Joseph Caillaux

Joseph Caillaux

Joseph (Marie Auguste) Caillaux (* 30. März 1863 in Le Mans; † 21. November 1944 in Mamers) war ein französischer Politiker der Dritten Republik und von Juni 1911 bis Januar 1912 Premierminister. Er war ein früher Befürworter einer nationalen Einkommensteuer und wurde für seine Opposition gegen den Ersten Weltkrieg strafrechtlich verurteilt, aber später rehabilitiert.

Leben

Caillaux stammte aus einer angesehenen Familie: Bereits sein Vater Eugène Caillaux hatte zweimal Ministerposten innegehabt.

Nach einer Laufbahn in der Finanzverwaltung ab 1888 wurde er 1898 in die Nationalversammlung gewählt. Der anfangs liberale Politiker wandte sich nach der Dreyfus-Affäre der Parti républicain, radical et radical-socialiste zu. 1899 wurde er zum ersten Mal Finanzminister im Kabinett von Pierre Waldeck-Rousseau, ein Amt, das er bis 1902 innehatte. Von 1906 bis 1909 bekleidete er erneut diesen Posten, diesmal in der Regierung von Georges Clemenceau. In dieser Zeit brachte Caillaux den ersten Entwurf für eine progressive Einkommensteuer ein, der aber am Senat scheiterte.[1] 1911 war er erneut Finanzminister, diesmal im kurzlebigen Kabinett von Ernest Monis. Caillaux’ Entwurf einer Einkommensteuer wurde erst in der ersten Amtszeit René Vivianis 1914 verabschiedet; er trat in der fünften Amtszeit Aristide Briands am 1. Januar 1916 in Kraft.[2]

Kurz nach Beginn seiner Amtszeit als Ministerpräsident am 27. Juni 1911 brach die Zweite Marokkokrise aus. Caillaux versuchte einen Kompromiss zu finden, der dem Deutschen Reich erlaubte, seine kommerziellen Interessen in Afrika zu wahren. Diese versöhnliche Haltung war in seinem Kabinett umstritten. Insbesondere Außenminister Justin de Selves riet dazu, mit der Flotte Präsenz zu zeigen, was die Krise leicht hätte eskalieren lassen. Nach Caillaux’ Veto dagegen begannen die Falken aus dem Außenministerium die Presse zu einer Kampagne zu ermuntern, Caillaux wäre unpatriotisch. Der Ministerpräsident war darüber so erbost, dass er dem Herausgeber des konservativen Figaro Gaston Calmette drohte, er werde ihn zerbrechen wie einen Bleistift. Über geheime Kanäle gelang es Caillaux am Quai d’Orsay vorbei eine Einigung mit Deutschland zu finden:[3] Das Marokko-Kongo-Abkommen besiegelte das französische Protektorat über Marokko, trug aber auch den Interessen des Reiches deutlich Rechnung. Caillaux’ Kompromissbereitschaft war auf militärische Schwäche zurückzuführen: Der von ihm eingesetzte Chef des Generalstabes Joseph Joffre schätzte Frankreichs Chancen im Fall eines Krieges mit Deutschland auf unter 70 %.[4] Aufgrund des Abkommens wurde Caillaux’ Versöhnungspolitik öffentlich massiv in Verruf gebracht. Nachdem sich ein Senatsausschuss kritisch geäußert hatte, trat er im Januar 1912 als Ministerpräsident zurück.

1913/14 war Caillaux ein viertes Mal Finanzminister, diesmal unter dem Radikalen Ministerpräsident Gaston Doumergue. 1913 war Caillaux für kurze Zeit Vorsitzender des Parti radical, den er mit einem entschiedenen Linkskurs führte. Dies drückte sich unter anderem in seiner strikten Opposition gegen die Verlängerung der Dienstzeit in der Armee auf drei Jahre am Vorabend des Ersten Weltkrieges aus, von der er wie andere linke Politiker annahm, sie würde das Risiko eines Kriegs vergrößern.[5]

