Jean-Christophe Lagarde

Jean-Christophe Lagarde (2015)

Jean-Christophe Lagarde (* 24. Oktober 1967 in Châtellerault, Département Vienne) ist ein französischer Politiker. Er war von 2002 bis 2022 Abgeordneter in der Nationalversammlung, von 2014 bis 2022 Vorsitzender der Partei Union des démocrates et indépendants (UDI) und von 2001 bis 2017 Bürgermeister des Pariser Vororts Drancy.

Leben und Wirken

Frühe Jahre

Jean-Christophe Lagarde wurde am 24. Oktober 1967 in Châtellerault unweit von Poitiers als Sohn eines Informatikers und einer Sekretärin geboren. Sein Großvater war Arbeiter in der Textilindustrie und kommunistischer Aktivist. 1970 zogen seine Eltern in den Pariser Vorort Drancy im Département Seine-Saint-Denis. Er begann ein Hochschulstudium der Geschichtswissenschaft, das er mit der Licence abschloss, konzentrierte sich aber früh auf die Politik.

Seine politische Karriere begann 1987, als er sich im Wahlkampf von Raymond Barre, dem Kandidaten der bürgerlich-liberalen Union pour la démocratie française (UDF) für die Präsidentschaftswahl in Frankreich 1988, einsetzte. Lagarde wurde 1989 für die Mitte-rechts-Liste in den Gemeinderat von Drancy gewählt. Zur Europawahl 1989 machte er Wahlkampf für die pro-europäische Liste Le Centre pour l'Europe von Simone Veil. Lagarde trat 1990 dem christdemokratischen Centre des démocrates sociaux (CDS) bei, das Bestandteil des Mitte-rechts-Bündnisses UDF war. Im selben Jahr wurde er Vorsitzender der Jugendorganisation Jeunes démocrates sociaux (JDS).

Im Alter von 28 Jahren trat er bei den Kommunalwahlen 1995 als Bürgermeisterkandidat erfolglos gegen den kommunistischen Amtsinhaber Maurice Nilès (1919–2001) an, der seit 1959 im Amt war. 1993 und 1997 kandidierte Lagarde vergeblich für einen Sitz in der Nationalversammlung. 1996 wurde er jedoch in den Regionalrat der Île-de-France gewählt. Als die Mitgliedsparteien der UDF 1998 zu einer einheitlichen Partei (Nouvelle UDF) unter Führung von François Bayrou fusionierten, wurde Lagarde Vorsitzender der Jugendorganisation Jeunes UDF, die er bis 2001 leitete.[1][2][3][4]

2001 bis 2017: Bürgermeister von Drancy

Im März 2001 gewann er die Bürgermeisterwahl in Drancy. Die Stadt war zuvor 70 Jahre lang eine Hochburg der Kommunistischen Partei gewesen, die seit 1935 ununterbrochen den Bürgermeister gestellt hatte. Lagarde wurde mehrmals wiedergewählt, zuletzt im Jahr 2017. Nachdem er das Amt aufgegeben hatte, um gesetzlichen Regelungen zur Vermeidung von Ämterhäufung zu entsprechen, wählte der Gemeinderat im September 2017 seine Frau Aude Lavail-Lagarde als Bürgermeisterin.[2][3][5]

2002–2022 Nationalversammlung

Als Kandidat der UDF (mit Unterstützung des Präsidentenbündnisses UMP, das in seinem Wahlkreis keinen eigenen Kandidaten aufstellte) gewann Lagarde bei der Parlamentswahl im Juni 2002 den Sitz des 5. Wahlkreises im Département Seine-Saint-Denis, den zuvor fast 30 Jahre lang Abgeordnete der Linken vertreten hatten. In den Jahren 2007, 2012 und 2017 wurde er wiedergewählt. Vom 1. Dezember 2006 bis zum 19. Juni 2007 war er Vizepräsident der Nationalversammlung[6] und damit der bis dahin jüngste Parlamentarier in dieser Funktion.[3] Vom 16. November 2010 bis zum 19. Juni 2012 bekleidete er das Amt erneut.[6]

Bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich 2007 war er Sprecher des zentristischen Kandidaten François Bayrou, ging aber in der Folge auf Distanz zu diesem.[5] Im Zuge der Aufspaltung der UDF in Gegner und Befürworter einer Zusammenarbeit mit der gaullistischen Partei UMP und deren Führer Nicolas Sarkozy wählte Lagarde das Lager der Befürworter und trat der von diesen neugegründeten Partei Nouveau Centre (NC) bei. Nach Konflikten mit dem Parteivorsitzenden Hervé Morin trat Lagarde aus dem NC aus und gründete im Juli 2012 die zentristische Kleinstpartei Force européenne démocrate (FED). Sowohl FED als auch NC gehörten aber anschließend zum bürgerlichen Mitte-Bündnis Union des démocrates et indépendants (UDI) unter Führung von Jean-Louis Borloo.

