
Marsé starb im Hospital de la Santa Creu i Sant Pau (kurz: Hospital de Sant Pau) von Barcelona.[8]
Werkcharakteristik
Seine ersten literarischen Vorbilder in Form von Abenteuer- und Kriminalromanen, Comics und amerikanischen Kinofilmen eignete Juan Marsé sich in seiner Jugend im Selbststudium an.[6][16] Mit seinen ersten Romanen wird er noch zur sogenannten Generation von 1950 gezählt, zu der unter anderem auch José Agustín Goytisolo, Jaime Gil de Biedma und Carlos Barral gehörten – sie lernte Marsé in den 1950er und 1960er Jahren in Barcelona persönlich kennen.[17]
Seine Romane spielen meist im Barcelona der 1940er und 1950er Jahre, Schauplätze sind die Stadtviertel, in denen er seine Jugend verbrachte, Protagonisten häufig Outsider, in irgendeiner Form gescheiterte Persönlichkeiten, Kleinkriminelle und/oder die Nachkommen der Einwandererfamilien aus dem spanischen Süden (die sogenannten Xarnegos).[2][18] In ihrem Scheitern sah Marsé selbst seine Protagonisten aber nicht in erster Linie als Leidtragende sozialer oder politischer Umstände, sondern eher als Opfer ihrer persönlichen Träume und Wunschvorstellungen.[16] Spätestens mit Ultimas tardes con Teresa (dt. Letzte Tage mit Teresa) begann sich der Autor von den literarischen Prinzipien der 50er zu lösen und seinen eigenen, persönlichen Stil zu entwickeln. Er setzte nun vermehrt auf „überraschende Bilder, spannende Dialoge und ungewohnte Monologstrukturen“[18], wobei er immer wieder als Autor mit „sarkastischen Kommentaren“ in die Romanhandlung eingriff[19]. Marsé wechselte dabei häufig die „Zeitebenen und Erzählperspektiven“[20]. Für die Kritik gilt er mit seiner Erzählweise als „Meister der Atmosphäre“.[21][16]
Trivia
Marsé verbreitete lange eine Geschichte über das Zustandekommen seiner Adoption, die z.B. von seinem deutschen Verlag in den Klappentexten der Romane Wenn man dir sagt, ich sei gefallen und Letzte Tage mit Teresa wiedergegeben wurde – sich aber neueren Quellen zufolge als erfunden herausgestellt hat.[3] Noch im Jahr 1994 in einem Interview für das Magazin der Tageszeitung El País[16] berichtete Marsé, sein leiblicher Vater, damals Taxichauffeur, habe, kurz nachdem sein Sohn zur Welt gekommen war, ein Ehepaar vom Krankenhaus nach Hause gefahren. Es sei verzweifelt gewesen, da die Frau eine Fehlgeburt erlitten hatte und ihr eröffnet worden war, sie könne keine Kinder mehr bekommen. Sein Vater habe den Fahrgästen erzählt, bei ihm sei es genau umgekehrt: Seine Frau sei gestorben und er habe einen Sohn, von dem er nicht wisse, wie er ihn allein aufziehen solle. Daraufhin habe sich das Paar bereit erklärt, den Säugling zunächst für einige Monate aufzunehmen. Marsé sei schließlich auf Dauer bei den neuen Eltern geblieben. Der Autor von Marsé i la seva obra[3] stellt nun fest, die „Geschichte mit dem Taxi“ hätten sich die Erwachsenen ausgedacht, um die Verbindung zwischen Domingo Faneca, dem leiblichen, und Pep Marsé, dem späteren Adoptivvater, die sich über ihre im Franco-Spanien illegale Parteimitgliedschaft kannten, zu verschleiern und alle Beteiligten zu schützen.
