IchBinArmutsbetroffen

#IchBinArmutsbetroffen ist ein Hashtag und eine daraus hervorgegangene soziale Bewegung in Deutschland, die seit Mai 2022 auf Twitter/X, Instagram und Bluesky verbreitet ist. Unter dem Hashtag berichten Betroffene von ihren persönlichen Erfahrungen mit Armut, Ausgrenzung und sozialer Unsicherheit. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich daraus eine digitale Protestbewegung, die auch in der Medienlandschaft und der Politik große Aufmerksamkeit fand.[1][2]

Ursprung

Der erste Tweet unter dem Hashtag wurde am 12. Mai 2022 von einer alleinerziehenden Mutter mit dem Pseudonym „Finkulasa“ veröffentlicht.[3] Ihr Aufruf lautete:

„Ich würde mich freuen, wenn ihr mitmacht. Nur ein kleiner Tweet zu euch. Lasst uns zeigen, wer wir sind (nicht zwingend mit Foto!), dass wir KEINE Zahlen sind. Ob H4, Rente, Aufstocker oder oder oder #IchBinArmutsbetroffen“

Finkulasa[4]

In den Wochen danach teilten Zehntausende Menschen ihre Alltagserfahrungen. Bereits im Juni 2022 waren über 100.000 Tweets mit dem Hashtag veröffentlicht.[5]

Hintergrund

Etwa 16 Prozent der deutschen Bevölkerung gilt laut Statistischem Bundesamt als von Armut bedroht, rund 20 Prozent sind von sozialer Ausgrenzung betroffen.[6] Die Corona-Pandemie sowie der seit 2022 stark gestiegene Energiepreis infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine verschärften die Situation.[7]

Rezeption und Reaktionen

Bereits wenige Tage nach dem Aufkommen berichteten zahlreiche Medien über die Aktion. Focus beschrieb den Hashtag als sichtbares Zeichen, dass Armut viele Gründe haben könne und mitten in der Gesellschaft verankert sei.[8] In Die Welt bezeichnete Jörg Wimalasena den Hashtag als „viralen Aufstand der Armen“.[9]

Am 19. Mai 2022 griff auch die Bundespolitik das Thema auf: Janine Wissler (Die Linke) zitierte mehrere Beiträge im Bundestag und forderte, die Stimmen der Betroffenen ernst zu nehmen.[10]

Die Journalistin Samira El Ouassil argumentierte in einer vielbeachteten Spiegel-Kolumne, dass der Hashtag die „Armuts-Schamspirale“ durchbreche, indem er Betroffenen Sichtbarkeit gebe.[11]

Auch international berichteten Medien: Der österreichische Standard betonte, die digitale Aktion könnte „der Anfang einer Bewegung sein“.[12] Die BBC berichtete im Sommer 2022 über die wachsenden Debatten zu Inflation und Armut in Deutschland und erwähnte dabei auch den Hashtag.[13]

Akademisch wird die Bewegung u. a. an der Universität Duisburg-Essen untersucht. Holger Schoneville und Helen Dambach analysieren den Hashtag als Beispiel für „prekäre politische Artikulation“.[14]

Protestaktionen und Organisation

Noch im Mai 2022 begann sich die Bewegung auch offline zu organisieren. Unterstützend trat die OneWorryLess Foundation auf, die Protestaktionen koordinierte und Öffentlichkeitsarbeit leistete.[15]

Am 28. Mai 2022 demonstrierten erstmals Betroffene in mehreren deutschen Städten – unter anderem in Köln, Hamburg, Bochum und Berlin.[16] In den Folgemonaten fanden weitere Proteste und Flashmob-Aktionen statt, u. a. in Düsseldorf, Darmstadt, München, Hannover und Kiel.[17]

Protest vor dem Bundeskanzleramt (Oktober 2022)