Im Januar 1914 begann der Figaro mit einer Serie von Artikeln gegen Caillaux, die seine geheimen Kontakte mit den Deutschen, seinen Missbrauch seiner Macht als Finanzminister und Verwicklung in Finanzskandale aufdecken sollten. Herausgeber Calmette legte es augenscheinlich darauf an, Caillaux zu zerstören. Am 13. März veröffentlichte er einen Brief, den Caillaux 1901 an seine spätere Ehefrau Berthe Gueydan geschrieben hatte, die damals noch mit jemand anderem verheiratet war. Die zärtliche Unterschrift „ton Jo“ (Dein Jo) machte klar, dass beide ein ehebrecherisches Verhältnis unterhalten hatten. Diese Veröffentlichung beunruhigte Caillaux’ zweite Ehefrau Henriette, da sie ein Liebesverhältnis mit ihm eingegangen war, als beide noch anderweitig verheiratet waren. Nun befürchtete sie, dass auch ihre eigenen Briefen an Caillaux oder die, die er an sie geschrieben hatte, veröffentlicht werden könnten. Am 16. März 1914 ging sie deshalb die Redaktion des Figaro und erschoss Calmette mit einem Revolver.[6] Am folgenden Tag trat Caillaux als Finanzminister zurück, übernahm die Verteidigung seiner Frau und erreichte am 28. Juli 1914 einen Freispruch.[7] Der Sensationsprozess nahm die Aufmerksamkeit der französischen Öffentlichkeit deutlich stärker in Anspruch als die Julikrise, die gleichzeitig ablief und in den Ersten Weltkrieg mündete.[8]

Im Weltkrieg trat Caillaux für Verhandlungen und einen Friedensschluss mit dem Deutschen Reich ein. Dafür warf ihm Premierminister Georges Clemenceau 1917 vor, gemeinsame Sache mit Deutschland zu machen. Am 14. Januar 1918 wurde Caillaux auf Betreiben Clemenceaus verhaftet und in einem erst im Februar 1920 eröffneten Prozess wegen Landesverrat zu drei Jahren Haft verurteilt. Da die durch die lange Untersuchungshaft als verbüßt galten, konnte er den Gerichtssaal als freier Mann verlassen. Das harte Vorgehen gegen seinen Parteifreund trug Clemenceau auch aus dem Parti radical den Vorwurf ein, er habe im Krieg mit autoritären Methoden regiert.[9]

Joseph Caillaux (1925)

Im Januar 1925 wurde Caillaux in einem hochumstrittenen Amnestiegesetz, – in der Abgeordnetenkammer kam es deswegen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen – rehabilitiert.[10] im April 1925 wurde er erneut Finanzminister im Kabinett von Paul Painlevé, konnte der Krise des Francs in dieser Zeit aber kaum etwas entgegensetzen. Das lag unter anderem am Konflikt mit Édouard Herriot, Caillaux’ Nachfolger als Vorsitzender des Parti radical. Im Oktober 1925 spitzte sich der Streit zwischen beiden auf dem Parteitag in Nizza derart zu, dass das Kabinett geschlossen zurücktrat.[11] Im Juni 1926 ernannte Aristide Briand Caillaux zum Finanzminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten in seinem zehnten Kabinett, mit dem er versuchte, auch die Unterstützung der gemäßigten Rechten zu bekommen – laut dem französischen Historiker Serge Berstein eine „veritable Kriegserklärung“ an Herriot, der weiter an der Linkspolitik des Cartel des gauches festhalten wollte.[12] Caillaux dagegen plante ein Ermächtigungsgesetz beschließen zu lassen, das der Regierung größere Handlungsfreiheit bei der , Überwindung der Währungskrise geben sollte. Dies verweigerte Herriot, und Briand musste zurücktreten.[13] Das Cartel des gauches war gescheitert, am 23. Juli 1926 wurde der liberal-konservative Raymond Poincaré Ministerpräsident.

Immerhin war es Caillaux in seiner vorletzten Amtszeit gelungen, mit dem britischen Schatzkanzler Winston Churchill ein Fundierungsabkommen über die Kriegsschulden, die die französische Regierung während des Weltkriegs bei der britischen Regierung aufgenommen hatte. Die Abgeordnetenkammer weigerte sich aber, das Abkommen zu ratifizieren, solange nicht sichergestellt wäre, dass Frankreich immer genug Reparationen erhielt, um damit seine Kriegsschulden zu bezahlen.[14]

Von 1925 bis 1940 gehörte Caillaux dem Senat an, wo er als Vorsitzender des Finanzausschusses weiter erheblichen Einfluss auf die französische Haushaltspolitik entfaltete. Im Juni 1935 amtierte er ein letztes Mal als Finanzminister im kurzlebigen Kabinett von Fernand Bouisson. 1937 beteiligte er sich am Sturz der Volksfrontregierung Léon Blums und unterstützte die Appeasement-Politik von Ministerpräsident Édouard Daladier mit dem nationalsozialistischen Deutschland 1938/39. Am 10. Juli 1940 stimmte er in der Nationalversammlung für die erweiterten Vollmachten für Marschall Pétain. Danach zog er sich aus der Politik zurück.[15]