Werke (Auswahl)
- 1960: Encerrados con un solo juguete. Editorial Seix Barral
- 1962: Esta cara de la luna. Plaza & Janés
- 1966: Últimas tardes con Teresa. Editorial Seix Barral
- Deutsche Ausgaben: Letzte Tage mit Teresa. Aus dem Spanischen von Andrea Rössler, Elster Verlag, Moos & Baden-Baden 1988, ISBN 978-3-89151-056-8. Wagenbach Verlag, Berlin 2008, ISBN 978-3-8031-2587-3
- 1970: La oscura historia de la prima Montse. Editorial Seix Barral
- Deutsche Ausgaben: Die obskure Liebe der Montserrat Claramunt. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein, Elster Verlag, Moos & Baden 1991, ISBN 978-3-89151-112-1. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2004, ISBN 978-3-423-13185-8
- 1973: Si te dicen que caí. Editorial Novaro
- Deutsche Ausgabe: Wenn man dir sagt, ich sei gefallen ... Aus dem Spanischen von Annette Uppenkamp und Hans-Joachim Hartstein, Elster Verlag, Moos & Baden-Baden 1986, ISBN 978-3-89151-023-0
- 1978: La muchacha de las bragas de oro. Editorial Planeta
- 1982: Un diá volveré. Plaza & Janés
- 1984: Ronda del Guinardó. Editorial Seix Barral
- Deutsche Ausgaben: Ronda del Guinardó. Aus dem Spanischen von Elisabeth Müller und Hans-Joachim Hartstein, Elster Verlag, Moos & Baden-Baden 1989, ISBN 978-3-89151-080-3. Piper Verlag, München 1992, ISBN 978-3-492-11454-7
- 1987: Teniente Bravo. Editorial Seix Barral
- 1990: El amante bilingüe. Editorial Planeta
- Deutsche Ausgaben: Der zweisprachige Liebhaber. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein, Elster Verlag, Moos & Baden-Baden 1993, ISBN 978-3-89151-163-3. Wagenbach Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-8031-2571-2
- 1993: El embrujo de Shanghai. Plaza & Janés
- Deutsche Ausgaben: Der Zauber von Shanghai. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein, Elster Verlag, Baden-Baden & Zürich 1995, ISBN 978-3-89151-214-2. Deutscher Taschenbuch-Verlag 2003, ISBN 978-3-423-13040-0
- 2000: Rabos de lagartija. Editorial Lumen
- Deutsche Ausgaben: Stimmen in der Schlucht. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz, Hanser Verlag, München und Wien 2002, ISBN 978-3-446-20218-4. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2005, ISBN 978-3-423-13402-6
- 2004: La gran desilusión. Editorial Seix Barral
- 2005: Canciones de amor en Lolita’s club. Editorial Areté
- Deutsche Ausgabe: Liebesweisen in Lolitas Club. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz, Wagenbach Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-8031-3213-0
- 2011: Caligrafía de los sueños. Editorial Lumen
- Deutsche Ausgabe: Kalligraphie der Träume. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz, Wagenbach Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-8031-3240-6.
- 2014: Noticias felices en aviones de papel. Editorial Lumen
- Deutsche Ausgabe: Gute Nachrichten auf Papierfliegern. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Wagenbach Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-8031-1315-3
- 2016: Esa puta tan distinguida. Editorial Lumen
- 2017: Colección particular. Editorial Lumen
Verfilmungen[15]
- Libertad provisional (Mitarbeit am Drehbuch durch Marsé, Regisseur: Roberto Bodegas, 1976)
- La oscura historia de la prima Montse (Regisseur: Jordi Cadena, 1977)
- La muchacha de las bragas de oro (Regisseur: Vicente Aranda, 1980)
- Últimas tardes con Teresa (Regisseur: Gonzalo Herralde, 1984)
- Si te dicen que caí (Regisseur: Vicente Aranda, 1989)
- El amante bilingüe (Regisseur: Vicente Aranda, 1993)
- Das rote Strumpfband (Kurzfilm, Drehbuch basierend auf Marsés Erzählung La liga roja en el muslo moreno, Regisseur: Markus Fischer, 1999)
- Domenica (Verfilmung von Ronda del Guinardó, Regisseurin: Wilma Labate, 2001)
- El embrujo de Shangai (Regisseur: Fernando Trueba, 2002)
- Canciones de amor en Lolita’s Club (Regisseur: Vicente Aranda, 2007)
Auszeichnungen (Auswahl)
- 1965: Premio Biblioteca Breve für Últimas tardes con Teresa
- 1990: Premio Ateneo de Sevilla für El Amante bilingüe
- 1994: Premio de la Crítica und Aristeion-Preis für El Embrujo de Shanghai
- 1997: Premio Rulfo[22]
- 2000: Premio Nacional de la Crítica für Rabos de lagartija
- 2001: Premio Nacional de Narrativa für Rabos de lagartija
- 2008: Premio Cervantes
- 2016: Premio Liber
Literatur
- Sebastian Schoepp: Zum Tod von Juan Marsé. In: SZ. 20. Juli 2020, S. 10.
