Jörg Oberthür
Jörg Oberthür (* 1974 in Mühlhausen/Thüringen) ist ein deutscher Soziologe. Oberthür lehrt und forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen die Theorien der Moderne, die Zeitsoziologie und den Kommunitarismus.[1]
Leben
Jörg Oberthür studierte von 1996 bis 2001 Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Jena. Von 2003 bis 2005 war er Promotionsstipendiat des Landes Thüringen und promovierte 2006 am Institut für Soziologie der FSU Jena.[1] Seine Dissertation trug den Titel "Die Einführung der grünen Gentechnik als diskursive Konstruktion".[2] Seit 2005 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine und Theoretische Soziologie in Jena tätig.[1]
Forschung
Oberthürs Forschung konzentriert sich auf grundlegende Fragen der Gesellschaftstheorie. Er ist Ko-Autor des Buches Gesellschaftstheorie, das 2020 gemeinsam mit Hartmut Rosa veröffentlicht wurde.[3] Dieses Werk dient als Einführung in die Gesellschaftstheorie und plädiert für einen starken Gesellschaftsbegriff, der Dynamiken und Spannungen der modernen Welt aufnimmt. Es dient des Weiteren studienbegleitend für den Studiengang Gesellschaftstheorie an der FSU Jena.[4] Er ist zudem Mitherausgeber des 2025 erschienenen Buches Resonanz und Kritik. Perspektiven auf eine Soziologie der Weltbeziehungen.[5]
Neben seiner akademischen Tätigkeit ist er auch Mitglied des SFB 294 "Strukturwandel des Eigentums" und in diesem Rahmen an einem Projekt zu Eigentumsverhältnissen in Deutschland und China beteiligt.[6]
Theoretische Positionen
Jörg Oberthürs soziologisches Werk ist maßgeblich von zwei zentralen theoretischen Ansätzen geprägt: der Diskurstheorie und der Resonanztheorie. Er kombiniert diese Ansätze, um moderne gesellschaftliche Phänomene zu analysieren und weiterzuentwickeln.
Diskurstheorie als Grundlage
Sein theoretischer Ausgangspunkt ist fest in der Diskurstheorie verankert, die er bereits in seiner Dissertation „Die Einführung der grünen Gentechnik als diskursive Konstruktion“[2] (2006/2008) anwendete. Er nutzt diese Perspektive, um zu untersuchen, wie politische Felder durch Diskurse geformt werden und wie diese die Handlungsspielräume der Akteure bestimmen.
Ein frühes Beispiel für seine Methode ist die Analyse des Korruptionsdiskurses als „Medium der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung“, in der er zeigt, wie Diskurse gesellschaftliche Bruchlinien aufzeigen und zur Reflexion über den Zustand einer Gesellschaft beitragen.[7]
Resonanztheorie und die Jenaer Schule der Soziologie
Oberthürs bedeutendste theoretische Positionierung ist seine Rolle innerhalb der sogenannten „Jenaer Schule“ um den Soziologen Hartmut Rosa. Er gilt als einer der Hauptakteure, die Rosas Beschleunigungs- und Resonanztheorie weiterentwickeln und in die wissenschaftliche Debatte einspeisen.
Diese enge Zusammenarbeit zeigt sich in mehreren zentralen Publikationen:
- Gesellschaftstheorie (2020): Als Mitherausgeber und Autor dieses Lehrbuchs trägt er dazu bei, eine „begriffliche Klammer“ für die Phänomene moderner Gesellschaften zu finden. Das Buch beleuchtet die Entwicklung soziologischer Grundbegriffe und wendet dabei exemplarisch die Resonanz- und Beschleunigungstheorie an. Oberthürs eigener Beitrag fokussiert auf die Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis.[8]
- Resonanz und Kritik (2025): Als Mitherausgeber dieses Bandes, der Beiträge von prominenten Kritikern der Kritischen Theorie wie Axel Honneth und Stephan Lessenich versammelt, positioniert sich Oberthür als Brückenbauer. Er trägt maßgeblich dazu bei, die Resonanztheorie einer kritischen Auseinandersetzung zu öffnen und ihre theoretische Gültigkeit durch die Konfrontation mit etablierten Kritikern zu stärken.[9]
Anwendung auf Gegenwartsphänomene und aktuelle Forschung
Oberthürs theoretisches Schaffen zeichnet sich durch die konsequente Anwendung seiner Ansätze auf aktuelle gesellschaftliche Debatten aus.