Literatur

  • Jean-Claude Allain: Joseph Caillaux. Imprimerie nationale, Paris 1978–1981. Zwei Bände:
    • Le défi victorieux 1863-1914. Imprimerie nationale, Paris 1978;
    • L’oracle 1914–1944. Imprimerie nationale, Paris 1981.
  • Rudolph Binion: Defeated Leaders. The political fate of Caillaux, Jouvenel, and Tardieu. Columbia University Press, New York 1960.
  • Jean-Denis Bredin: Joseph Caillaux. Hachette, Paris 1980.
Commons: Joseph Caillaux – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Pierre Ancery: Le combat de Jaurès pour la création de l'impôt sur le revenu. In: Retronews / Echo de Presse. 10. Dezember 2018, abgerufen am 23. Juni 2023 (französisch).
  2. Fabienne Bock: Finances publiques en temps de guerre, 1914–1918 : Déstabilisation et recomposition des pouvoirs. Institut de la gestion publique et du développement économique, 2016, ISBN 978-2-11-129410-3 (google.de).
  3. Christopher Clark: Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, ISBN 978-3-421-04359-7, S. 272 f.
  4. Raymond Poidevin, Jacques Bariéty: Frankreich und Deutschland. Die Geschichte ihrer Beziehungen 1815–1975. C.H. Beck, München 1982, S. 250 ff.
  5. Raymond Poidevin, Jacques Bariéty: Frankreich und Deutschland. Die Geschichte ihrer Beziehungen 1815–1975. C.H. Beck, München 1982, S. 280.
  6. Benjamin Franklin Martin: Years of Plenty, Years of Want: France and the Legacy of the Great War. Cornell University Press, Ithaca 2013, S. 18 ff.
  7. Edward Berenson, The Trial of Madame Caillaux, University of California Press, Berkeley / Los Angeles 1992.
  8. Christopher Clark: Die Schlafwandler. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, S. 521 f.
  9. Jean-Jacques Becker, Serge Berstein: Victoire et frustrations 1914–1929 (=Nouvelle histoire de la France contemporaine, Bd. 12). Editions du Seuil, Paris 1990, ISBN 2-02-012069-0, S. 120, 195 f. und 199.
  10. Jean-Jacques Becker, Serge Berstein: Victoire et frustrations 1914–1929. Editions du Seuil, Paris 1990, S. 259 f.
  11. Jean-Jacques Becker, Serge Berstein: Victoire et frustrations 1914–1929. Editions du Seuil, Paris 1990, S. 270.
  12. Jean-Jacques Becker, Serge Berstein: Victoire et frustrations 1914–1929. Editions du Seuil, Paris 1990, S. 271 f.
  13. Raymond Poidevin, Jacques Bariéty: Frankreich und Deutschland. Die Geschichte ihrer Beziehungen 1815–1975. C.H. Beck, München 1982, S. 354.
  14. Bruce Kent: The Spoils of War. The Politics, Economics, and Diplomacy of Reparations 1918–1932. Clarendon, Oxford 1989, S. 268 f
  15. Joseph Caillaux 1863 - 1944. In: Assemblée nationale. Abgerufen am 27. März 2023 (französisch).
VorgängerAmtNachfolger

Ernest Monis
Premierminister von Frankreich
27.06. 1911 – 14.01. 1912

Raymond Poincaré

Paul Peytral
Raymond Poincaré
Louis-Lucien Klotz
Charles Dumont
Anatole de Monzie
Raoul Péret
Louis Germain-Martin
Finanzminister
22.06. 1899 – 07.06. 1902
25.10. 1906 – 24.07. 1909
02.03. 1911 – 27.06. 1911
22.12. 1913 – 17.03. 1914
17.04. 1925 – 29.10. 1925
23.06. 1926 – 19.07. 1926
01.06. 1935 – 04.06. 1935

Maurice Rouvier
Georges Cochery
Louis-Lucien Klotz
René Renoult
Paul Painlevé
Anatole de Monzie
Marcel Régnier

Ernest Monis
Innen- und Religionsminister
27.06. 1911 – 14.01. 1912

Théodore Steeg