Johanna Sichel

Johanna Sichel (* 5. April 1879 in Mainz; † Datum und Todesort unbekannt) war eine deutsche Lehrerin. Sie wurde aufgrund der nationalsozialistischen Rassenpolitik angesichts ihrer jüdischen Abstammung im Zuge der Arisierungsmaßnahmen in Mainz aus dem Schuldienst entlassen. Trotz ihrer frühen Konversion zum katholischen Glauben galt sie im NS-Staat als Volljüdin und wurde im März 1942 in das jüdische Ghetto und Durchgangslager nach Piaski in Polen deportiert. Ihre frühere Schülerin, Annette „Netti“ Reiling alias Anna Seghers, setzte ihr in einem ihrer bekanntesten Werke, Der Ausflug der toten Mädchen, ein literarisches Denkmal.[1]
Familie, Jugend und Ausbildung
Johanna Sichel wurde als zwölftes und jüngstes Kind des Kistenfabrikanten und Schreinermeisters Aaron Moses Sichel und seiner Frau Fanny Sichel geborene Bissinger geboren.[2] Die Familie wohnte in der Magarethengasse 10 in der Mainzer Altstadt[3] und in direkter Nachbarschaft zur Synagoge der orthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft. Mit sechs Jahren begann ihre schulische Ausbildung an einer Mädchenschule, dem Institut einer Frau Klein. 1889 wurde in Mainz die Höhere Mädchenschule (heute: Frauenlob-Gymnasium Mainz) gegründet und Johanna Sichel wechselte dorthin. Mit 16 Jahren machte sie hier 1895 ihren Schulabschluss. Da ihr Berufswunsch Lehrerin bereits feststand, besuchte sie im Anschluss für zwei Jahre das Großherzogliche Lehrer-Seminar in Darmstadt. Ihre Abschlussprüfung dort bestand sie mit 18 Jahren an Ostern 1897. Sie hospitierte danach für ein Jahr an ihrer alten Schule, um praktische Schulerfahrungen zu sammeln und ging dann für zwei Jahre nach England um ihre Englischkenntnisse zu verbessern. Nach ihrer Rückkehr im Jahr 1900 erhielt Johanna Sichel allerdings keine Stelle im Schuldienst und arbeitete zwei Jahre im Geschäft ihres Bruders. Nebenbei erteilte sie Privatunterricht.
Johanna Sichel als Lehrerin
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Regelung, jüdische Lehrer und Lehrerinnen nur dann an Schulen einzustellen, wenn in einem der angebotenen Lehrfächer ein Mangel an Lehrkräften gab.[4] Dies war 1902 an der Höheren Mädchenschule in Mainz im Fach „Israelitische Religion“ aber der Fall. So erhielt Johanna Sichel, nach fünfjähriger Wartezeit, eine Anstellung als Lehrerin für die Fächer Englisch, Deutsch, Französisch und Israelitische Religion an ihrer alten Schule. Schnell galt sie als beliebt bei Schülerinnen und Kollegen (siehe auch Kapitel: Rezeption „Der Ausflug der toten Mädchen“).[5][4] Im Mai 1906 wurde sie endgültig fest angestellt und unterrichtete weiter in den ihr zugwiesenen Schulfächern. 1919 gab Johanna Sichel das Fach „Israelitische Religion“ ab, nachdem sie – aus nicht näher bekannten Gründen – zum katholischen Glauben übergetreten war. Für die nächsten 14 Jahre ist über Johanna Sichel nichts weiter bekannt.
