Jessie Tarbox Beals



Jessie Tarbox Beals (* 23. Dezember 1870 als Jessie Richmond Tarbox in Hamilton, Ontario; † 30. Mai 1942 in New York City) war eine US-amerikanische Fotografin. Sie gilt in den Vereinigten Staaten als erste Pressefotografin und erste Nachtfotografin und war nach zeitgenössischen Berichten vermutlich weltweit die erste fest angestellte Zeitungsfotografin.[1][2]
Bekannt wurde sie 1904 als freiberufliche Pressefotografin mit ihren Bildern von der Weltausstellung in St. Louis und mit dokumentarischen Aufnahmen, unter anderem aus dem New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village. Ihre selbst formulierte „Fähigkeit zur Hektik“ (to hustle) sowie ihr Beharren auf der Überwindung von Geschlechterbarrieren wurden zu ihrem Markenzeichen.[1][2]
Frühes Leben
Jessie Tarbox wurde am 23. Dezember 1870 als jüngstes Kind des Nähmaschinenherstellers John Nathaniel Tarbox und seiner Ehefrau Marie Antoinette Bassett geboren. Tarbox war als Erfinder einer tragbaren Nähmaschine und durch die Partnerschaft mit dem größten Nähmaschinenhersteller Kanadas zu Wohlstand gekommen; 1877 lief sein Patent aus, er verlor durch eine Fehlinvestition seine Ersparnisse und wurde in der Folge alkoholkrank. Schließlich trennte sich die Familie von ihm; Jessies Mutter bestritt durch Handarbeiten und den Verkauf von Gegenständen aus dem Besitz der Familie notdürftig den Lebensunterhalt.[1]
Jessie galt als „kluges und frühreifes Kind“ und erreichte in der Schule gute Noten. Im Alter von vierzehn Jahren wurde sie am Collegiate Institute of Ontario aufgenommen und bestand mit siebzehn ihr Lehrerinnenexamen. Sie zog zu ihrem Bruder Paul nach Williamsburg (Massachusetts), wo sie an einer einklassigen Schule unterrichtete. 1889 erklärte die 18-Jährige die Veranda ihres Wohnhauses kurzerhand zum ersten Fotostudio des Ortes; ihre erste, einfache Kamera hatte sie sich über ein Zeitschriftenprämienprogramm beschafft, indem sie eine Bekannte zum Abschluss eines Abonnements überredete.[2] 1888 hatte sie bereits eine kleine Kamera aus dem Jugendmagazin Youth’s Companion erhalten, fotografierte Schüler und Umgebung und investierte bald in bessere Ausrüstung; mit einer größeren Kamera verdiente sie zeitweise bis zu 150 US-Dollar am Tag.[3][4][5]
Karriere als Fotografin
1893 nahm Jessie Tarbox eine neue Stelle als Lehrerin in Greenfield an und besuchte die World’s Columbian Exposition in Chicago, wo sie u. a. Frances Benjamin Johnston und Gertrude Käsebier kennenlernte.[1] 1897 heiratete sie den Amherst-Absolventen Alfred Tennyson Beals.