Weblinks
- Literatur von und über Juan Marsé im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Juan Marsé bei IMDb
- Literatur von und über Juan Marsé im Katalog des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin
- Juan Marsé. In: Bibliotecas del Instituto Cervantes absysNET Opac. (spanisch).
Einzelnachweise
- ↑ Der Autor des „kleinen Mannes“, Juan Marsé, ist tot. In: Zeit Online. 19. Juli 2020, abgerufen am 20. Juli 2020.
- ↑ a b Sebastian Schoepp: Der Chronist Barcelonas schlechthin. In: Süddeutsche Zeitung. 19. Juli 2020, abgerufen am 9. September 2025.
- ↑ a b c d Juan Marsé i la seva obra. Biblioteca Trinitari Fabregat, 20. Juli 2020, abgerufen am 9. September 2025 (katalanisch).
- ↑ a b Juan Marsé, galardonado con el Premio Liber al autor hispanoamericano más destacado. (PDF) Federación de Gremios de Editores de España, August 2016, abgerufen am 9. September 2025 (spanisch).
- ↑ a b c Christian Thomas: Die Stimmen Barcelonas. In: Frankfurter Rundschau. 19. Juli 2020, abgerufen am 9. September 2025.
- ↑ a b c Juan Marsé, múltiple. Revista Pijao, abgerufen am 9. September 2025 (spanisch).
- ↑ Jose Madrid: Juan Marsé: un editor gráfico y una escritora, los hijos y herederos de su legado. 20. Juli 2020, abgerufen am 9. September 2025 (spanisch).
- ↑ a b c Juan Marsé. Biografía. Departamento de Bibliotecas y Documentación del Instituto Cervantes, abgerufen am 9. September 2025 (spanisch).
- ↑ Juan Marsé. Gobierno de España, abgerufen am 9. September 2025 (spanisch).
- ↑ Juan Marsé. Prizes. Agencia Literaria Carmen Balcells, abgerufen am 9. September 2025 (englisch).
- ↑ Michael Eaude: Juan Marsé obituary. In: The Guardian. 23. Juli 2020, ISSN 0261-3077 (theguardian.com [abgerufen am 9. September 2025]).
- ↑ Tous les livres de Juan Marsé. Book Node, abgerufen am 9. September 2025 (französisch).
- ↑ Juan Marsé - Bompiani. Abgerufen am 9. September 2025 (italienisch).
- ↑ Ricard Martín: Marsé, traduït al català per primer cop. In: Time Out Barcelona. (timeout.cat [abgerufen am 9. September 2025]).
- ↑ a b Juan Marsé. Cine & TV. Agencia Literaria Carmen Balcells, abgerufen am 9. September 2025 (spanisch).
- ↑ a b c d Sol Alameida, Juan Marsé. La mirada leal, El País Semanal, 6./7. August 1994 (spanisch)
- ↑ Ramón González Correales: Juan Marsé: la muerte de un gran escritor de los 50. In: Hyperbole. 19. Juli 2020, abgerufen am 9. September 2025 (spanisch).
- ↑ a b Reinhold Görling, Vom Eindringen in fremde Häuser, Frankfurter Rundschau, 3. September 1988
- ↑ Matthias Altenburg, Liebe im Klassenkrieg, Stern Nr. 32, 4. August 1988
- ↑ Wolfgang Leppmann, Tennisklub hinter Klostermauern, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. September 1991
- ↑ Albrecht Buschmann im Gespräch mit Marietta Schwarz: Schriftsteller Juan Marsé gestorben - Ein Meister der Atmosphäre. Deutschlandfunk Kultur, 19. Juli 2020, abgerufen am 9. September 2025.
- ↑ Marsé gana el Premio Rulfo, el Cervantes latinoamericano, El País, 1. Juli 1997 (spanisch)