Am 14. Oktober 2022 fand eine zentrale Kundgebung vor dem Bundeskanzleramt in Berlin statt. Mehrere Hundert Personen versammelten sich dort, um gegen unzureichende staatliche Unterstützungsmaßnahmen und die Folgen der Energiekrise zu protestieren.[18] Die Bewegung kritisierte in einem offenen Brief die unzureichende Anpassung der Sozialleistungen an die stark steigenden Preise.[19]

Soziale Medien

Die Bewegung ist in verschiedenen sozialen Netzwerken aktiv:

Einzelnachweise

  1. Jörg Wimalasena: Der virale Aufstand der Armen. In: Die Welt. 19. Mai 2022, abgerufen am 27. Mai 2022.
  2. Samira El Ouassil: Warum der Hashtag so wirkmächtig ist. In: Der Spiegel. 19. Mai 2022, abgerufen am 27. Mai 2022.
  3. Samira El Ouassil: #IchBinArmutsbetroffen: Warum der Hashtag so wirkmächtig ist. In: Der Spiegel. 19. Mai 2022, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 27. Mai 2022]).
  4. Originalpost von Finkulasa auf Twitter, 12. Mai 2022. Abgerufen am 27. Mai 2022.
  5. Elsbeth Bräuer: "Von Leben kann man gar nicht reden" - Armut in Bayern. In: Bayerischer Rundfunk. 7. Juni 2022, abgerufen am 11. Juni 2022.
  6. Armutsgefährdungsquote. In: Destatis. Abgerufen am 2. Januar 2023.
  7. Soziale Lage in Niedersachsen verschlechtert sich rasant. In: NDR. Abgerufen am 2. Januar 2023.
  8. Lara Wernig: „Sehe im Supermarkt die Preise und muss fast weinen“: Wie Deutsche unter der Teuer-Krise leiden. In: Focus. 16. Mai 2022, abgerufen am 29. Mai 2022.
  9. Jörg Wimalasena: Hashtag #IchBinArmutsbetroffen: Der virale Aufstand der Armen. In: Die Welt. 19. Mai 2022, abgerufen am 27. Mai 2022.
  10. BT-Plenarprotokoll 20/37, S. 3568D
  11. Samira El Ouassil: #IchBinArmutsbetroffen: Warum der Hashtag so wirkmächtig ist. In: Der Spiegel. 19. Mai 2022, abgerufen am 27. Mai 2022.
  12. Leben am Limit – wie Armut auf Twitter sichtbar gemacht wird. In: Der Standard. 20. November 2022, abgerufen am 2. Januar 2023 (österreichisches Deutsch).
  13. Germany battles cost-of-living crisis as citizens protest. In: BBC. 20. Juni 2022, abgerufen am 10. Januar 2023.
  14. Helen Dambach, Holger Schoneville: Prekäres politisches Sprechen. Zur (Un-)Möglichkeit der politischen Teilhabe von Armutsbetroffenen. In: Universität Duisburg-Essen. Abgerufen am 8. September 2024.
  15. Benjamin Fuchs: Von Twitter in den Bundestag: Jetzt machen Betroffene ihre Armut sichtbar. In: Perspective Daily. Abgerufen am 29. Mai 2022.
  16. Eva Bobchenko: „Wir wollen sichtbar werden“ – Aktivisten protestieren am Kölner Dom gegen Armut. In: Kölner Stadt-Anzeiger. 28. Mai 2022, abgerufen am 29. Mai 2022.
  17. Wiebke Schröder: Bundesweite Aktionen am 25. Juni. In: Der Paritätische. 21. Juni 2022, abgerufen am 29. Juni 2022.
  18. RND: Protest vor dem Kanzleramt: „Wir sind armutsbetroffen“. In: RedaktionsNetzwerk Deutschland. 15. Oktober 2022, abgerufen am 16. Oktober 2022.
  19. „Wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen“. In: taz. 16. Oktober 2022, abgerufen am 17. Oktober 2022.