Durchbruch in Buffalo (1901–1904)
Um 1900 arbeitete das Ehepaar als Wanderfotografen; Alfred richtete als Assistent eine mobile Dunkelkammer ein. Nach dem frühen Tod ihres ersten Kindes suchte Jessie neue Einnahmequellen und erzielte mit einem Foto von Gänsen, die über eine Straße watschelten – angeblich eine optische Anspielung auf den Gouverneur von New York – ihren Durchbruch: Der Buffalo Inquirer stellte sie daraufhin als Fotografin ein.[2] Damit war sie nach damaliger Presseberichterstattung vermutlich die erste Frau weltweit, die fest als Zeitungsfotografin angestellt wurde; die Negative dieser Jahre gelten als verloren, erhalten sind zwei Alben mit eingeklebten Zeitungsseiten.[2]
Weltausstellung St. Louis 1904 und Olympische Spiele
1904 reiste Beals ohne Akkreditierung zur Louisiana Purchase Exposition nach St. Louis, arbeitete dennoch auf dem Gelände und fotografierte „alles und jeden“. In den sechs Ausstellungsmonaten entstanden nach ihrer Zählung über 5000 Bilder; aufgrund exklusiver Serien – u. a. von Angehörigen indigener Völker – erhielt sie eine nachträgliche Akkreditierung und wurde gegen Ende des Sommers zur offiziellen Fotografin der Ausstellung.[2] (Zeitgenössische Angaben nennen „3.500 Motive“ und „45.000 Abzüge“.)[6][5] Beals kletterte für Übersichten auf hohe Leitern, erhielt Zugang zu einem Heißluftballon und wurde für ihre Luftaufnahmen mit einer Medaille ausgezeichnet.[2] Sie „verfolgte“ Präsident Theodore Roosevelt einen Tag lang über das Gelände; dessen Sekretär soll irritiert gefragt haben, woher „diese Frau“ so viele Glasplatten nehme.[2] Parallel dokumentierte sie Wettbewerbe der Olympischen Spiele 1904 in St. Louis.[7]
Nach der Ausstellung setzte Beals auf Sichtbarkeit: Sie kündigte in Zeitungen an, Roosevelt ein Album zu überreichen und ihn zum „Rough-Riders“-Treffen nach San Antonio zu begleiten. Im Weißen Haus gelangte sie damit bis ins Foyer; die Mitfahrt im Präsidentenzug wurde abgelehnt, doch durfte sie in Texas fotografieren – genug, um die gewünschte Serie zu produzieren.[2]
Studiojahre in New York (1905–1920er)
1905 zog das Paar nach New York City, wohnte zunächst in Hotels und mietete später wechselnde Studios; insgesamt nutzte Beals in New York mehr als zehn Ateliers.[2] In einer von künstlichen Hintergründen geprägten Studioszene erfand sie sich als Unternehmerin neu: Sie schrieb prominente Persönlichkeiten an und porträtierte sie anfangs honorarfrei, fotografierte Kinder (inkl. von ihr gedichteten Verszeilen auf den Abzügen), Haustiere, Autorennen, Tatorte, Modestrecken, Homestorys sowie Aufträge für Wohlfahrtseinrichtungen – eine Breite, die ihr kontinuierlich Aufträge einbrachte.[2] Gleichzeitig entstanden Porträts zahlreicher Künstlerinnen und Künstler sowie Stadtansichten; ihre „Fähigkeit zur Hektik“ nannte Beals neben Gesundheit, Stärke und guter Ausrüstung als wichtigste Voraussetzung für ihren Beruf („to hustle“).[2] Zu ihren Auftraggebern zählten auch Zeitungen wie New York Herald, Leslie’s Weekly und The Tribune. Sie fotografierte mehrere US-Präsidenten und Prominente, darunter Mark Twain, Edna St. Vincent Millay und Emily Post.[3]
Die Ehe kriselte; 1911 wurde ihre Tochter Nanette Tarbox Beals geboren.[1] 1917 trennte sich Beals von Alfred und eröffnete in Greenwich Village eine Galerie („Tea-Room and Village Art Gallery“).[2]
Umzug an die Westküste, Verlust des Archivs (späte 1920er)
Beals erreichte in den 1920er Jahren gesellschaftliche Anerkennung in New York (u. a. Radioauftritte, Veröffentlichung eines Gedichtbands) und reiste 1926 mehrere Wochen nach Panama, wo sie jedoch mit dem Klima rang.[2] Gegen Ende des Jahrzehnts ließ ihre Kraft nach; sie wechselte auf Kleinbild und spezialisierte sich auf Garten- und Anwesenfotografie. 1928 zog sie mit der 17-jährigen Nanette nach Kalifornien (Santa Barbara, später Hollywood) und porträtierte dort wohlhabende Kundschaft – bis der Börsenkrach 1929 die Auftragslage einbrechen ließ. Da die Mittel zur Einlagerung fehlten, verkaufte Beals den Großteil ihrer zehntausenden Glasplattennegative an einen Rahmenbauer, der Glas und Silber zurückgewann; damit gingen weite Teile ihres besten Werks verloren.[2]