- Autonomie und Selbstbestimmung: In Publikationen wie dem Band Praktiken der Selbstbestimmung (2018) untersucht er das Spannungsverhältnis zwischen dem subjektiven Anspruch auf Autonomie und den funktionalen Anforderungen sozialer Institutionen. Dieses Thema steht in direktem Zusammenhang mit der Resonanztheorie, da diese gelungene Weltbeziehungen von der Fähigkeit zur Selbstbestimmung abhängig macht.[10]
- Technologiekritik und Postwachstumsdebatte: In seinem Beitrag zum Band Wachstum – Krise und Kritik (2017) erweitert er die Beschleunigungskritik Rosas um eine spezifisch technologiekritische Perspektive. Er analysiert die sozialen und subjektiven Folgen einer kapitalistisch-industriellen Lebensweise, die durch technologischen Fortschritt angetrieben wird.[11]
- Eigentum als Weltbeziehung: In seinem aktuellen Forschungsprojekt im Rahmen des Sonderforschungsbereichs Strukturwandel des Eigentums (SFB TRR 294) analysiert Oberthür Eigentum nicht nur als ökonomische oder rechtliche Kategorie, sondern als eine spezifische Form der Weltbeziehung. Dieses Vorhaben überführt die abstrakte Resonanztheorie in ein operationalisierbares Forschungsprogramm und verknüpft sie mit einem klassischen soziologischen Konzept.[6]
Schriften (Auswahl)
Monographien und Herausgeberschaften
- Gesellschaftstheorie. München: UVK. 2020 (Hrsg. zus. m. Bohmann, U.; Gregor, Joris A.; Lorenz, S.; Rosa, H.; Scherschel, K.; Schulz, P.; Schwab, J.; Sevignani, S.).
- Praktiken der Selbstbestimmung. Zwischen subjektivem Anspruch und institutionellem Funktionserfordernis. Wiesbaden: Springer VS 2018 (Hrsg. zus. mit Börner, S.; Lindner, D.; Bohmann, U.; Stiegler, A.).
- AK Postwachstum: Wachstum – Krise und Kritik. Die Grenzen der kapitalistischindustriellen Lebensweise, Frankfurt a.M./New York: Campus 2017 (Hrsg. zus. mit AK Postwachstum).
- Kultureller und sprachlicher Wandel von Wertbegriffen in Europa. Interdisziplinäre Perspektiven. Frankfurt am Main. Peter Lang. 2012. (Hrsg. Mit N. Mull, R. Lühr und H. Rosa).
- Die Einführung der grünen Gentechnik als diskursive Konstruktion. Baden-Baden. Nomos. 2008.
- Die Neuausrichtung der Politik des BMVEL und die Politikerwartung des Interessenumfeldes (Agrarwende und neue Verbraucher-, Ernährungs- und Agrarpolitik). Abschlussbericht zum Forschungsprojekt 02HS035 der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung. Bonn. 2003 (zus. mit Hans-Joachim Giegel)
Zeitschriftenbeiträge
- Ehrenberg, Alain: Das Unbehagen in der Gesellschaft. Rezension. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Jg. 67, Heft 1/2015. S: 147–151.
- Neuro-Enhancement: Aspekte der gesellschaftlichen Kontroverse. in: Suchtmagazin, Jg. 39(2013), H. 3, S. 10–14
- Indikator fundamentaler Verwerfungslinien: Der Korruptionsdiskurs als Medium der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung. In: Soziologische Revue. Heft 1. Januar 2008. München (mit Hartmut Rosa).
- Der Verbraucher im Fokus politischer Krisenkommunikation. Sammelrezension. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen. Heft 4/2005. Berlin (mit Michael Beetz).
Buchbeiträge
- Die institutionalisierte Resilienz des autonomen Individuums als Gesellschafts- und Theorieproblem. In: Graefe, Stefanie; Becker, Karina (Hrsg.): Mit Resilienz durch die Krise? Anmerkungen zu einem gefragten Konzept. München: Oekom Verlag. 2021. S. 39–59.