Entlassung aus dem Schuldienst und folgende Jahre


Nach 31 Jahren (1902 bis 1933) Dienst, zuletzt als Oberreallehrerin an der Höheren Mädchenschule Mainz, wurde Johanna Sichel mitten im Schuljahr 1933 vorläufig aus dem Schuldienst entlassen. Ein Schreiben des Hessischen Staatsministeriums, datiert vom 14. Juli 1933, wies das Kuratorium der Studienanstalt und Frauenschule Mainz an, Johanna Sichel rückwirkend zum 1. Juli 1933 in den vorläufigen Ruhestand zu versetzen. Begründet wurde dies mit dem am 7. April 1993 in Kraft getretenen Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und dessen § 4:
„Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden. Auf die Dauer von drei Monaten nach der Entlassung werden ihnen ihre bisherigen Bezüge belassen. Von dieser Zeit an erhalten sie drei Viertel des Ruhegeldes (§ 8) und entsprechende Hinterbliebenenversorgung.“
Mit Johanna Sichel wurden auch ihr ebenfalls jüdischer Kollege Moritz Lörge und ihre jüdische Kollegin Sophie Cahn mit sofortiger Wirkung entlassen. Am 5. Februar 1934 wurde sie dann in den endgültigen Ruhestand versetzt.[6]
1939 versuchte Johanna Sichel vergeblich, wieder in den Staatsdienst aufgenommen zu werden. Sie berief sich in ihrem Antragschreiben vom 8. September 1939 auf das „Gesetz über die Einstellung von Ruhestandsbeamten“. In einem Schreiben an den Reichsstatthalter in Hessen vom 14. September 1939 in dieser Angelegenheit unterstrich der Direktor der Frauenlobschule (Die Höhere Mädchenschule wurde 1938 in Frauenlob Gymnasium umbenannt) persönlich, den Johanna Sichel zwangsweise verliehenen zweiten Vornamen „Sara“ und weist darauf hin, dass sie, auch durch den behördlich verordneten Zweitnamen, „Volljüdin“ sei. Er schließt sein Schreiben mit den Worten:
„Sie kommt für unsere Schule als Jüdin zur Einstellung nicht in Frage.“
Anders als beispielsweise ihrer ehemaligen Kollegin Sophie Cahn und vielen anderen jüdischen Lehrkräften, war Johanna Sichel nach ihrer Entlassung die Möglichkeit verwehrt, ihre Arbeit an einer jüdischen Schule fortzusetzen. Durch ihre Konvertierung zum katholischen Glauben kam sie für eine jüdische Schule wie die 1934 neu geschaffene liberale „Jüdische Bezirksschule“ oder die orthodox geprägte Schule der Israelitischen Religionsgesellschaft („Bondi-Schule“), nicht mehr in Betracht. 1941 gab sie dem aus einer „privilegierten Mischehe“ stammenden und katholisch erzogenen Michael Scheuer Privatunterricht, bis dessen Familie emigrierte. Sie wohnte zu diesem Zeitpunkt bereits in einem „Judenhaus“ in der Taunusstraße 31.[7]
Deportation und Tod
Bei dem ersten großen Transport jüdischer Einwohner aus Mainz (Transportbezeichnung DA14) zwischen dem 20. und 25. März 1942 wurde Johanna Sichel (Kennnummer 881) zusammen mit Hedwig Reiling, der Mutter ihrer früheren Schülerin Netti Reiling/Anna Seghers[8] und rund 1000 anderen Deportierten aus Mainz, Worms und Darmstadt in das Juden-Ghetto nach Piaski in Polen deportiert. Ein letztes Lebenszeichen von ihr gab es im Oktober 1942[1], danach verliert sich die Spur von Johanna Sichel. Es ist nicht bekannt, ob sie bereits in dem Durchgangslager Piaski starb oder, nach dessen Auflösung im Frühjahr 1943, in eines der großen Konzentrationslager in Polen verbracht wurde und dort verstarb.
Rezeption
Anna Seghers schrieb 1944 im mexikanischen Exil die Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen, die autobiographische Bezüge hat. Die Ich-Erzählerin „Netty“ (Anna Seghers verwendete diesen Vornamen im Exil) und ihre zwölf damaligen Schulkameradinnen machen mit zwei Lehrerinnen, darunter Frau Sichel, vor dem ersten Weltkrieg einen Schulausflug. Seghers komplexe Erzählung über den Ausflug, die unterschiedlichen weiteren Schicksalsverläufe bei den Lehrerinnen und den Mädchen, vermischt mehrere Zeitebenen (Vor dem Ersten Weltkrieg, Zeit des Nationalsozialismus, Exil in Mexiko) und beinhaltet auch die sich drastisch veränderte Behandlung der einstmals verehrten Lehrerin durch einige ihrer Schülerinnen in ihrem späteren Leben:
„Ich hörte eine Weile das Gestreite, wo die jüngere Lehrerin, Frau Sichel, die gerade aus dem Gasthaus trat, sich am besten setzen könnte. Die Dunstwolke verschwebte vor meinen Augen, so dass ich Fräulein Sichel genau erkannte, die frisch und hell gekleidet einherkam wie ihre Schülerinnen. Sie setzte sich dicht neben mich, die hurtige Nora schenkte ihr, der Lieblingslehrerin, Kaffee ein: In ihrer Gefälligkeit und Bereitschaft hatte sie Fräulein Sichels Platz sogar geschwind mit ein paar Jasminzweigen umwunden. Das hätte die Nora sicher, wäre ihr Gedächtnis nicht ebenso dünn gewesen wie ihre Stimme, später bereut, als Leiterin der Nationalsozialistischen Frauenschaft unserer Stadt.