Spätere Jahre
Zurück in New York begann Beals erneut bei Verlegern vorzusprechen. In der Großen Depression blieb die Auftragslage prekär; trotz Auszeichnungen und öffentlicher Auftritte verarmte sie und lebte zuletzt in einer Kellerwohnung in Greenwich Village. Am 30. Mai 1942 starb sie im Alter von 71 Jahren in der Armenstation des Bellevue Hospital in New York.[3][2]
Werk, Stil und Rezeption
Beals’ Werk ist durch thematische Vielfalt und pragmatische Auftragsannahme geprägt; spätere Deutungen, ihr Nachruhm sei wegen mangelnder „künstlerischer Geschlossenheit“ gering, greifen nach heutiger Einschätzung zu kurz, weil sie die ökonomischen Zwänge einer freiberuflich arbeitenden Pionierin ausblenden.[2] Ihre St.-Louis-Serien – inklusive Luftaufnahmen und Reportagen zu indigenen Delegationen – gelten als frühe Beispiele einer energisch betriebenen, serielle Erzählungen bevorzugenden Bildberichterstattung.[2][6]
Sammlungen
Ihre Fotografien und Drucke befinden sich u. a. in den Sammlungen der Library of Congress, der Harvard University, der New-York Historical Society und des American Museum of Natural History.[1] Einen Großteil des Nachlasses übergab 1982 ihre Tochter Nanette Beals Brainerd der Schlesinger Library am Radcliffe Institute for Advanced Study.[8] Weitere relevante Bestände liegen u. a. in der New-York Historical Society und der Missouri Historical Society.[2]
Galerie
- Fotografien von Jessie Tarbox Beals
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Weiße Katze unterm Weihnachtsbaum (ca. 1907) -
„Boy Blue“ sitzt auf einem Tisch neben einem Vogelkäfig und schaut auf einen an einer Schnur befestigten Spielzeugfrosch herab. (ca. 1903 bis 1928) -
Beagle (?) saß im Freien auf einer Steintreppe, mit dem Rücken zur Kamera. Der Rock einer knienden Frau in der Nähe des Hundes ist links sichtbar (ca. 1905 bis 1910) -
Brooklyn Bridge (1919) -
Kind schiebt einen Hund im Kinderwagen. (ca. 1908 bis 1918) -
Dr. George Dorsey (ca. 1927/1928) -
Festus J. Wade und David Rowland Francis auf der World’s Fair. (1904) -
Die olympischen Marathonläufer Len Taunyane und Jan Mashiani (1904) -
US-amerikanische Bogenschützen (1904)
Literatur
- Alexander Alland: Jessie Tarbox Beals, First Woman News Photographer. Camera/Graphic Press, New York 1978, ISBN 978-0-918696-08-3.
- Eric Breitbart: A World on Display: Photographs from the St. Louis World’s Fair. University of New Mexico, Albuquerque 1997, ISBN 978-0-8263-1742-1.
- Manuela D'Agostino: L' esperienza universale di St. Louis : un racconto attraverso le fotografie di Jessie Tarbox Beals. Rom: Carocci editore, 2018, ISBN 978-88-430-9116-4.
- George Matthews, Sandra Marshall: St. Louis Olympics 1904. Chicago: Arcadia, 2003, ISBN 978-0-7385-2329-3.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ a b c d e f Women Photojournalists: Jessie Tarbox Beals – Biographical Essay (Prints and Photographs Reading Room, Library of Congress). Abgerufen am 7. Mai 2019 (englisch).
- ↑ a b c d e f g h i j k l m n o p q r s Christine Klein: Jessie Tarbox Beals – Sie arbeitete bis zum letzten Bild. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 29. August 2025, abgerufen am 4. September 2025.
- ↑ a b c JESSIE BEALS DIES; Photo… One of First Women to Take Photos for Press. In: The New York Times. 31. Mai 1942, ISSN 0362-4331 (nytimes.com [abgerufen am 16. Juli 2019]).
- ↑ 28 Sep 1927, Page 17 – The St. Louis Star and Times at Newspapers.com. Abgerufen am 15. Juli 2019 (englisch).
- ↑ a b 27 Feb 1910, Page 32 – The St. Louis Star and Times. Abgerufen am 16. Juli 2019 (englisch).
- ↑ a b Alexander Alland: Jessie Tarbox Beals: First Woman News Photographer. Camera/Graphic Press, 1978, ISBN 978-0-918696-08-3, S. 45.
- ↑ Shoshi Parks: Scientists staged a racist Olympics in 1904 to “prove” white superiority. 29. Mai 2018, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 30. Januar 2023; abgerufen am 19. Juli 2019 (englisch).
- ↑ First Behind the Camera: Photojournalist Jessie Tarbox Beals. 13. Juni 2012, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 31. Januar 2019; abgerufen am 16. Juli 2019 (englisch).