Nach dem Rücktritt Borloos setzte sich Jean-Christophe Lagarde im November 2014 in der Kampfkandidatur um den Vorsitz der UDI gegen den NC-Vorsitzenden Morin durch.[3] In der Folgezeit wandelte Lagarde die UDI schrittweise von einem Parteienbündnis in eine einheitliche Partei um, von der sich Morins Partei (2016 umbenannt in Les Centristes) schließlich trennte. Ab dem 17. Oktober 2018 war er zudem UDI-Fraktionsvorsitzender in der Nationalversammlung.[6] Zur Europawahl 2019 stellte die UDI eine eigene Liste mit der Bezeichnung Les Européens und Lagarde als Spitzenkandidaten auf, die jedoch nur 2,5 der Stimmen und damit keinen Sitz erhielt.

Im März 2021 wurde Lagarde wegen unerlaubten Waffenbesitzes kurzzeitig in Haft genommen. Seine Angehörigen hatten die Polizei gerufen, weil sie einen Suizidversuch befürchteten, was Lagarde später jedoch dementierte.[7]

Bei der Parlamentswahl 2022 kam Lagarde mit 33,4 Prozent im ersten Wahlgang auf den zweiten Platz und verlor mit 46,5 Prozent die Stichwahl gegen Raquel Garrido vom Linksbündnis NUPES. Die UDI verlor bei dieser Wahl insgesamt zwei Drittel ihrer zuvor 18 Sitze in der Nationalversammlung und konnte anschließend keine eigene Fraktion mehr bilden.

In der Zeit von 2009 bis 2010 hatte Lagarde seine Schwiegermutter als parlamentarische Mitarbeiterin angestellt, die ihn bei der Redaktion eines Buchs über die Schwierigkeiten kleiner und mittlerer Unternehmen unterstützen sollte, welches jedoch nie erschien. Die Finanzstaatsanwaltschaft (Parquet national financier, PNF) klagte ihn deshalb mit dem Vorwurf der Veruntreuung öffentlicher Gelder (détournement de fonds publics) durch eine „fiktive Beschäftigung“ an. Das Strafgericht Paris sprach Lagarde im Dezember 2022 schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.[8] Bereits im Oktober 2022 war Lagarde wegen des Strafverfahrens gegen ihn vom Parteivorsitz zurückgetreten, zu seinem Nachfolger wurde der Senator Hervé Marseille gewählt.

Positionen

Als Bürgermeister von Drancy übte Jean-Christophe Lagarde 2006 scharfe Kritik am unzureichenden Engagement des französischen Zentralstaats für soziale Brennpunkte und benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Vier Jahre nach seiner Wahl in die Nationalversammlung erklärte er, unter den Abgeordneten gebe es 400, die zu nichts gut seien. Unter anderem forderte er, Bürgermeister, die den staatlich vorgeschriebenen Mindestanteil von 20 % Sozialwohnungen in ihrer Gemeinde nicht erfüllten, für unwählbar erklären zu lassen.[2]

Er sprach sich gegen die EU-Erweiterung 2004 aus, was in seinem eigenen politischen Lager der Zentristen teilweise auf Unmut stieß. 2012 stimmte er als einer von nur wenigen Abgeordneten der bürgerlichen Opposition für die Ehe für alle, als diese auf Initiative der neugewählten Regierung unter dem sozialistischen Staatspräsidenten François Hollande eingeführt wurde.[9]

Commons: Jean-Christophe Lagarde – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Qui est Jean-Christophe Lagarde, le nouveau patron de l’UDI ? In: europe1.fr. 13. November 2014, abgerufen am 29. März 2021 (französisch).
  2. a b c Luc Bronner: Jean-Christophe Lagarde : La rage d’un jeune maire de banlieue. In: lemonde.fr. 1. November 2006, abgerufen am 30. März 2021 (französisch).
  3. a b c d Jean-Christophe Lagarde. In: gala.fr. Abgerufen am 29. März 2021 (französisch, Kurzbiografie).
  4. Nadia Ténine-Michel: NILÈS Maurice. In: Le Maitron – Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier (Online). Éditions de l’Atelier, 30. November 2010, abgerufen am 30. März 2021 (französisch, zuletzt geändert am 12. Oktober 2020).
  5. a b Jean-Christophe Lagarde. In: lepoint.fr. Abgerufen am 29. März 2021 (französisch, Kurzbiografie).
  6. a b c M. Jean-Christophe Lagarde. In: Liste alphabétique des députés. Nationalversammlung (Frankreich), abgerufen am 29. März 2021 (französisch).
  7. Guillaume Biet: Le président de l'UDI Jean-Christophe Lagarde en garde à vue. Europe 1, 11. März 2021.
  8. Jean-Christophe Lagarde condamné à dix mois de prison avec sursis pour un emploi fictif à l'Assemblée. In: Le Figaro, 7. Dezember 2022.
  9. Jean-Christophe Lagarde président de l’UDI : Le nouveau visage du centre. In: parismatch.com. 14. November 2014, abgerufen am 30. März 2021 (französisch).