Jetzt sah sie mit Stolz [...] zu, wie Fräulein Sichel eine von diesen Jasminzweigen in das Knopfloch ihrer Jacke steckte. Im Ersten Weltkrieg würde sie sich noch immer freuen, dass sie in einer Abteilung des Frauendienstes, der durchfahrende Soldaten tränkte und speiste, die gleiche Dienstzeit wie Fräulein Sichel hatte. Doch später sollte sie diesselbe Lehrerin, die dann schon greisenhaft zittrig geworden war, mit groben Worten von einer Bank am Rhein herunterjagen, weil sie auf einer judenfreien Bank sitzen wollte [...]
Alle übrigen Mädchen an unserem Tisch freuten sich mit Nora über die Nähe der jungen Lehrerin, ohne zu ahnen, daß sie später das Fräulein Sichel bespucken und als Judensau verhöhnen würden [...]“
Ein Stolperstein für Johanna Sichel wurde vom Verein für Sozialgeschichte Mainz und dem Frauenlob-Gymnasium gespendet und am 13. März 2013 in der Rheinallee 3 und damit in direkter Nähe zu ihrem langjährigen Arbeitsort (nicht Wohnort, wie irrtümlich bei der Inschrift angegeben) verlegt.
Tristan Blaskowitz von der Hochschule Mainz drehte 2014 in Zusammenarbeit mit der Stolperstein-AG der Frauenlobschule in Mainz einen experimentellen Kurzfilm (3:58 Minuten) über Johanna Sichel.[9]
Literatur
- Das Schicksal der Lehrerin Johanna Sichel. in: Hans Berkessel, Hedwig Brüchert, Wolfgang Dobras, Ralph Erbar und Frank Teske (Hrsg.): Leuchte des Exils. Zeugnisse jüdischen Lebens in Mainz und Bingen. Beiträge zur Geschichte der Juden in Rheinland-Pfalz, Band 1 S. 110–113, Nünnerich-Asmus Verlag, Mainz. ISBN 978-3-945751-69-5
- Eva Weickart, Reinhard Frenzel: Johanna Sichel In: Frauenbüro Landeshauptstadt Mainz (Hrsg.): Frauenleben in Magenza. Die Porträts jüdischer Frauen und Mädchen aus dem Mainzer Frauenkalender und Texte zur Frauengeschichte im jüdischen Mainz. S. 28, 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, Mainz 2021 (PDF; 12,1 MB).
Weblinks
- Stolpersteine in Mainz – Johanna Sichel
- Photographie von Johanna Sichel um 1932 – Johanna Sichel hinter der Klasse V2 stehend (Bildarchiv Mainz)
Einzelnachweise
- ↑ a b Hans Berkessel, Hedwig Brüchert, Wolfgang Dobras, Ralph Erbar und Frank Teske (Hrsg.): Leuchte des Exils. Zeugnisse jüdischen Lebens in Mainz und Bingen. S. 119.
- ↑ Zur Familie Sichel und Johanna Sichels Geschwister ausführlich: Judenhäuser in Wiesbaden 1939 – 1942. Das Schicksal ihrer Eigentümer und Bewohner
- ↑ Die Magarethengasse lag zentral im alten jüdischen Viertel und wurde in der Mainzer Bevölkerung auch als „Judengasse“ bezeichnet
- ↑ a b Stolpersteine Mainz - Johanna Sichel
- ↑ Eva Weickart, Reinhard Frenzel: Johanna Sichel S. 26
- ↑ Fallakte Johanna Sichel - Archivinformationssystem Hessen
- ↑ Zu den Judenhäusern in Mainz siehe Judenhaus bei regionalgeschichte.net
- ↑ Annette „Netti“ Reiling war Schülerin der Höheren Mädchenschule von 1910 bis zum - kriegsbedingt - verspäteten Abitur 1920.
- ↑ SWR2 Kultur - Tristan Blaskowitz: Johanna Sichel