- Sprachliche Appräsentationen materialer Zeiterfahrung. Das Verhältnis von dingästhetischem und sozialem Sinn in Zeitmetaphern. In: Gamper, Michael; Richter, Steffen (Hrsg.): Ästhetische Eigenzeiten. Band 19. Bilanz der zweiten Projektphase. Hannover. Wehrhahn Verlag. 2020 (zusammen mit Bock, B.; Rosa, H.; Strehle, S.; Ziegler, S.)
- Subjektivierung und Individualisierung gesellschaftlicher Praxis. In: Rosa, H., Oberthür, J. u.a. (Hrsg.): Gesellschaftstheorie. München: UVK. 2020. S. 63–87.
- Nach dem Maschinensturm: Überlegungen zu einer Erweiterung der Technologiekritik in der Postwachstumsdebatte. In: AK Postwachstum (Hrsg.): Wachstum - Krise und Kritik. Die Grenzen der kapitalistisch-industriellen Lebensweise. Frankfurt/M.: Campus. 2017 S. 159–176. (zus. mit Peter Schulz).
- The missing Link. How organisations bridge the gap between dynamic stabilisation and individual optimisation (zus. mit: Lindner, D. und Rosa, H.). In: Lost in Perfection: Impacts of Optimisation on Culture and Psyche. Hrsg. von V. King, B. Gerisch und H. Rosa. London: Routledge. 2018. S. 36–48.
- Autonomie in der Krise, in: Bohmann, U.; Börner, S.; Lindner, D.; Oberthür, J.; Stiegler, A. (Hrsg.): Praktiken der Selbstbestimmung. Zwischen subjektivem Anspruch und institutionellem Funktionserfordernis. Wiesbaden. 2018. S. 239–265 (zusammen mit Börner, S. und Stiegler, A.).
- Autonomiespielräume als prekäre institutionelle Funktionsvoraussetzung des Fallmanagements. In: Sowa, F.; Staples, R. (Hrsg.): Beratung und Vermittlung im Wohlfahrtsstaat. Baden-Baden: Nomos Verl./Edition Sigma 2017. S. 211–236 (zus. mit S. Börner, J. Oberthür, A. Stiegler).
- Anthony Giddens. In: Lamla, Jörn/Laux, Henning/Strecker, David/Rosa, Hartmut (Hg.): Handbuch der Soziologie. Konstanz: UVK. Im Erscheinen (2014).
- Amöbe Mensch? Überlegungen zum Human-Enhancement in der beschleunigten Moderne. In: U.Ebert, O.Richa, L.Zerling (Hg.): Der Mensch der Zukunft: Hintergründe, Ziele und Probleme des human enhancement: Tagung der Kommission Wissenschaft & Werte, Leipzig, 17./18. Februar 2012 / Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig; Stuttgart/Leipzig. 2013. S. 81–97.(zusammen mit Hartmut Rosa)
- Kritik der Gesellschaft - für die Gesellschaft? Autonome Praxis als Selbstanspruch und institutionelles Funktionsprinzip. In Hans-Georg Soeffner ; Kathy Kursawe (Hg.):Transnationale Vergesellschaftungen : Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main 2010 ; Bd. 1 u. 2. CD-Rom-Beitrag. 2013.
- Rechts, Links, Ost und West? Die politische Kartografie der Werte und ihre Grenzen. In: Lühr, R./Mull, N./Rosa, H./Oberthür, J. (Hrsg.): Kultureller und sprachlicher Wandel von Wertbegriffen in Europa. Interdisziplinäre Perspektiven. Frankfurt am Main. 2012. S. 189–202.
- Subjektautonomie und Menschenwürde - Perspektiven einer soziologischen Kritik der Gegenwartsgesellschaft. In: Nikolaus Knoepffler, Peter Kunzmann, Martin O'Malley (Hg.): Facetten der Menschenwürde. Unter Mitarbeit von Johannes Achatz. Freiburg/München. 2011. S. 245–262.
- Selbstbestimmung in sozialen Kontexten - Semantik und institutionelle Rückbindung des Autonomiebegriffs im Diskurs bundesdeutscher Massenmedien | Pojęcie autonomii w niemieckiej społeczności medialnej i jego instytucjonalne powiązania; tł. zniem. Jolanta Rudolph. - Bibliogr. - Streszcz. ang. - W: Etnolingwistyka. - [Vol.] 23, (2011), S. 167–176
- Über die Wertvorstellungen Jugendlicher in Europa.| Wyobrażenia niemieckiej młodzieży o wartościach europejskich / tł. z niem. Monika Grzeszczak. - W: Etnolingwistyka. - [Vol.] 23, (2011), s. 31–34
- Einleitung zu Ad-hoc-Gruppe: Abenteuer Kapitalismuskritik - Neue Unsicherheiten, neue Potenziale?. In: Unsichere Zeiten : Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen; Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena 2008. Bd. 1 u. 2, Hans-Georg Soeffner; Kathy Kursawe; Margrit Elsner; Manja Adlt (Herausgeber). Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss. 2010.
