Ivan Chai

Ivan Chai wird aus dem Schmalblättrigen Weidenröschen (Epilobium angustifolium) gewonnen.

Ivan Chai (russisch Иван-чай) ist ein Kräutertee, der aus den fermentierten Blättern des Schmalblättrigen Weidenröschens (Epilobium angustifolium) hergestellt wird.[1] Das Getränk hat sich in den 2010er-Jahren von einer kaum bekannten Regionalzubereitung zu einem Symbol vermeintlicher russischer Teetradition entwickelt.[2]

Pflanzlicher Rohstoff

Epilobium angustifolium ist eine zirkumpolare Art der Nordhalbkugel.[3] Die Pionierpflanze besiedelt offene Flächen, Waldbrandstellen und Kahlschläge in borealen sowie gemischten Wäldern.[3]

Namensgebung

Der Ausdruck Ivan Chai bezeichnet in der russischen Alltagssprache sowohl die Pflanze als auch das daraus bereitete Getränk.[2] Weitere gebräuchliche Namen sind kiprej und koporskij čaj, die in sozialen Medien häufig synonym verwendet werden.[2]

Geschichte

Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts wurde E. angustifolium in Europa als potenzielle Nahrungs- und Teepflanze propagiert.[1] Im 18. Jahrhundert wurden fermentierte Blätter gelegentlich als günstiger Ersatz für schwarzen Tee gehandelt.[2] Die russische Ortschaft Koporje bei Sankt Petersburg gilt in zahlreichen Erzählungen als historisches Zentrum der Ivan-Chai-Produktion; belastbare Belege dafür fehlen jedoch.[1]

Herstellung

Zur Herstellung werden die frisch geernteten Blätter gewelkt, gerollt und mehrere Stunden bis Tage anaerob fermentiert, bevor sie im Ofen oder Dörrgerät getrocknet werden.[1] Internetrezepte betonen häufig individuelle Varianten der Fermentationsdauer, die nach Auffassung vieler Nutzer den Geschmack entscheidend beeinflusst.[2] Befragte Produzenten beschrieben das Verfahren als arbeitsintensiv und technisch anspruchsvoll, weshalb einige die Praxis wieder aufgaben.[1]

Verbreitung und gegenwärtige Nutzung

Eine Feldstudie in sieben osteuropäischen Ländern ergab, dass 62 von 599 Befragten Ivan Chai konsumierten, wobei sich die meisten Nutzenden in Nordwest-Russland konzentrierten.[1] Außerhalb Russlands wird der Tee meist nur als gelegentliches Rekreationsgetränk zubereitet.[1] Seit 2013 verzeichnen Google-Trends und soziale Netzwerke einen saisonalen Boom an Beiträgen, Videos und Memes rund um Ivan Chai, der jeweils zur Blütezeit im Juli kulminiert.[2] Die Online-Narrative konstruieren Ivan Chai dabei als nationalen Gesundheitsdrink und identitätsstiftendes Kulturgut.[2]

Medizinische Rezeption

In Estland wurde die Pflanze ab den 1990er-Jahren von populären Ärztinnen als Mittel gegen Prostatabeschwerden, Entzündungen und „99 Krankheiten“ beworben.[3] Traditionelle Anwendungen sind dagegen nur fragmentarisch überliefert und betreffen vor allem Wunden, Hautleiden und Magen-Darm-Probleme.[3] Klinische Studien, welche die Wirksamkeit bei benignen Prostatahyperplasien belegen, stehen bislang aus.[3]

Wirtschaft und Kultur

Bis 2018 wurden in Russland neun Patente rund um die Ivan-Chai-Verarbeitung vergeben, davon vier zur Teefertigung.[2] Über siebzig Hersteller vertreiben Ivan Chai kommerziell, unterstützt von regionalen Festivals und Werbekampagnen.[2] Der Tee wird dabei häufig als alternatives Import-Substitutionsprodukt zu chinesischem oder indischem Schwarztee positioniert.[2]

Kritik

Forschende weisen darauf hin, dass viele pseudohistorische Behauptungen auf Fehlinterpretationen literarischer Quellen beruhen.[3] Auch ethnografische Studien belegen, dass die angeblich jahrhundertealte Tradition oft erst durch neuere Popularisierungs- und Werbekampagnen entstanden ist.[1] Trotz positiver Markt- und Medienresonanz bleibt die tatsächliche Alltagsnutzung des Tees bislang eher randständig.[1]

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g h i Raivo Kalle, Olga Belichenko, Natalia Kuznetsova, Valeria Kolosova, Julia Prakofjewa, Nataliya Stryamets, Giulia Mattalia, Povilas Šarka, Andra Simanova, Baiba Prūse, Ieva Mezaka, Renata Sõukand: Gaining momentum: Popularization of Epilobium angustifolium as food and recreational tea on the Eastern edge of Europe. In: Appetite. Band 150, 1. Juli 2020, ISSN 0195-6663, S. 104638, doi:10.1016/j.appet.2020.104638 (sciencedirect.com [abgerufen am 7. Juli 2025]).
  2. a b c d e f g h i j Julia Prakofjewa, Raivo Kalle, Olga Belichenko, Valeria Kolosova, Renata Sõukand: Re-written narrative: transformation of the image of Ivan-chaj in Eastern Europe. In: Heliyon. Band 6, Nr. 8, 1. August 2020, ISSN 2405-8440, doi:10.1016/j.heliyon.2020.e04632, PMID 32904257, PMC 7452402 (freier Volltext) – (cell.com [abgerufen am 7. Juli 2025]).
  3. a b c d e f Renata Sõukand, Giulia Mattalia, Valeria Kolosova, Nataliya Stryamets, Julia Prakofjewa, Olga Belichenko, Natalia Kuznetsova, Sabrina Minuzzi, Liisi Keedus, Baiba Prūse, Andra Simanova, Aleksandra Ippolitova, Raivo Kalle: Inventing a herbal tradition: The complex roots of the current popularity of Epilobium angustifolium in Eastern Europe. In: Journal of Ethnopharmacology. Band 247, 30. Januar 2020, ISSN 0378-8741, S. 112254, doi:10.1016/j.jep.2019.112254, PMID 31580942, PMC 6891887 (freier Volltext) – (sciencedirect.com [abgerufen am 7. Juli 2025]).