- Ein Recht auf Unwissenheit? Die Verwendung des "Rechts" in deutschsprachigen Tageszeitungen. In: Bock, B./Lăzărescu, I./Lühr, R.(Hrsg.): Wahrheit, Recht, Verantwortung. Normen- und Wertbegriffe im interkulturellen Kontext. Bukarest. Editura Universităţii din Bucureşti. 2010 (mit H. Rosa und C. Schneider). S. 319–344.
- Demokratiebegriffe im Wandel - theoretische und methodische Überlegungen zur Rekonstruktion eines Wertdiskurses. In: Jerzy Bartminski und Rosemarie Lühr (Hrsg.): Europa und seine Werte. Akten der internationalen Arbeitstagung «Normen- und Wertbegriffe in der Verständigung zwischen Ost- und Westeuropa», 3./4. April 2008 in Lublin, Polen. Peter Lang. 2009. S. 1–18.
- Normen- und Wertbegriffe in der Verständigung zwischen Ost und Westeuropa - Aspekte einer soziologischen Diskursanalyse. In: Christine Baumbach und Peter Kunzmann (Hrsg.): Würde - dignité - godność - dignity. Die Menschenwürde im internationalen Vergleich. München. Herbert Utz. 2009. S. 77–97.
- Die Konstruktion der Wertigkeit - Zur sozialen Sinnstruktur von Norm- und Wertdiskursen. In: Bettina Bock und Rosemarie Lühr (Hrsg.): Normen- und Wertbegriffe in der Verständigung zwischen Ost- und Westeuropa. F.a.M. Peter Lang. 2007.
Einzelnachweise
- ↑ a b c Dr. Jörg Oberthür. Abgerufen am 8. September 2025.
- ↑ a b Die Einführung der grünen Gentechnik als diskursive Konstruktion. Abgerufen am 8. September 2025.
- ↑ Hartmut Rosa, Jörg Oberthür: Gesellschaftstheorie. utb GmbH, Stuttgart, Deutschland 2020, ISBN 978-3-8385-5244-6, doi:10.36198/9783838552446 (utb.de [abgerufen am 8. September 2025]).
- ↑ Hartmut Rosa, Jörg Oberthür: Gesellschaftstheorie. utb GmbH, Stuttgart, Deutschland 2020, ISBN 978-3-8385-5244-6, doi:10.36198/9783838552446 (utb.de [abgerufen am 8. September 2025]).
- ↑ Universität Erfurt: Resonanz und Kritik. 18. August 2025, abgerufen am 8. September 2025 (britisches Englisch).
- ↑ a b Dr. Jörg Oberthür | SFB 294 Strukturwandel des Eigentums. Abgerufen am 8. September 2025.
- ↑ HARTMUT ROSA, JÖRG OBERTHÜR: Indikator fundamentaler Verwerfungslinien: Der Korruptionsdiskurs als Medium der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung*. In: Soziologische Revue. Band 31, Nr. 1, Januar 2008, ISSN 2196-7024, doi:10.1524/srsr.2008.31.1.43.
- ↑ Hartmut Rosa, Jörg Oberthür: Gesellschaftstheorie. utb GmbH, Stuttgart, Deutschland 2020, ISBN 978-3-8385-5244-6, doi:10.36198/9783838552446.
- ↑ Resonanz und Kritik: Perspektiven auf eine Soziologie der Weltbeziehungen (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Nr. 2445). Erste Auflage, Originalausgabe. Suhrkamp, Berlin 2025, ISBN 978-3-518-30045-9.
- ↑ Praktiken der Selbstbestimmung. In: SpringerLink. 2018, doi:10.1007/978-3-658-14987-1.
- ↑ Wachstum, Krise und Kritik: die Grenzen der kapitalistisch-industriellen Lebensweise. Campus Verlag, Frankfurt; New York 2016, ISBN 978-3-593-50652-4.